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Das Alte
Josef Sturm steigt auf sein Pferd und gibt ihm die Sporen. Schwere Schauer peitschen über das Land, als er das Moor passiert. Die wenigen Hütten dort sehen aus, als duckten sie sich. Er lässt sie hinter sich, reitet vorbei an niedrigen, aus Ästen zusammengebundenen Zäunen, vorbei an Feldern und noch mehr Feldern. Die Menschen hier, denen das Lachen so schwerfällt, müssen Wind und Wetter trotzen, um die Saat auszubringen. Ihm, dem Hünen, hängt die Kleidung nass und schwer am Leib und sein Gesicht, es ist verwittert wie Stein. Er treibt sein Tier an, viel zu schnell, gefährlich geradezu, obwohl er die Gegend kennt. Aber sie ist ihm fremd geworden. Wie aus einem Schlaf gerissen fühlt er sich, ohne zu wissen, warum. Er reitet, und die wenigen, die ihn sehen, müssen glauben, dass hinter diesem Mann der Deibel her ist.
Er steigt ab. Regen schlägt ihm gegen den Mantel und Wasser rinnt über seinen Filzhut. Er führt sein Pferd auf der Dorfstraße. In einer offenen Scheune bindet er es an. Ein Trog steht bereit, ein wenig Heu darin. Er streicht über die Nüstern des Tieres und klopft sanft die Flanke. „Ruhig“, flüstert er. „Ruhig.“ Wenn er spricht, und sei es nur dies einzelne Wort, ist ihm, als wäre was in seinen Hals geraten. Knirschend und rieselnd, so klingt es in seinen Ohren. Drum schweigt er und richtet den Blick auf die Holztür der Schenke. Durch das dünne Glas kann er schummriges Licht erkennen. Der Wichmann wird drinnen sitzen. Ob Gast oder nicht, er wird dort sitzen und die Stunden zählen. Josef Sturm geht auf die Tür zu. Er hat sein Gewehr dabei. Im Krieg war er ein guter Schütze. Seitdem putzt er jeden Sonntag den Lauf mit einer kleinen Bürste und ölt den Schaft.
Wichmann schaut dem Riesen zu, der durch den Eingang seiner Schenke bricht, Wind und Wasser hereinlässt und die Tür hinter sich zuschlägt, als wären die Hunnen im Anmarsch. Die Holztische sind verwaist. Bei dem Wetter täte man wohl selbst den schlimmsten Hund nicht vor die Tür setzen. Und doch steht da Josef Sturm. Den sie im Dorf Sturmsepp nennen. Der vielleicht drei Mal im Jahr hier aufschlägt, der für zwei Männer säuft und nie viel redet, bevor er sich aufs Pferd schwingt, um zurück zu seinem Hof im Moor zu reiten.
„Wozu die Büchs’?“, ruft er. „Angst vorm Wolf?“ Er grinst. Aber zum Lachen ist ihm nicht. Bis eben hat er den Querbalken betrachtet. Den großen, der das Dach der Schenke trägt. Aus dunklem, schwerem Holz ist der gehauen, massiv schaut der aus. Aber Wichmann fragt sich, ob ers wird halten können. All die schweren Gedanken und vielen Fragen, auf die er keine Antwort mehr zu finden hofft. Und nun steht der da und lässt ihm keine Ruhe.
Er sieht ihn sich an. Sieht, wie er auf ihn zukommt, den Hut abzieht und sein Gewehr an den Tresen lehnt.
„Wölfe hat man hier schon lang nicht mehr gesehen“, sagt der Sturmsepp und Wichmann holt zwei Gläser und eine Flasche hervor. Er schenkt ihnen ein. Sie trinken. Bis Wichmann fragt: „Warst bei dem Wetter aufm Feld gewesen?“ Ihm ist die Erde aufgefallen, die an der Kleidung vom Sturmsepp klebt. Durchs Reiten allein kanns nicht kommen, denkt er. Unter den Nägeln ist sie ebenso wie im Gesicht und in den Haaren und als der Sturmsepp gerade was gesagt hat, meinte er gar, die Erde befände sich auch zwischen dem seinen Zähnen und im Hals. Als hätte er es knirschen gehört bei jedem Wort.
„Meine Felder liegen brach. Da findest nichts zum Ernten mehr, das is vorbei.“
Der Sturmsepp wirft einen Blick zum Fenster. Dieser Berg von einem Mann schaut aus, als fürchte er, dass dort draußen wer sein könnt.
„Gibst ihn auf, deinen Hof?“
Der Sturmsepp sieht ihn an.
„Wen kümmert schon der Hof? Das is alles nicht mehr wichtig.“
„So? Was treibst denn dort, wennst schon nicht die Ernte einholst?“
Der Sturmsepp beugt sich vor. Sein Gesicht ist eingefallen und im Licht der Kerzen wirken die Schatten unter seinen Augen und entlang der Wangen wie ausgebeizt.
„Ich hab meinen Hund erschlagen“, flüstert er mit seiner rieselnden Stimme. „Irgendwann die letzten Tage hab ich ihm mit nem Hammer den Schädel eingeschlagen. Der wollts Bellen nicht aufhören. Tag und Nacht hat der angeschlagen. Du willst wissen, was ich so treib auf meinem Hof, ja? Ich kanns nicht sagen, weil ich mich kaum dran erinnern tu. Aber ich weiß, was ich getan haben muss. Is nicht zu übersehen. Am Waldrand, neben meinem Feld. Da hab ichs Graben angefangen.“
Wichmann runzelt die Stirn.
„Es is dort etwas, weißt? In der Erde, verborgen unter Wurzeln, unter Lehm und Steinen begraben, da is was. Und es will raus.“
„Wovon redest du? Was soll da sein?“
Der Sturmsepp zuckt mit den Schultern. „Weiß ich nicht. Noch ists ja in der Erde drin. Aber es is ungeduldig.“
Er macht eine Geste zur Flasche auf dem Tresen.
„Es hat mir was über dein Bier erzählt, Wichmann. Du panscht es, nicht wahr? Die Leut vermutens ja schon lang, nur beweisen kanns dir keiner. Und deine Frau? Die is dir untreu, weilst se nicht mehr besteigst. Seitm Kriech schon nicht, stimmts?“
Wichmann, der glaubt, nicht richtig gehört zu haben, ballt die Hände zu Fäusten. „Vorsicht!“, sagt er leise. „Magst ja groß sein, aber noch en einziges Wort über meine Frau, und das hilft dir auch nichts mehr.“
„Es hat mir erzählt, dass du Stund um Stund vorm Balken hier hockst und überlegst, dich dran aufzuhängen, während sie dort oben liegt und sich nach anderen Männern verzehrt. Aber um deine Frau gehts dir nicht. Die is dir egal. Nein, der Grund, dass du hier hockst und den Tod herbeisehnst, is en and´rer.“ Der Sturmsepp grinst und Wichmann wird eiskalt.
„So oder so, niemals wirsts tun. Weil en elendiger Feigling bist. Mit dir wirds anders zu Ende gehen. Willst wissen wie? Soll ichs fragen?“
„Das ist nicht richtig“, flüstert Wichmann. Der Sturmsepp nickt und hört auf zu grinsen.
„Hast recht. Ich sollt nicht wissen, was dich umtreibt, hab ich nichts zu schaffen mit. Obwohl manche Dinge nicht an die Oberfläche gehören, kommens manchmal hervor.“ Er nimmt einen Schluck. Dann sagt er: „Vielleicht ists noch nicht zu spät.“ Mit seiner Zunge fährt er seine rissigen Lippen entlang. „Vielleicht reicht die Zeit noch.“ Er nimmt das Gewehr in die Hand und legt es auf den Tresen
„Nimms!“, sagt er.
Wichmann schüttelt den Kopf. „Was verlangst da?“
Der Sturmsepp packt ihn am Arm. Er ist stark wie ein Bär. Mit einer Hand drückt er zu und zieht den Wichmann zu sich.
„Wenn ich dir sag, dass dus Gewehr nehmen, es mir auf die Brust setzen und abdrücken sollst, würdests tun?“
Wichmann kann den Atem vom Sturmsepp riechen. Den Alkohol darin und noch was anderes.
„Würdest den Leuten sagen, dass es recht war? Dass es recht war, weil ich dich drum gebeten hab? Würdest ihnen sagen, dass niemand dort hochdarf? Damits Graben aufhört! Sag schon!“
Wichmann versucht sich zu befreien. Er zerrt und windet sich, aber er hat keine Chance gegen die Kraft vom Sturmsepp.
„Natürlich nicht! Weil du nicht gesehen hast, was ich gesehen hab und weil du nicht hörst, wies mit einem spricht.“ Der Sturmsepp lässt ihn los.
„Es ruft nach mir, weißt? Hat mich all meine Kraft gekostet, herzukommen. En weit´res Mal wirds nicht geben.“ Er schüttelt den Kopf. „Die ersten Tage kamen mir vor wie Minuten, und wie Jahrzehnte kamen se mir vor. Als ich plötzlich wieder bei mir war, hört ich die Kühe im Stall vor Schmerz schreien. Ich hatt se Tage lang nicht gemolken. Die Abstände, in denen ich weiß, was ich tu, werden größer. Heut bin ich weg, bin los, ohne nachzudenken. Aber morgen schon werd ich wieder zurückgekehrt sein, um weiterzugraben.“
Er greift in seine Tasche und legt ein paar Münzen auf den Tresen.
„´s geht nur so“, flüstert er.
Bevor Wichmann etwas tun kann, nimmt der Sturmsepp das Gewehr, stellt es auf den Boden und legt sein Kinn auf den Lauf. „Haltet euch fern von meinem Hof!“, sagt er, bevor er abdrückt.
„Hat sich dieser alte Hurenbock doch tatsächlich einfach so vor deinen Augen erschossen, Deibel noch eins!“ Heinz Kohr schüttelt den Kopf. Er steckt die Daumen seiner dicken Hände zwischen Hemd und Hosenträger. Dann sagt er: „Also ´s wird nicht einfach den rauszubekommen, schwer wie der is.“ Er kratzt sich am Kopf. Das blöde Grinsen, das er dabei im Gesicht trägt, würde ihm der Wichmann am liebsten herausschlagen.
„Ich muss den Hannes holen“, murmelt er. „Wenn der seinen Heuwagen mitbringt, können wir ihn da raufpacken.“ Mit der Stiefelspitze tippt er das Bein vom Sturmsepp an. Er runzelt die Stirn.
„Hat der denn was gesagt? Warum er unbedingt noch vor der nächsten Messe in die Hölle fahren will?“
Wichmann schüttelt den Kopf.
Als Kohr mit der Leiche abgezogen ist, holt Wichmann einen Holzeimer, füllt ihn mit Wasser und beginnt den Boden zu putzen. Er will das Blut weghaben. Das Bild in seinem Kopf, wie der Sturmsepp ihn ansieht, bevor er abdrückt, will er am liebsten gleich mit wegwischen. Müde ist er. Trotz allem ist er müde, denn er hat in der Nacht kein Auge mehr zugetan. Und jetzt ist schon Tag und hinlegen wird er sich nun auch nicht mehr. Wenn er den Lumpen, den er benutzt, um über die groben Holzdielen zu schrubben, auswringt, rinnt ihm blutiges Wasser durch die Finger. Im Krieg hat er für eine Weile einem Wundarzt assistiert. Den Namen von dem hat er vergessen, aber Blut und Gekröse hat er da sehen können, so viel wies für drei Leben reichen tät. Ruinen aus Fleisch hat der Arzt diejenigen genannt, die zu ihnen gebracht wurden. Bis er dann ´70 bei Chevilly selbst zu einer Ruine wurde. Wichmann hat Blut gesehen. Mehr als genug. Aber das hier, auf dem Boden seiner Schenke, das ist anders.
„Und dann erschießt sich der also einfach so bei dir am Tresen“, sagt Schwär.
Den hat er beinahe vergessen. Schwär, der Schutzmann. Seit einer halben Stunde sitzt der an einem Holztisch, vielleicht zwei Meter von der Stelle entfernt, wo sich der Sturmsepp eine Kugel verpasst hat, und sieht Wichmann zu, wie der den Boden schrubbt. Als sie den Sturmsepp rausgehievt haben, hat der schon keinen Finger krumm gemacht. Hat kein Wort gesagt und jetzt meint er also plötzlich ´s Reden anfangen zu müssen.
„So wars, ja“, sagt Wichmann und schrubbt weiter, ohne aufzusehen.
Schwär beginnt, sich eine Pfeife zu stopfen.
„En harter Hund, der Josef. Ich kenn den, seit ich klein bin. Als Bub hat der mich ei´mal arg verdroschen, weißt? Nur weil ich über sein Feld gesprungen bin.“ Er sieht den Wichmann an und schüttelt den Kopf. „Aber was renn ich Blag auch über sein Feld, wie?“ Er lächelt.
„Hätt jedenfalls nicht gedacht, dass der sich mal ´s Leben nimmt, weißt? So einer kämpft doch mit dem Tod bis zum Schluss. Klammert sich ans Leben, mit Zähnen und Klauen klammert sich so einer fest, und seis nur aus Sturheit. Und dann erschießt der sich? Und warum nicht bei sich in der Scheun‘, wo der seine Ruh‘ hat?“
„Man kann nicht reinschauen in die Leut‘.“
Schwär lacht. „Nein, reinschauen kann man nicht.“ Er zieht an seiner Pfeife. „Morgen werd ich mir den Sturmhof ansehen.“
Wichmann hört auf zu schrubben und schaut auf.
„Den Hof willst dir ansehen?“
„Sicher. Mir is die Sache nicht geheuer. Außerdem muss die Tiere wer versorgen. Der Kohr hat sich angeboten, das zu übernehmen. Wir reiten zusammen.“
Wichmann schweigt und hält den blutigen Lappen in der Hand. Der Balken. Der bereitet ihm Kopfzerbrechen. Wie konnt der das wissen?, fragt er sich. Das konnt der gar nicht wissen. Ein Schuss ins Blaue. Nicht anders möglich. Er überlegt. Er muss sichergehen.
„Ich komm mit. Bei den Kühen könnt ihr ne helfende Hand bestimmt brauchen.“
Sie reden davon, die Kühe vom Sturmsepp holen zu gehen, aber Hannes ist sich nicht sicher, ob ers glauben kann. Dazu sind die zu nervös, denkt er. Der Wichmann sieht aus, als hätt der zwei Tage nicht geschlafen. Und Schwär macht auch einen komischen Eindruck. Und dann haben beide ihre Gewehre dabei. Wozu?, fragt er sich. Nein, er glaubt nicht, dass es hier nur um die Tiere geht. Da ist was anderes. Seinem Onkel scheints egal zu sein. Der sitzt auf seinem Pferd und tut, als würd ihms ganze Land gehören.
„Hannes“, hat der gesagt. „Bist en guter Jung, dass mitkommst, uns mit den Viechern zu helfen.“
„Sicher Onkel“, hat Hannes geantwortet, obwohl er einzig wegen der Münzen mit ist, die Kohr ihm versprochen hat.
Sein Onkel reitet voraus. Großspuriges Zeug erzählt der, obwohl ihm keiner zuhört. Aber das ist dem egal. Vielleicht merkt ers nicht mal. Über dies redet er und über das. Natürlich auch über den Sturmsepp. Tut so, als tät er ihn kennen. Als wüsst er ganz genau, was los war mit dem. Dabei weiß dieser dumme Mann gar nichts, denkt Hannes. Wusst überhaupt noch nie auch nur irgendwas.
„Sag, du warst doch mitm Sturmsepp im Kriech gewesen, stimmts?“, meint er zum Schwär.
„Man sagt ja, dass er anders zurückgekommen is von dort.“
Schwär lässt sich Zeit mit einer Antwort.
„Das sind alle“, sagt er schließlich.
Kohr lacht. Immerzu muss der lachen, denkt Hannes. Wie ein Kind ist der.
„Sicher, aber man verzählt sich ja so einiges. Von seinem Hof und von seinen Feldern und von solchen Sachen. Dass das losging, als er nachm Kriech wieder heimkam.“
„Sachen?“, fragt Schwär. „Was verzählt man sich denn?“
Er weiß natürlich genau, was Kohr meint. Hannes hat die Geschichten schon gehört, da war er noch ein kleiner Bub. So lang redet man hier schon über den Sturmsepp und seinen Hof. Manchmal hatte der Tagelöhner bei sich. Grobe und einfache Burschen waren das. Nach getaner Arbeit saßen die manchmal beim Wichmann, um ihren Lohn zu versaufen. Wenn die genug getrunken hatten, haben sie erzählt, von dort oben. Von seltsamen Lichtern aus dem Wald. Von einem Flüstern im Wind. Von Pflanzen, die sogar bei Frost auf den Feldern wachsen. Betrunkenes Geschwätz, das kann natürlich sein. Aber man sagt ja, dass immer auch ein bisschen Wahrheit dabei ist.
„Weißt schon“, sagt Kohr. „Er dort oben ganz allein und ständig übervolle Felder. Seltsam, nicht?“
Schwär dreht sich zu ihm.
„Im Ort verzählt man sich, dass ihm seine Liesel en totes Kind in die Welt gesetzt hat, nachdem er wieder daheim war. Nach der Geburt hat er sie am nächsten Tag schon wieder aufs Feld gezerrt. Hat se pflügen lassen, bis se umgefallen is. Manche sagen, dass er die Liesel da nen ganzen Tag hat liegenlassen.“ Er macht eine Pause. „Seiner Ernte hats offensichtlich nicht geschadet.“
Schwär schüttelt den Kopf.
„Was willst damit sagen?“
„Bluternte“, flüstert Kohr. Er schiebt eine Hand unter den Hosenträger und nickt Schwär entschlossen zu.
„Meinst du das wirklich, ja?“ Schwär dreht sich in seinem Sattel und sieht Hannes und Wichmann an. „Glaubt ihr das auch? Dass der Josef da Schindluder getrieben hat? Dass der mit dem Deibel im Bunde stand, seine Frau und sein Kind aufm Feld verscharrt hat und deshalb solche Ernten hatte? Glaubt ihr auch an Nachzehrer und Aufhocker, ja? Und an den Mann im Mond, an den glaubt ihr auch, wie? Ich sag euch mal was. Der Josef war bestimmt kein guter Mensch. Dazu warer zu kaltherzig und zu verschroben war der auch. Aber davon abgesehen, war mit dem alles in Ordnung! Und jetzt will ich von dem Geschwätz nichts mehr hören!“
Schweigend reiten sie weiter. Es hat aufgehört zu regnen. Trotzdem hat Hannes noch kein einziges Tier gesehen, seit sie unterwegs sind, hat keinen Vogel gehört, nichts. Scheinen sich zu verbergen, denkt er. Kalt ist es und nass auch und eine schwere Schweigsamkeit herrscht zwischen ihnen. Als sie um eine Kurve biegen, sehen sie den Sturmhof. Hannes denkt, dass er mit den Kühen und dem Hof und mit all diesen Sachen hier nichts mehr zu schaffen haben will.
Das erste, was ihnen ins Auge fällt, ist der tote Hund. Er liegt im Schlamm vor dem Haus. Wichmann greift nach seinem Gewehr und Schwär tut es ihm gleich. Sie steigen ab und binden die Pferde an einen Baum.
„Der is kaputt", murmelt Kohr. Sein Grinsen ist wie weggewischt. Die Tür zum Haus steht offen. Schwär macht einen Schritt darauf zu.
„Is da wer?“, ruft er. Drinnen regt sich nichts. Die Männer werfen sich Blicke zu, dann gehen Schwär und Wichmann hinein. Kohr zögert. Schließlich folgt er ihnen. Nur Hannes bleibt zurück. Sein Mund ist trocken und alles in ihm schreit, dass er wegmuss. Dass er hier wegmuss, so schnell es nur geht. Also dreht er sich um und stolpert Richtung Waldrand davon. Nach etwa fünfzig Schritt bleibt er stehen. Zunächst weiß er gar nicht, warum. Er schaut sich um und wundert sich. Dann hört er etwas.
Im Haus ist es dunkel. Die schmalen Gänge und die Räume wirken eng. Das schwere Holz drückt auf sie herab, macht alles klein. In der Luft liegt der Geruch von kaltem Rauch.
„Sehen wir nach den Tieren“, sagt Kohr.
Er geht den Gang zum Stalltrakt entlang, öffnet die Tür und sieht hinein. Es ist dunkel und zunächst kann er nichts erkennen. Er macht einen Schritt in den großen Raum und bleibt stehen. Ein erdiger Geruch steigt ihm in die Nase. Nach alten Kartoffeln riecht es. Nach Heu und nach Tieren. Es ist kein unangenehmer Geruch. Ein wenig Licht dringt durch Spalten in der Stallwand. Staub wirbelt umher. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sieht er Umrisse auf dem Boden. Sie sind umsonst hergekommen. Die Rinder sind alle tot. Er will sich umdrehen, will den Stall verlassen und den anderen Bescheid geben, da hört er was. Er bleibt stehen. Lauscht. Geht zur Tür neben dem großen Scheunentor, öffnet und geht hinaus auf das Feld.
Schwär sieht aus dem Fenster. Er weiß nicht, wie lange er schon dort steht und den Blick nicht abwenden kann. Da draußen ist eine Birke. Sie bewegt sich im Wind. Wiegt sich nach links und nach rechts. Aber nicht nur der Baum bewegt sich. Die Rinde, denkt Schwär. Die sieht aus, als ob sie fließen würde. Das Weiß und das Schwarz wie im Strom, im ständigen Wechsel. Er muss grinsen. Das ist schön, denkt er. Er will es den anderen zeigen. Doch Kohr und Hannes sind nicht da. Nur Wichmann steht neben ihm.
„Ich geh mal dort raus“, sagt Schwär. Schon ist er bei der Tür, geht über den Rasen und sieht dort, am Rande des Waldes neben dem Feld vom Sturmsepp einen großen Haufen Erde liegen. Ein Loch, denkt er. Dort muss ein Loch sein.
Wichmann steht neben Schwär. Vor dem Fenster sieht er den Sturmsepp. Er kann ihn hören, obwohl der nicht mal seinen Mund bewegt. Obwohl das Fenster geschlossen ist und der Sturmsepp bestimmt dreißig Meter von ihm entfernt steht, obwohl der längst tot ist, kann er ihn hören.
„Willst wissen, wies is erlöst zu sein, deswegen bist hier, Wichmann. Deswegen bist mitgekommen mit den anderen.“
Erlöst?, denkt Wichmann. Aber das hat er nicht gesagt zu ihm. Er hat gesagt, dass sie sich fernhalten sollen. Warum sind sie überhaupt hier? Er überlegt. Um nach dem Rechten zu sehen und wegen der Rinder. Aber das stimmt nicht, denkt er. Er ist mitgekommen, weil der Sturmsepp Dinge über ihn wusst, die keiner weiß. Darum gings ihm. Aber nun, mit einem Mal, da will er hier gar nichts mehr. Er drückt sich am Schwär vorbei, der neben ihm steht und merkt nicht, dass der schon lange zur Tür raus ist. „Ich geh nicht mit“, murmelt er.
Ich darf nicht hineinsehen in das Loch, denkt er. Ich wills nicht wissen. Wills nicht mehr wissen. Er geht, irgendwann rennt er. Durch das Haus rennt er, stößt dabei einen Stuhl um, stolpert, rempelt mit der Schulter gegen den Türrahmen, rennt weiter. Draußen rutscht er aus, fällt, rappelt sich wieder hoch. Weiter!, denkt er. Weiter! Zu den Pferden! Nur zu den Pferden muss er es schaffen. Er rennt. Er sieht Hannes, der auf ihn zukommt.
„Wir müssen hier weg!“, ruft er. „Wir müssen gehen!“ Er dreht sich zu seinem Pferd, will aufsteigen, als Hannes ausholt und ihm mit einem schweren Stein den Schädel zertrümmert. Wichmann fällt. Auf dem Boden atmet er noch zwei Mal. Dann ist er still.
Hannes sieht auf den toten Mann herab. Er lässt den Stein fallen, geht um das Haus und stellt sich neben Kohr und Schwär an den Rand der Grube.
Lange vor dem Mann, dem sie hier Straßen gewidmet haben, weil er durch das Moor wanderte und darin etwas sah, der vermaß und entwässerte, der erste, der wirklich mit dem Graben begann und den sie Vater der Moorbauern nennen, lange vor Schweden, vor Wasserburgen und auch vor Bauern, die sich von Fürsten und Bütteln nicht länger die Butter vom Brot nehmen lassen wollten, lange vor Kirchen, Stämmen, vor Hügelgräbern und dem großen Eis, lange vor all dem war hier das Alte. Verborgen unter Erde, Wurzeln und Stein, seit es dort einschlug. Schlafend, wachsend. Vor fünf Tagen begann es mit Josef Sturm zu sprechen. Der ging daraufhin hinaus auf das Feld und als es so weit war, verließ er seinen Hof.
Hannes berichtet, dass sie Hilfe brauchen auf diesem seltsamen Gehöft und weitere Männer aus dem Dorf machen sich auf den Weg. Bis zum Ende der Woche graben bereits annähernd einhundert Menschen aus den umliegenden Ortschaften. Je tiefer man kommt, desto weniger spielen ihre bisherigen Sorgen oder Sehnsüchte eine Rolle. Das Alte spricht und ihnen wird klar, dass alles ein einziger Irrtum gewesen ist. Dies hier, das Graben ist die Wahrheit.
Man rodet einen Teil des Waldes, konstruiert simple Lastenkräne und beginnt, die Erde dadurch schneller aus der Grube hervorzuholen.
Manche sterben nach Tagen in der Grube buchstäblich mit der Schaufel in ihrer Hand. Aber das ist in Ordnung. Über den kleinen Zug Soldaten, der in einiger Entfernung gesichtet wird und in ihre Richtung unterwegs ist, macht man sich keine Sorgen. Auch diese Männer werden verstehen, wenn sie erst einmal nahe genug herangekommen sind. Sie werden ihre Gewehre wegwerfen und sich einen Spaten greifen.
Man gräbt tiefer und immer tiefer. Eine Sache von wenigen Tagen, vielleicht schon morgen, meint man und in ihren von Fackeln und Grubenlampen erleuchteten Gesichtern zeichnet sich Vorfreude ab. Morgen, denken sie, morgen wird eine andere Zeit sein.