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Das Bein
Christian Vosteran wunderte sich. Er war früh aufgestanden, ganz besonders früh, hatte aus dem unablässigen "Guten Morgen" in alle Richtungen ein undeutlich gemurmeltes "Morgen" gemacht. Wen, außer zwei oder drei noch eifrigeren Kollegen, hätte er um diese unchristliche Zeit schon grüßen sollen. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee stieg ihm in die Nase. Dieser typische Geruch von Wichtigkeit, auch wenn er nur Tee mochte. Christian trug eine Verantwortung, er trug zur funktionierenden Kommunikation bei und diese Verantwortung würdigte er. Der Kunde erwartete korrektes Auftreten, polierte Messingknöpfe, gegeltes Haar und glänzende Schuhe. Kleidung spiegelte schon immer die Arbeitseinstellung wider.
Er hatte immer gehofft, nie in die Verlegenheit zu kommen, einen Brief in den abgelegenen Krähenweg tragen zu müssen, doch heute war es so weit. Heute hatte er Pech gehabt, obwohl es an diesem Tag seine einzige Zustellung war. Das hatte es noch nie gegeben.
Schon am Ortsausgang konnte er den Einödhof erkennen. Klein zwar, aber deutlich genug, um die berüchtigte Silhouette zu zeigen. Ein Silo-Turm, in dem angeblich Sohn, Tochter und Frau von Schellhammer in den sechziger Jahren erstickt waren. Daneben ein kleiner Schuppen, ein blass grauer Holzverhau mit eingeknicktem Dach und, etwas versetzt, das Wohnhaus. Ehrfürchtig stieg Christian Vosteran von seinem gelben Fahrrad. Seine Frisur war fein säuberlich aufgeräumt. Man mied die Umgebung des Hofes. Angeblich geschahen dort seltsame Dinge.
Nach hundert Metern bog er in den Krähenweg, ein wenig befahrener Feldweg vielmehr, der seine Schuhe knirschen machte und nach einer Weile zum Hohlweg verkam. Sträucher säumten ihn zu beiden Seiten und hätten die Flucht nur nach rückwärts zugelassen. Undurchdringlich. Christian atmete laut. Die Krawatte war schuld. Christian lockerte sie ein wenig. Seine linkes Schienbein schmerzte mit jedem Schritt und er begann diesen unseligen Tag zu verwünschen. Schließlich warf er das Fahrrad hin. In die Sträucher, nur um im nächsten Augenblick hinterher zu hechten. Jeder Brief verdiente Respekt, genauso wie dessen Adressat.
Nun stand er auf dem Krähenweg, an diesem schneeschwangeren Novembertag, den Brief in der Hand. Gelblich-graues Umweltpapier mit roter Tinte beschriftet. Seltsamer Absender, dachte Christian beim Prüfen seiner Frisur.
Inzwischen war er nähergekommen. Er konnte sogar schon die Türklinke und das Schlüsselloch erkennen, auch aus dieser Entfernung. Eigentlich ein hübsches Haus, dachte er, gemütlich fast. Verwunschen stand es zwischen verrosteten Landmaschinen. Sein Blick streifte zwischen den Gebäuden hin und her und blieb bald an der ovalen Einstiegsluke des Silos hängen. Etwas schien ihn anzustarren. Er fühlte das und seine Bewegungen froren ein. Den Postboten in gebügelter Uniform fröstelte. Er hatte den Eindruck, hier wäre es kälter als in der Stadt. Christian fixierte das schwarze Oval. Seine Haare wollten zu Berge stehen, doch das Gel behielt die Kontrolle, lediglich die Ohren zuckten – ganz von selbst. Er musste mal.
Er beschloss, das Gefühl beiseite zu schieben. Immerhin war er zweiunddreißig, zu alt für solchen Unsinn. Er drehte sich um und ging auf das Wohnhaus zu. Hinter ihm knirschte etwas. Das war nichts, gar nichts, irgendein Geräusch. Es wurde lauter und Christian schneller. Plötzlich ein Poltern. Christian stürmte los, stolperte auf die Veranda – wo man hinsah, leere Konservendosen -, stieß gegen die Tür und drückte instinktiv die Klinke. Ohne zu zögern, schlüpfte er hinein, spähte durch den Türspalt. Dort war nichts.
»Verschwinde, Penner!«
Christian fuhr herum, eine Strähne hing ihm ins Gesicht.
»Du meine Güte, Herr von Schellhammer, haben Sie mich erschreckt!« Erleichterung.
»Das interessiert mich einen Scheiß, machen Sie, dass Sie verschwinden, Sie in gottverdammter Penner.«
Der alte Mann sah grauenhaft aus, roch wie abgestandenes Bier. Er musste das Feinripphemd schon seit Tagen angehabt haben.
»Tut mir Leid, dass ich so einfach hereinplatze.«
Den Brief hinter dem Rücken stand Christian unschlüssig im Flur. Gott, was für ein Gestank, dachte er.
»Glotzen Sie nicht so dämlich und sagen Sie mir, was Sie zum Donnerwetter wollen? Ich verpasse Ihnen gleich eine hiermit«, sagte der zahnlose Mund.
Obwohl Herr von Schellhammer in einem Rollstuhls saß, dadurch ganze zwei Köpfe kleiner war, schaffte er es irgendwie, herablassend mit dem Schürhaken vor dem Postboten herumzufuchteln.
»Ich habe etwas für Sie«, sagte Christian und streckte die Hand mit dem Brief vor.
»Es gibt nichts, das ich brauchen könnte, sehe ich so aus, als hätte ich irgend etwas nötig?«
Der Schürhaken schwang haarscharf an Christians Nase vorbei. Herr von Schellhammer stierte ihn an.
»Ein frisches Hemd?«
Der Schürhaken polterte zu Boden. Christian rechnete damit, sich wegen des Spruchs eine einzufangen.
»Halten Sie die Klappe!« Der Alte rollte heran, rammte die Beinstützen gegen Christians Schienbein und schnappte sich in einer erstaunlich agilen Bewegung den Brief. »Geben Sie schon her!«
»He, was fällt Ihnen ein, ich hätte Ihnen den Brief auch so gegeben«, maulte Christian.
»Reißen Sie sich gefälligst zusammen, immerhin sind Sie hier eingebrochen. Wären wir in Amerika, hätte ich Ihnen eine Ladung Schrot auf den Pelz gebrannt!«
Dass sich dieser alte Sack von einem Scheißkrüppel auch so aufführen muss, dachte Christian und rieb sich die schmerzende Stelle.
»Eingebrochen, was soll das denn heißen? Ich habe Ihren bescheuerten Brief gebracht.«
Beim Blick auf seine polierten Schuhe wurde er sich schließlich wieder seiner Prinzipien bewusst. Er richtete sich auf, bändigte seine Strähne, rückte die Krawatte zurecht und atmete, nein nicht tief, dieser Geruch, durch.
»Bitte entschuldigen Sie, es steht mir nicht zu, so zu reden.«
»Da sprichst Du Wahres gelassen aus, Jungchen«, sagte der Herr von und kratzte sich dabei an seinem Beinstumpf. »Aber drauf geschissen, jetzt bist Du mir was schuldig.«
Christian hätte das vorher wissen können. Nervös blicke er sich um.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
In der Ecke stand ein ausgestopfter Fischreiher, darüber hing ein Gemälde. Bob Ross hätte seine Freude daran gehabt. Herr von Schellhammer mühte sich, den Rollstuhl zu drehen, doch der zusammengeschobene Überrest eines Teppichs blockierte die Räder. Christian schnappte sich kurzerhand die Schiebegriffe, machte sich nützlich.
»Nehmen Sie Ihre Verdammten Griffel da weg!«, grunzte der Alte und schlug mit der Faust auf Christians Hand.
Ertappt wich er ein paar Schritte zurück. Schon aus dem Zivildienst hätte er wissen sollen, dass man Rollstuhlfahrern nicht ohne zu fragen ins sprichwörtliche Handwerk zu pfuschen hatte.
»Geh da rüber, in die Küche, stell' Wasser auf. Wir werden uns ein bisschen unterhalten.«
Christian dachte nicht im Traum daran, sich mit diesem traurigen Überrest eines Menschen an einen Tisch zu setzen.
»Ich habe keine Zeit, bin im Dienst.«
»Was, zum Kuckuck, ist das hier eigentlich für ein elendiger Scheißdreck? Warum liegt dieser vermaledeite Teppich immer noch hier herum«, keifte Herr von Schellhammer im Kampf gegen das Hindernis.
»Herr von Schellhammer, soll ich nicht doch lieber ...«
Für eine Sekunde streifte Christians Blick den des Alten und er wusste, dass Schweigen jetzt Gold war. Das Haargel versagte seinen Dienst mehr und mehr, zwei Strähnen schon.
Die Küche. Ein seltsam anmutendes Katastrophengebiet. Über und über mit leeren Dosen vollgestellt. Mexikanische Bohnensuppe. Der Herd verdiente seinen Namen nicht, besaß nur eine Flamme. Um die Ecke eine Welt, die so gar nicht zu Herrn von Schellhammer passen wollte. Christian strich über die Tischplatte. Makellos. Er fuhr mit dem Zeigefinger über ein besticktes Platzdeckchen. Schneeweiß. Darauf eine Teekanne. Daneben Kerze, Streichhölzer und zwei unbenutzte Teegläser.
Schön, dachte Christian, er konnte sich immerhin so hinsetzen, dass er das Elend der Küche im Rücken hatte.
Nur mit Mühe bekam er den Wasserhahn auf. Der Wasserkessel sah bis auf die Kalkablagerungen überraschend gepflegt aus. Er befüllte ihn. Der Gasanzünder klebte in einer Kruste alter Bohnensuppe, sodass Christian zweimal zupacken musste.
Vom Flur drang ein dumpfer Schlag herüber.
»Leck mich doch am Arsch, du verschissener Scheißteppich!«, schrie von Schellhammer.
Christian stellte den Kessel auf den Herd und ging in den Flur, nicht ohne einen Stapel Dosen umzureißen. Beinahe wäre er deswegen gegen die Anrichte gelaufen. Klug, sich jetzt noch schnell an einer Dose die Hand aufzuschneiden, dachte Christian, der sich ob des Anblicks ein Prusten nicht verkneifen konnte. Mit offenem Mund stand er in der Küchentür.
»Grins nicht wie ein Schwachsinniger, sondern hilft mir hoch!«
»Aber Herr von Schellhammer, wie haben sie das denn geschafft?« Jetzt durfte er diesen Rüpel auch noch vom Boden aufsammeln.
»Ich hab den Teppich da, den habe ich so nötig wie einen Kropf, was will ich mit einem Teppich. Die Schnepfe vom Bürgermeisteramt hat den gebracht.« Er packte den Teppich und riss wie ein tollwütiger Hund daran. »Was soll ich mit so einem unseligen Ding? Ich bin ein verdammter Krüppel, ich will diesen Scheiß nicht in meinem Haus!«
Christian stellte den Rollstuhl, dessen Armlehnen sich verabschiedeten, wieder auf die Räder.
»Immer langsam, Sie müssen ihn ja nicht gleich zerlegen«, sagte der Alte.
»Reicht es, wenn ich den Rollstuhl festhalte?«, fragte er.
»Sehe ich so aus?«, zeterte von Schellhammer, »sehe ich verflucht nochmal aus wie ein verblödeter Athlet? Machen Sie die Armlehnen wieder dran und helfen Sie mir hoch, Sie Klugscheißer.«
Endlich saß Herr von Schellhammer wieder in seinem Stuhl. Christians Uniform war nur noch eine zerknitterte Erinnerung an seinen bedeutsamen Beruf, das Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Schwitzend beugte er sich zu seiner Krawatte, hängte sie sich lose um den Hals. Der Körpergeruch des alten Mannes schien Christians Nasenflügel nicht mehr verlassen zu wollen. Ihm war übel und langsam musste er wirklich mal.
Der Alte rollte zu ihm und klopfte ihm auf den Arm.
»Guter Junge.«
»Nicht der Rede wert«, log Christian, klopfte gespielt freundschaftlich die Schulter des Alten. Sie fühlte sich kühl und schmierig, aber widerlich körnig an, fast wie ranzige Butter. Angewidert zog Christian seine Hand zurück.
»Jetzt lassen Sie den Teppich schon liegen, ich mach das schon«, motzte Christian, als er den Alten wieder danach greifen sah. »Machen Sie lieber den Tee.«
Wie auf Kommando begann der Wasserkessel zu pfeifen. Von Schellhammer rollte in die Küche.
»Wo wollen Sie den Fetzen hin haben?«, rief ihm Christian hinterher. Ist der vorher im Wald gelegen, fragte er sich, während er ihn zusammenrollte. Der Fetzen roch nach Erde und darunter fand sich eine Schicht Staub.
»Wirf ihn vor die Tür«, tönte es aus der Küche.
Das wunderte Christian nicht. Ihm war schon aufgefallen, dass es auf dem Grundstück von Schellhammers nach genau diesem Pragmatismus aussah. Alt, defekt, verbraucht, raus vor die Tür. Naja, ihm konnte es egal sein.
Der Teppich drückte schwer auf Christians Schulter. Ein Schneegestöber hatte eingesetzt. Scheiß Winter, dachte er und im selben Augenblick wurde ihm bewusst, dass er jetzt eigentlich hätte abhauen können, doch etwas hielt ihn zurück, wenn er nur wüsste, was, und außerdem musste er wirklich mal. Endlich, hinter einem Ölfass erleichterte er sich, pinkelte und pinkelte und fror. Sein Blick felsenfest am Oval des Silos hängend. Doch da war nichts. Er klemmte ab, ein Geräusch beunruhigte ihn.
»He, Jungchen, ich hab's mir anders überlegt. Bring den verdammten Teppich lieber in den Keller. Wenn die den hier draußen liegen sieht, bringt die mir, dieses debile Weibsstück vom Bürgermeisteramt, bloß einen anderen«, rief Herr von Schellhammer in der Haustür sitzend.
Mit klappernden Zähnen griff sich Christian erneut den Teppich und schaffte ihn ins Haus. Das hätte sich der alte Sack doch gleich überlegen können, dachte er. Dann erst fiel ihm der Grund für sein Hierbleiben auf: seine Uniformjacke. Die konnte er jetzt wahrscheinlich wegwerfen, oder für teures Geld vom Gestank dieses Widerlings befreien lassen, der sich die Jacke übergestreift hatte.
»Die Tür da führt zum Keller, aber passen Sie auf, dort gibt es Viecher«, sagte von Schellhammer. Mit dem Kopf nickte er in die entsprechende Richtung.
Christian blieb vor der Tür stehen, kämpfte mit dem Teppich, als wäre er ein störrischen Tier.
»Würden Sie mal bitte?«, wie sollte er mit diesem Ungetüm im Arm die Kellertür auf bekommen, aber der Alte war schon wieder in der Küche verschwunden. Lustlos ließ er die Rolle fallen. Himmel, glaubt der, ich bin sein Sklave? Am liebsten hätte er laut losgemault, aber er riss sich zusammen.
»Machen sie Sie keine Umstände, ich regle das schon«, sagte er halblaut.
Hoffentlich hatte von Schellhammer das gehört, aber eigentlich war er ja selbst schuld. Was ließ er sich das überhaupt gefallen? Christian schaltete das Kellerlicht ein. Schon an der Treppe roch es schimmlig. Er hatte keine Lust mehr, länger als nötig mit diesem Quatsch befasst zu sein, also schob er die Teppichrolle bis an den Treppenabsatz und beförderte sie mit einem kräftigen Tritt nach unten. Zuerst schien sie auf halbem Weg liegen bleiben zu wollen, doch plötzlich polterte sie mit Wucht hinab. Christian befreite seine Hände vom Staub, löschte das Licht und warf die Tür zu. Schluss, aus, er würde jetzt nach Hause gehen.
Kurz davor, die Haustür zu öffnen, hielt er inne. Er brauchte die Jacke! Und wie zur Bestätigung, irgendwie spöttisch, fuhr Christian ob eines Knalls hinter der Kellertür zusammen, fast so, als hätte er einen furchtbaren Stromschlag erlitten.
»Um Himmels willen!«, kreischte von Schellhammer. Geschirr klapperte, Dosen, volle und leere, krachten zu Boden. »Was um alles in der Welt hast du getan?«
Der entgeisterte Blick des Alten nagelte Christian im Flur fest.
»Nichts«, stieß Christian hervor, »nichts«, aber er mochte es selbst nicht glauben.
»Du musst sofort runter und alles in Ordnung bringen.« Die Stimme überschlug sich.
»Wissen Sie was, langsam wird mir das zu blöd, ich werde jetzt gehen«, stammelte Christian. Er schaffte es leidlich, seine Stimme fest klingen zu lassen.
»Du weißt ja nicht, was du da redest, Jungchen. Du wirst auf der Stelle ...«
»Suchen sie sich einen anderen dummen, ich bin Briefträger, kein Sozialarbeiter. Also her mit der Jacke und auf Wiedersehen.«
Christian wandte sich um, drückte die Klinke.
»Gut, wie du willst, geh. Aber hüte dich vor dem Silo!«
Herr von Schellhammer zog die Jacke aus und warf sie nach Christian.
»Das werde ich auch tun.«
Er rümpfte die Nase. Seine schöne Uniformjacke stank nach ranziger Butter vermischt mit Brennnesseljauche.
Kurz bevor Christian das Haus verließ, rief ihm der Alte hinterher.
Christian blieb stehen, drehte sich um.
»Aber wenn du den hier«, er streckte ihm einen kleinen Gegenstand entgegen, »wieder haben willst, tust du besser, was ich dir sage.« Er bleckte gelbe Zähne.
Christian strauchelte. Warum, zum Teufel, hatte dieses schmierige Schwein von einem schwachsinnigen Alkoholiker seine Taschen durchwühlt? Christian raste vor Wut. Niemand fasste diesen Ring an! Nach zwei Schritten stand er bei von Schellhammer, der in seinem klapprigen Rollstuhl vor der offenen Kellertür saß und ihn angrinste. Christian zögerte keine Sekunde und packte das stinkende Etwas am Hals.
»Her mit dem Ring!«, knurrte er, schob den Rollstuhl dabei rückwärts.
»Erst, wenn du unten alles in Ordnung gebracht hast.«
»Her damit, oder du machst auch einen Abflug!«, schrie Christian.
Herr von Schellhammer hob die Hand, hielt Christian den Ring vor die Nase. Er griff danach. Zu spät. Schon klimperte der Ring die Kellertreppe hinab.
»Gottverdammter Scheißkerl!«, brüllte Christian. Er schlug dem Dieb mit der Faust ins Gesicht, einmal, zweimal, ein drittes Mal, beförderte den Rollstuhl Zentimeter für Zentimeter der Treppe entgegen.
»Wage es nicht, mir etwas anzutun! Du wirst es bitter bereuen«. Nur ein Keuchen.
»Das bezweifle ich«, sagte Christian kalt und stieß ihn die Treppe hinunter.
Christian atmete schwer, als hätte er einen großen Stein von einer zur anderen Stelle rollen müssen. Die schimmlige Luft brannte in seiner Kehle. Der Rollstuhl hatte sich verfangen, klemmte auf halber Höhe des Treppenniedergangs zwischen Wand und Holzgitter, das die Treppe von dem kleinen Kellerraum trennte. Bis jetzt hatte er den Ring nicht gefunden.
»He, Dreckskerl, wo ist der Ring?«, rief er nach unten.
Keine Antwort. Kein Wimmern. Nichts.
Zuerst versuchte Christian den Rollstuhl mit den Händen frei zu bekommen, klemmte sich dabei aber einen Finger, der sofort blau anlief.
»Himmel, Arsch und ...«.
Ein Kläffen brachte ihn zum Schweigen. Hatte von Schellhammer einen Hund?
Schließlich hatte er genug. Er würde dieses Drecksloch schnellstmöglich verlassen und versetzte dem Rollstuhl einen neuerlichen Tritt. Das verborgene Gefährt überschlug sich und krachte gegen den Körper des Alten, der unten lag. Dann sah Christian den Ring.
»Gott sei Dank, ich hab dich wieder!«
Erleichtert tänzelte er die Stufen hinunter und hob ihn auf. Dann stutzte er. Etwas hatte sich bewegt. Wie ein Automat folgte Christian seinem Instinkt und versteckte sich hinter einer Spanplatte, die am Gitter lehnte. Wieder hörte er das Kläffen, deutlich, ganz in der Nähe. Das konnte keine Einbildung mehr sein. Christian konnte nicht anders, die Neugier trieb ihn zu sehr. Er drehte seinen Kopf und lugte um die Spanplatte herum. Eigentlich hatte er einen Hund erwartet, vielleicht, mit Müh und Not, eine Katze, irgend ein anderes Vieh, der Alte hatte davon gesprochen, aber nichts dergleichen fand er vor. In der Ecke, vier, fünf Schritte entfernt stand ein Bein. Kein Holzbein, keine Prothese, wie man vielleicht auf Grund des Bewohners dieses Hauses annehmen mochte, nein, ein normales, menschliches, wenn auch halb verwestes Bein. Es war durch seltsame Verwachsungen mit dem Boden verbunden, was vermutlich, so dachte er, der Grund dafür war, warum es dort stand und nicht lag. Christian sah sich nochmal nach der Leiche von Herrn Schellhammer um. Der alte Blödmann lag in unmöglichen Verrenkungen am Fuß der Treppe. Er hätte einfach nicht den Affen machen sollen, dachte Christian und erst jetzt bemerkte er die Blutlache, die sich aus einem Auge des Toten ergossen hatte. Eine Beinstütze hatte das Auge durchstoßen. Angewidert wandte sich Christian ab und nahm all seinen Mut zusammen. Neugierig folgte er der Schleifspur, die sich bis zu dem eigenartige Bein erstreckte.
Das Bein war blassgrau, mit dunklen Flecken bedeckt und mit Wunden übersät. Er betrachtete den Stumpf aus der Nähe. Wie war das möglich? Warum war der Stumpf verheilt? Die Oberfläche fühlte sich warm an, als hinge noch ein unsichtbarer Körper daran. Plötzlich zuckte Christian von einem Knacken neben sich zusammen. Er drehte den Kopf herum und konnte in dem Bruchteil der Sekunde, bevor es dunkel wurde, einen Sicherungskasten erkennen.
»Himmel nochmal, Scheißdreck!«, sagte er laut.
Ein Atmen bei der Treppe. Christians Herz begann zu rasen. Er meinte, ein Stöhnen zu hören, aber von Schellhammer war doch tot, verblutet. Er horchte genauer hin. Seine Hände waren schweißnass. Da atmete etwas und es schien über den Boden zu kriechen. Bloß keinen Lärm machen, dachte Christian. Er spürte die Sicherung unter seinen Fingern. Das Atmen wurde lauter, als wäre es direkt neben seinem Ohr. Das Kriechen kam näher. Christian drehte die Sicherung. Es blieb dunkel. Er fingerte an der nächsten Sicherung herum, drehte sie hier heraus, setzte sie dort wieder ein. Licht.
Vor seinen Augen: Pulsierend, schleimig, groß wie ein Kürbis, ein Batzen Fleisch, adriges Gewebe, von stellenweise fast transparenter Haut überzogen. Christian wich zurück, würgte. Das riesige Geschwür platzte unten auf, Blut spritzte, tränkte den Boden, Christians Schuhe. Rückwärts taumelte er zur Treppe, stolperte fast über Herrn von Schellhammer. Auch er unter dieser transparenten Haut und von fingerähnlichen Fühlern betatscht, umklammert vielmehr. Christian stieß einen Schrei aus, denn der Treppenaufgang war versperrt. Schlangen gleich begannen sich die Tentakel wie Fühler nach ihm auszustrecken. Sie zitterten auf ihn zu, anfangs zwei, vielleicht drei, doch es wurden unzählige. Mehr und mehr Raum gab er Preis, bis er zuletzt neben dem Bein kauerte. Er hatte verspielt, völlig klar. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde er jetzt hier sterben. In seiner Tasche der Ring, den er umklammerte, so fest, dass sich die Nägel in die Handfläche bohrten, so fest, dass ihm niemand diese letzte Erinnerung würde rauben können. Da platzte mit einem Mal auch der Stumpf des Beins schmatzend auf und abermals wuchsen Fühler, Finger, lebendige Fesseln daraus hervor. Ihm war, als betrachteten sie ihn. Vielleicht heckten sie noch grausame Spiele für ihn aus, dachte er. Dann umklammerten Christian die Tentakeln. Sie hüllten ihn ein und er spürte ihr Leben. Wie waren sie doch warm! Sich zu bewegen war für ihn unmöglich geworden, doch er hatte den Ring, das Einzige was jetzt noch von Bedeutung war. Die Luft blieb ihm weg, denn ein adriges Ding schob sich ihm bis tief in den Rachen und er würgte und spuckte, bis es schließlich das Atmen für ihn übernahm.
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