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Das Amt für sonderbare und unnötige Aufgaben
Okay, es ist spät, ich bin echt Scheiße drauf und ein klein wenig überdreht.
Ich glaube, ich werde mal den Computer hochfahren. Da das ohnehin immer ewig dauert, setze ich wohl erst mal etwas Wasser auf, um mir dann dieses Pseudo-Zitronen-Tee-Ersatz-Dings zu machen, welches zwar mitnichten nach Tee schmeckt, aber wenigstens süß und warm ist.
Lassen wir die Finger sprechen...
Trommelwirbel... Und da bin ich wieder...
Daran erkennen Sie übrigens, dass wieder eine Woche vorbei ist, dass wieder Donnerstag ist und dass es wieder nur einen weiteren Tag braucht bis zum Wochenende...
Wie doch die Zeit vergeht, nicht?
Manchmal, wenn ich nicht gut drauf bin, dann stelle ich mir vor, dass Sie meine Kolumne lieben. So sehr, dass Sie ihren ganzen Wochenplan nach ihr ausrichten. Sie brauchen keinen Kalender mehr.
Sie gehen zum Zahnarzt, zwei Tage nach meiner Kolumne, drei Tage vor meiner Kolumne kommt ihre Tante zu Besuch, und am Tag meiner Kolumne da gegen Sie ins Kino.
Gut, die Vorstellung ist sauarrogant, aber sie gefällt mir. Und sie hilft mir, wenn ich traurig bin. Also lassen Sie mir bitte diese Illusion.
Das ist wirklich arrogant und vielleicht auch gar nicht so lustig. Egal, morgen kann ich immer noch alles löschen. Jetzt sollte ich dafür sorgen, dass ich die Seite voll bekomme. Schließlich wird es mal wieder verdammt knapp.
Heute habe ich nämlich eine Mail in meinem Posteingang gefunden. Von Michael.
Betreff: »Hallöchen!« (Man beachte das Ausrufezeichen...)
Und wer bitte schreibt heute noch einen Betreff mit dem Wort »Hallöchen!«?
Genau.
Und in der Mail stand: »Vielleicht hast du ja schon ein paar Zeilen geschrieben, die du mir zur Vorabkritik schicken könntest. Herzlichst, Michael.«
Natürlich hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts geschrieben. Niente. Nada. Nothing. Nichts.
Michael ist übrigens nur zwei Jahre älter als ich und trägt trotzdem immer einen Anzug.
Das sagt eigentlich schon alles.
Das Wasser brodelt inzwischen vor sich hin. Teatime.
Heute mal ein ganz anderes Thema. Etwas völlig Unverbrauchtes:
Lassen Sie uns über Gefühle sprechen. Wozu brauchen wir die eigentlich? Schon mal gefragt? Jetzt mal Hand aufs Herz: wären wir nicht alle manchmal ein klein wenig besser dran, wenn es sie nicht gäbe? Diese blöden, dummen Gefühle?
Natürlich meine ich jetzt nicht diese »Hey, ich bin gut drauf und liebe die ganze Welt so sehr, dass ich sie am Liebsten ganz fest an mich drücken möchte«-Gefühle.
Ich meine die anderen. Hass, Neid, Zorn, Eifersucht ...
Ich muss mich ein wenig zurückhalten. Schließlich soll das hier kein Tagebucheintrag werden. Wobei: ich glaube, dass darauf die Leute besonders geil sind. Hat ja was Voyeuristisches... nicht? Wen jemand sein filetiertes, zerhacktes, zerstückeltes, durch den Wolf gedrehtes Selbst vor einem ausbreitet. Das ist interessant, das interessiert.
Ich werfe einen Blick auf den Rotwein, der ungeöffnet auf meinem Tisch steht. Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Eine einzige Provokation, diese grünlich schimmernde Flasche.
... Kummer, Unmut, Melancholie, Trübsal und natürlich Ärger, - wozu brauchen wir das alles, frage ich mich. Wäre es nicht gut, man könnte das alles zusammenschnüren, einpacken und in die nächste Tonne kicken?
Hat sich die Evolution da einen Scherz mit uns erlaubt? So nach dem Motto: »Hey, die haben echt zu viel Zeit... da muss ich mir langsam etwas einfallen lassen.« (Würde sich im Übrigen mit meiner These decken, dass das Universum grundsätzlich schadenfroh und fies ist.)
Ich klopfte an ihre Tür. Es dauerte ein wenig, aber dann machte sie mir auf.
Sie hatte ihr Telefon am Ohr und war gerade in ein Gespräch vertieft, als sie öffnete.
Sie sah mich etwas verwundert an, als sie mich so im Türrahmen stehen sah, winkte mich aber dann doch herein, ohne mich zu begrüßen.
Ich hob die Flasche Wein in die Luft und lächelte. Aber sie hatte sich aber schon umgedreht, um in der Küche ungestört weiterreden zu können. Was gar nicht nötig gewesen wäre. Sie redete auf Spanisch, ich verstand eigentlich überhaupt nichts. Ich spreche kein Spanisch.
Ich zog meinen Mantel aus und setzte mich auf ihr Sofa. Wie oft hatte ich das schon gemacht? Ziemlich oft, ich habe nie mitgezählt. Sollte man nicht manchmal Dinge zählen? Nur, um sich zu versichern, dass man sich an jedes einzelne Mal auch erinnern kann? Und kein einziges vergisst?
Dann endlich hatte sie den Hörer aufgelegt und kam zu mir ins Wohnzimmer, wo ich die ganzen, sauber-spießig beschrifteten Kartons betrachtete.
»Was machst du hier?« fragte sie mich.
»Ich wollte dich noch besuchen«, erwiderte ich. »Vielleicht etwas trinken?« Dabei hob ich demonstrativ die mitgebrachte Flasche Wein in die Höhe. Gut, es war nicht der edelste Stoff, aber es war trinkbar.
Sie lächelte mich an. »Oh, Lu«, sagte sie. »Ich bin viel zu aufgedreht zum Trinken...«
»Das passt ja genau«, meinte ich.
Sie schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften.
Dieses Bild wird mir auf ewig erinnerlich bleiben: ich sitze auf jenem Sofa mit dem komischen grünen Schonbezug, zwischen Heerscharen von Kartons mit der Aufschrift Bücher, Geschirr, Bücher 2, Krimskrams (??), Bücher 3, Elektro - und sie steht gut zweieinhalb Meter von mir entfernt und guckt mich an, als hätte sie Mitleid mit mir, als wäre ich ein kleines Kind und hätte gerade einen Blumentopf umgeworfen und die Erde im ganzen Raum verteilt, als hätte ich mich beim Essen vollgekleckert, als hätte ich eben die weiße Wand mit Farbe angepinselt...
Mann, fuck!
Versuchen wir uns doch einfach mal so eine Welt vorzustellen, eine Welt, in der Mann oder Frau seine Gefühle am Amt für sonderbare und unnötige Aufgaben (wenn Sie mir diesen pleonastischen Neologismus erlauben wollen...) abmelden kann.
Ich würde da hin gehen, würde mich an den Schalter stellen und sagen: »Bitte, nehmen Sie all den unnötigen Ballast von meiner Seele...«
Der Mann hinter dem Schalter würde mich etwas irritiert anschauen und antworten: »Tut mir leid, wir haben leider schon so gut wie geschlossen, probieren Sie es morgen noch einmal.«
Und ich würde, mitsamt all meinen Gefühlen, wütend und verärgert nach Hause rennen. Und am nächsten Tag wieder kommen.
Claudia wird weggehen. Jetzt ist es also raus.
Sie wird weggehen und mich allein hier zurücklassen. Gut, ich bin sicher kein Grund, der sie festhält. Aber trotzdem: ich bin stinksauer und kann nicht einmal sagen warum eigentlich. Na gut, ich kann schon, aber ich will nicht.
Ich nippe an meinem Tee-Ersatz mit Zitronengeschmack und starre auf die Zeilen, die ich ins Keyboard gehackt habe. Nach einigem Überlegen lösche ich das »Fuck«, das sich da irgendwo eingeschlichen hat.
Contenance...
Claudia führte mich also in die Küche, in der alles so aussah wie es damals ausgesehen hatte, als sie eingezogen war.
Leer. Trist. Aber sauber.
Und ich muss es ja wissen, schließlich habe ich diese verdammte Waschmaschine die Treppen nach oben gehievt, als sie damals einzog. Der darauf folgende Hexenschuss war dann übrigens mein erster überhaupt gewesen.
Ich setzte mich an den Tisch. Sie hatte aus einem der Kartons mit der Aufschrift »Gläser« ein Glas (Überraschung - in der Kiste waren tatsächlich nur Gläser...) herausgenommen und es mit etwas Leitungswasser gefüllt.
»Mehr hab ich nicht«, hatte sie gemurmelt, als sie es mir auf den Tisch gestellt hatte, mit derselben Eleganz und Mimik, wie ein Kellner, zwei Minuten vor Sperrstunde.
»Danke schön«, gab ich zurück und nippte an dem ekligen Wasser. Schon erstaunlich, welchen Flüssigkeiten man manchmal gestattet, als Wasser durch unsere Rohre zu fließen.
Sie setzte sich zu mir und sah aus dem Fenster.
»Wann geht dein Flug?« fragte ich.
»Morgen abend«, sagte sie.
»Mhm, ist ja viel Zeit.«
»Die Umzugsfirma kommt um Sechs.«
»So bald schon?«
»Mhm.«
»Nimmst du alles mit nach Buenos Aires?«
»Nein, die meisten Sachen werden in einer Lagerhalle untergebracht.«
»Und deine neue Wohnung...?«
»Die Uni hat mir bei der Zimmersuche geholfen. Die haben mir mehrere Adressen zugeschickt. Und da hab ich dann einfach angerufen.«
»Aber du warst nie dort?«
»Ein Freund hat sich die Wohnung angeschaut.«
Ein Freund? Un amigo? Fuck!
»Du schreibst jetzt eine Kolumne, oder?« Es klang nicht wirklich interessiert.
»Ja«, erwiderte ich. »Mal sehen wie lange...«
Und dann hätte es endlich geklappt und ich wäre meine Gefühle los:
Ich würde nicht mehr traurig sein, wenn mein Goldfisch mit dem Bauch nach oben im Aquarium schwimmt.
Ich wäre nicht mehr zornig, wenn mein rotes T-Shirt meine weißen Socken verfärbt hätte, ganz einfach, weil ich zu blöd zum Sortieren der Wäsche bin.
Ich wäre nicht mehr verärgert, wenn ich im Supermarkt an der Kasse in der Schlange mit der Großfamilie stehen würde, die zwei Einkaufswägen hat, anstatt in der des Studenten mit einem halben Korb zwischen seinen Fingern.
Ich würde mich nicht darüber ärgern, dass der Hund des Nachbarn (Fifi) einen Haufen direkt vor meine Eingangstür gelegt hätte.
Und ich wäre auch nicht mehr erbost darüber, dass ich daraufhin mit meinen neuen, handgefertigten italienischen Schuhen (über deren Preis ich mich im Übrigen auch nicht geärgert hätte) direkt in diesen Hundehaufen hineingetreten wäre.
Jupp, so lob ich mir das.
Als ich dann ging war zwar Zeit vergangen, aber ich hatte sie verschwendet. Ich hatte ihr nichts gesagt und sie hatte mir nichts gesagt.
Wir hatten nur geredet. Aber eigentlich hätten wir auch das bleiben lassen können...
Sie schlug die Tür vor meiner Nase zu und als ich allein im dunklen Flur stand, da konnte ich endlich sagen, was ich schon die ganze Zeit über hatte sagen wollen: »Bleib hier.«
Unnötig zu erwähnen, dass es keinen Schwanz interessiert hat, dass da so ein irrer Typ im dunklen Flur eines Mehrzimmerwohnhauskomplexes vor einer Wohnungstür stand und diese Worte sprach.
Sie sehen also, es hätte schon Vorteile, keine Gefühle mehr zu haben. Allerdings würde ich dann auch nicht mehr über meine Nachbarn schimpfen können, mit meinen Freunden nicht mehr zusammen über unsere Feinde, mit meinen Kumpels nicht mehr über die Nationalelf oder über den letzten Spielberg-Film.
Man könnte fast meinen, dass mir dann etwas langweilig wäre.
Aber Moment: ist Langeweile nicht auch ein Gefühl?
Ich spiele also ein wenig mit der Zigarettenschachtel rum, bevor ich sie aufreiße und eine dieser herrlichen weißen Stängel herausziehe. Ich rieche erst daran und mir fällt wieder ein, warum ich aufgehört habe. Dieser widerliche Gestank, der von ihnen ausgeht, der sich an Haare, Kleidung, Finger und Zunge hängt und sich dort verklammert und verkeilt und nicht mehr weichen will.
Dann mache ich die Stereoanlage an und tanze ein bisschen zu den Stones.
Ich klemme mir die Zigarette zwischen meine vom Teeersatz feuchten und süß schmeckenden Lippen und lasse sie auf und ab wippen.
Schließlich nehme ich die Flasche Wein zur Hand, die immer noch ungeöffnet ist. Ich entkorke sie und gieße mir etwas von der roten Pampe in ein normales Glas.
Bewaffnet mit Alkohol, Zigarette und Benzinfeuerzeug gehe ich hinaus auf den Balkon. Es ist ziemlich kalt, zugegeben. Ich überlege, den Mantel zu holen, lasse es aber bleiben. Ich hocke mich auf meinen kleinen Sessel da draußen, und zünde die Zigarette an. Der kalte Rauch rauscht in meine Lungen und brennt.
Ich inhaliere tief und blase ihn gegen das Mondlicht.
Vielleicht schreibe ich meine Kolumne morgen neu, denn ich glaube, wenn ich sie morgen noch einmal lese, werde ich denken, dass sie der reinste Bullshit ist. Vielleicht mache ich irgendetwas über Discos. Oder über Frauen. Frauen und Einparken. Ja, das kommt doch immer gut.
Eine dieser Sachen, die man eben einfach schnell hinrotzt.
Eine Welt ohne Gefühle.
Da wären Sie doch auch sofort dabei.
Oder nicht?