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Darüber lacht die Zirbeldrüse
Winkler war irritiert. Heute morgen schienen alle, denen er begegnete, nervös zu sein. Sogar Kollege Zinn von der Anästhesiologie, den sonst sein unnachahmlich gelassener Zynismus auszeichnete. War es das Wetter? Wieder einmal irgendwelche Personalabbau-Ideen seitens der Geschäftsführung, von denen nur er noch nichts wußte? Als Chefarzt erfuhr Winkler solche Dinge immer als erster. Außer natürlich, wenn man vorhatte, ausgerechnet ihn einzusparen. Aber der Gedanke war absurd. Er hatte einen soliden Vertrag und seine Abteilung war eine der effizientesten der ganzen Klinik. Es mußte irgendetwas anderes sein, was die Leute in der Klinik beunruhigte, von den Schwestern bis zu den Oberärzten. Im Nachhinein ärgerte Winkler sich darüber, nicht nachgefragt zu haben, er hatte an diesem Morgen weiß Gott mit genügend Leuten gesprochen.
Nun ja, es hatte Zeit bis nach der Operation.
Der Patient Hans Burret war 40 Jahre alt und von Beruf Bauarbeiter. Unterdurchschnittlicher IQ, Lese-Rechtschreibschwäche, keine Familie. Dafür aber ein wunderschöner Hirntumor. Ein Pinealom, eine Geschwulst der Glandula Pinealis, besser bekannt als Zirbeldrüse. Erstmals diagnostiziert im NMR vor einer Woche aufgrund epileptischer Anfälle. Der Patient war aufgeklärt und hatte das Einverständnisformular unterschrieben.
Solche Tumoren waren einigermaßen selten, deswegen wurde die OP auf Video aufgenommen.
„Ich bin soweit", sagte Winkler, „kann einer bitte die Aufnahme starten?"
Zinn, der als einziger im Saal keine sterilen Handschuhe trug, drückte auf den Aufnahmeknopf. „Läuft", sagte er knapp, und seine Stimme zitterte.
Schwester Gülcan reichte Winkler wortlos das Skalpell für den Hautschnitt. Winkler versenkte es in der frisch rasierten Kopfschwarte, bis die Spitze an den Knochen stieß, dann folgte er mit dem Messer der vorgezeichneten halbmondförmigen Linie vom Nacken bis zum Scheitel.
Wie erwartet blutete es erheblich. Neumann, der assistierende Arzt saugte es mit dem Sauger ab.
„Bipolar!" murmelte Winkler und erhielt von Schwester Gülcan die elektrische Pinzette, um mit routinierten Griffen die widerspenstigen Äderchen zu verbrutzeln. Dann wurden die Wundränder mit Kölner Klemmen gespickt und der schlaffe Hautlappen beiseite geklappt.
Mit einem Raspel hobelte Winkler die Knochenhaut vom freiliegenden Schädelknochen und setzte den Bohrer an. „Spülen!" forderte er Neumann auf, dem Gülcan bereits eine 40ml-Spritze mit Wasser in die Hand gedrückt hatte. Der Bohrer mußte gekühlt werden, um nicht zu überhitzen.
Unter vorsichtigem Druck bohrte Winkler zwei markstückgroße Löcher in den Knochen und fräste zwischen den Bohrlöchern schließlich in weitem Bogen zwei Spalte. Die Geräte waren zwar so konstruiert, daß man sich nicht darum sorgen mußte, zu tief zu bohren oder zu fräsen, aber wenn unerfahrene Hände den OP-Zugang zu weit mittig wählten, konnte eine Sinusvene eröffnet werden, was neben einer erheblichen Schweinerei auch höchste Lebensgefahr für den Patienten bedeutet hätte.
Winkler bemerkte, daß die Hände seines Assistenten zitterten.
„Was ist, Herr Neumann? Zuviel Kaffee heute morgen?"
Neumann schien zusammenzuzucken. „Ich... - ja, das könnte sein. Entschuldigen Sie bitte."
Aus den Augenwinkeln nahm Winkler wahr, wie Schwester Gülcan und Dr. Zinn mißbilligend den Kopf schüttelten. Das war nicht okay, so etwas wirkte auf Assistenten zusätzlich verunsichernd. Aber deswegen wollte Winkler jetzt nichts sagen.
Der herausgefräste Knochen besaß entfernt die Form eines Auges, die Blutung stillte Winkler mit Knochenwachs, das er in die Poren presste. Der Blick war jetzt frei auf die rosa-violette Dura: Die harte Hirnhaut. Durchzogen von feinen Äderchen, die leider dem Bipolar zum Opfer fallen mußten, denn wenn erst einmal das Gehirn freigelegt war, durfte darauf tunlichst kein Blut tropfen.
Als Winkler in die Dura schnitt, spritzte Hirnwasser unter erheblichem Druck heraus und traf ihn an der Wange. Da er sich nicht einfach mit dem Ärmel das Gesicht abwischen durfte, floß die klare Flüssigkeit unerbittlich in seinen Mundwinkel, schmeckte salzig.
„Scheiße!" rief Winkler. Aber er würde es überleben. Liquor war nicht giftig.
„Du liebe Güte, das stand ja ganz schön unter Druck", bemerkte Neumann.
Ursache war der Tumor. Ein Schädel bot nur begrenzt Platz, und wenn darin etwas anfing zu wachsen, führte das zu einem Druckanstieg, der eigentlichen Todeursache der meisten Hirtumorpatienten.
Winkler erinnerte sich, daß sein früherer Lehrmeister, der inzwischen verstorbene Professor Braun, Glioblastompatienten nach der Tumorentfernung den Knochendeckel nicht wieder einsetzte. Ein Glioblastom konnte man nie vollständig entfernen, es kam immer wieder, und der Gedanke war, daß wenn man den Knochendeckel wegließ, der Patient nicht so schnell am Hirndruck sterben würde, weil der Tumor ja Platz hatte, nach außen zu wachsen.
Was durchaus stimmte, aber es war dennoch keine gute Idee gewesen. Mit Schaudern dachte Winkler zurück an die Patienten, denen nach außen ein „zweiter Kopf" gewachsen war, während der Tumor nach innen das Hirngewebe infiltrierte und ähnlich Alzheimer zu einem langsamen Verfall der geistigen Funktionen und zu Lähmungen führte. Dagegen war der „normale" Tod durch einen Hirntumor die reinste Gnade: Einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen.
Noch schöner aber war es natürlich, wenn man es, wie hier, nicht mit einem Glioblastom zu tun hatte, sondern mit einem kompakten, gut entfernbaren Tumor.
Unter der Dura lag das Hirn. Eine gelbe, gekerbte Struktur, bedeckt von der durchsichtigen Pia, der weichen Hirnhaut, und dicken Knäueln tiefblauer Venen. Ab hier wurde nicht mehr geschnitten, nur noch elektrisch kauterisiert, gespült und gesaugt. Aber das Hirn war ohnehin nicht Winklers Ziel, sondern der Spalt zwischen den beiden Hirnhälften. Dazwischen lag die Pinealis, beziehungsweise der Tumor.
Die pialen Venen waren entbehrlich, und so verbrutzelte Winkler sie kurzerhand, um sich Zugang zu verschaffen. Mit einem Spatel zog er vorsichtig das Hirngewebe beiseite.
Dann sah er den Tumor - und staunte.
Hirntumoren können sehr unterschiedliche Gestalt annehmen. Meistens sind sie rosafarbene Kugeln, manchmal wie im Falle von Krebsmetastasen können sie auch Farbe und Aussehen des Organs annehmen, von dem sie stammen.
Dieser hier schien eine ausdifferenzierte Dermoidzyste zu sein. Es war ein rundes strukturiertes Gebilde. Braun, von der Größe einer Zitrone, mit Querrillen und nur wenigen, jedoch regelmäßig verteilten schwarzen Haaren.
Doch eines paßte nicht.
Dermoidzysten bewegten sich nicht!
„Das ist ja ein Ding!" murmelte Winkler. Dann begann Blut ins OP-Feld zu tropfen.
„Neumann, passen Sie doch auf! Saugen!"
Aber Neumann war nicht mehr da. Genauer gesagt, stand er zwei Meter entfernt vom Op-Tisch und zitterte am ganzen Leib.
Schwester Gülcan ebenfalls. Sie hatte sich zur Leuchttafel zurückgezogen, wo die Röntgenbilder und Kernspintomogramme aufgehängt waren.
Nur Zinn hatte seine Position nicht verlassen, aber die war eh am Fußende des Patienten gewesen. Winkler kam es vor, als suche er hinter dem aufgespannten Tuch, das seinen Arbeitsbereich von dem Winklers trennte, Deckung.
„Darf ich mal fragen, was das jetzt soll?" fragte Winkler. Doch er erhielt keine Antwort, er sah lediglich, daß die anderen drei im OP hastigen Augenkontakt miteinander hatten.
Dann sprang ihm die Zyste mit einem schmatzenden Geräusch entgegen und landete in seinem Schoß. Winkler blieb fast das Herz stehen, und er stieß sich mit den Beinen ab, so daß der Stuhl, auf dem er saß, einen Meter rückwärts rollte.
Die kugelige Zyste entrollte sich und nahm nun eine andere, wesentlich beunruhigendere Gestalt an: Die eines bockwurstgroßen Wurmes. Zugleich kamen unzählige Beinpaare zum Vorschein, so daß das Ding im nächsten Augenblick einem Tausendfüßler ähnelte.
Und noch ehe Winkler begriff, was da geschah, schnappte das mit kleinen, spitzen Zähnen gespickte Maul am vorderen Ende der „Wurst" zu und verbiß sich in seiner Handkante.
Mit einem spitzen Schrei sprang Winkler auf und versuchte, das Wesen abzuschütteln. Doch das gelang nicht, stattdessen spürte er ein zunehmend scharfes Stechen in in der Hand, und dann knackte etwas - wahrscheinlich der Mittelhandknochen - und Winkler sank vor Schmerzen in die Knie. Er brüllte aus Leibeskräften, doch niemand im Saal machte auch nur einen Versuch, ihm zu helfen.
So, wie auch niemand davonlief. Sie alle standen nur stumm da und glotzten.
Plötzlich flog die Tür zum Op auf, und jemand kam herein. Es war kein Geringerer als Lohmeier, der Klinikleiter persönlich. Wie immer im Anzug mit Krawatte, heute jedoch ausnahmsweise mit metallenen Handschuhen. Schnurstracks kam er zu Winkler, griff sich mit den eisernen Fingern den Monsterwurm und riß ihn mit einem Ruck von Winklers Hand.
Der Schmerz war so grauenvoll, daß Winkler noch einmal aufschrie. In seiner rechten Hand war eine blutende Lücke von der Größe einer Kirsche.
„Was...", brachte er gerade noch hervor, da wurde er von Gülcan und Neumann an den Armen gepackt und festgehalten.
„He, was soll das!" schrie Winkler. „Sind denn hier alle verrückt geworden?"
Das Wurm-Tausendfüßler-Monster kaute am herausgebissenen Happen und spuckte das Gummi des OP-Handschuhs aus. Dann machte es ein Geräusch, als würde es lachen.
„Er lacht!" sagte Gülcan.
„Ein gutes Omen!" rief Lohmeier. Sein Gesicht war rot angelaufen, wie Winkler es sonst nur von den Tarifverhandlungen mit den Krankenkassen her kannte. - Was um alles in der Welt ging hier vor sich? Er kannte doch diese Leute alle, was taten sie da? Und was war das für ein ekelerregendes Monster? War das ein Alptraum? Das konnte doch nur ein Alptraum sein! Winkler versuchte, aufzuwachen, doch es gelang ihm nicht. Und die Hand schmerzte dazu fürchterlich.
„Der Meister lacht und ist zufrieden", sagte Lohmeier. „Er wird uns schon bald reich beschenken. Kamaruschna!"
„Kamaruschna!" wiederholten alle Anwesenden wie aus einem Munde. Der Wurm lachte dazu.
„Was tun sie da?" preßte Winkler hervor. „Was wird das?"
Und plötzlich kam es ihm in den Sinn, daß sein Patient auf dem OP-Tisch gerade verblutete. Doch ein flüchtiger Blick belehrte ihn eines Besseren: Der Wurm hatte bei seinem Sprung ins Freie den größten Teil der Hirnmasse mitgenommen. Der einzige Grund, warum nicht schon längst das warnende Piepen des Herzstillstandes zu hören war, bestand darin, daß Zinn einfach den Monitor ausgeschaltet hatte. Winkler wurde übel. Er war nur einen Schritt davon entfernt, seinen Mageninhalt zu verlieren.
„Ihnen wird eine große Ehre zuteil, Professor Winkler", sagte Lohmeier nun, und seinem Tonfall nach schien es fast, als rede er nur über Personalabbau. Doch seine Worte waren der reinste Irrsinn:
„Kamaruschna hat die zweite Stufe vollendet. Sie werden ihm zu seiner dritten Stufe verhelfen. Ich wünschte, ich könnte an Ihrer Stelle sein."
Winkler bemerkte, daß ihm diese Worte Angst machten. Eine solche Angst hatte er in seinem ganzen Leben noch nie gespürt. „Was haben Sie mit mir vor?"
„Das erklärt Ihnen besser Dr. Zinn, während er die Vorbereitungen trifft. Ich bin nur Geschäftsführer und verstehe nicht so viel von medizinischen Dingen." Lohmeier lächelte.
Zinn kam mit einem Infusionsständer heran. Er hatte ein Braunülen-Set dabei und klemmte mit dem Stauschlauch Winklers linken Oberarm ab, bis die Venen hervortraten.
„Kamaruschna ist eine mächtige Gottheit", erklärte er. „Wem er gewogen ist, dem erfüllt er alle Wünsche. Aber zuerst muß er wiedergeboren werden, und das erfolgt in drei Stufen. In der ersten entwickelt sich seine Larve im Herzen, in der zweiten im Kopf, in der dritten im Bauch."
Winkler versuchte sich zu befreien, aber Neumann und Gülcan waren viel stärker, als sie aussahen. Es bereitete ihnen keine Mühe, ihn in seiner Position festzuhalten.
„Wehren Sie sich nicht", empfahl Zinn. „Vielleicht sollten Sie es einfach genießen, daß Sie der dritte Auserwählte sind."
„Zinn, hören Sie, wir kennen uns doch seit Jahren - was tun Sie da?"
„Ich dachte, ich hätte das erklärt", sagte Zinn und stach Winkler eine grüne Infusionskanüle in eine Unterarmvene. Er löste den Stauschlauch und zog die Nadel etwas zurück.
„Die moderne Technik ist doch erstaunlich, finden Sie nicht?" meinte Zinn nun. Früher war es für die Wirte eine grauenhafte Quälerei - aber heute gibt es die Narkose. Und man kann jemanden auf der Intensivstation monatelang am Leben erhalten, ohne daß er das Bewußtsein erlangt. - Vertrauen Sie mir, Sie werden nichts spüren. Im Gegenteil: Kamaruschna wird Ihnen die süßesten Träume bescheren, die sie je im Leben hatten!"
Zinn hatte die Nadel ganz herausgezogen, klebte die Kanüle fest und schloß die Infusion an. Winkler versuchte noch ein letztes Mal, sich freizuwinden, dann sah er ein, daß er verloren hatte und begann hemmungslos zu weinen.
„Nicht doch", sagte Lohmeier. „So schlimm ist das wirklich nicht."
„Warum gerade ich?" wollte Winkler wissen. „Jeder in dieser Scheiß-Klinik scheint eingeweiht zu sein - warum bin gerade ich das Opfer?"
„Na ja", meinte Zinn mit einem verschmitzten Lächeln. „Einer mußte doch den Schädel öffnen, ohne Kamaruschna zu verletzen. Und jemand mit zitternden Händen ist dazu wahrlich nicht geeignet, da stimmen Sie mir doch zu, Herr Kollege, oder?"
Der Wurm lachte wie über einen gelungenen Witz.