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Das Bild ohne Gestalt
Es ist keine Phantasterei, nach den Sternen zu greifen, solange man dabei weiß, nicht einen von ihnen jemals fassen zu können.
Maria trägt diese Hose, und sie trägt diese Schuhe. Aus Trotz, weil ihr weder das eine, noch das andere gefällt. Ein Selbsttrotz diese Hose und diese Schuhe.
Wenn die Nächte länger und die Tage kürzer werden, dann verlässt sie oft das Haus, um auf den Silberschein zu warten, der aber nie kommt.
Maria hat ihn sich ausgedacht, den Silberschein, und da er nie kommt, zieht sie aus Trotz diese Hose und diese Schuhe an.
Damit zeigt sie dann, dass er ihr gestohlen bleiben kann.
Dennoch starrt Maria unentwegt in den Himmel und wünscht sich die Wolken weg. Nur für den unrealistischen Fall, sie könne ihn doch noch verpassen, hinter all den Wolken. Verpassen hinter dieser dichten schimmernden Decke dort oben, während sie aus Protest hier unten mit trotziger Kleidung auf das Unmögliche harrt.
Das soll es geben, dass die Leute dann denken, wenn man sich bloß genügend querstellt, tritt das Ereignis ein, und es wäre tragisch, geschehe dies dann hinter geschlossenem Vorhang. Also wünscht Maria sich die Wolken weg und starrt dabei in den Himmel, um den unmöglichen Silberschein nicht zu verpassen.
Einmal hat sie versucht, ein Bild von ihm zu zeichnen, doch das Papier blieb auch nach Stunden ohne Bild, und ihre Hände zitterten. Dann wurde ihr bewusst: Man kann den Silberschein überhaupt nicht zeichnen, weil er nicht existiert. Erst muss man ihn sich denken, damit er real wird, und dann ... dann kann man ihn auch zeichnen, und er wird zu etwas Lebendigem, Greifbarem.
Deshalb steht Maria immer dann auf der Straße, wenn die Nächte länger werden, und starrt dabei in den Himmel, während sie sich die Wolken wegwünscht und durch das tragen trotziger Kleidung unmögliche Dinge erschaffen will, die sie dann zeichnen kann.
Ansonsten bleibt das Blatt nämlich leer. Und das wäre tragisch.
Der Mann neben ihr, - wer weiß schon, wo der plötzlich hergekommen ist - fragt sie nicht. Er ist ganz still und fragt sie nicht nach dem Silberschein, oder danach, was sie überhaupt hier zu suchen hat. Jetzt, wo die Menschen allgemeinhin schlafen und die Nächte wieder lang sind.
Immerhin hat er ja auch nichts hier zu suchen.
Der Mann sagt nur: "Du wartest also."
Und Maria nickt vor Überwältigung ganz sachte, weil sie nicht fassen kann, dass sie ihr jemand ansieht, die Warterei.
"Ja", gibt sie schließlich zurück. - "Du etwa auch?"
Es entsteht eine Pause, in der beide in den Himmel starren, und keiner von beiden weiß eigentlich, wie der jeweils andere denn nun genau aussieht.
"Ja, ich auch. Ich warte auf das Ende der Welt, und du?"
Zum ersten Mal senkt Maria den Blick und betrachtet den Fremden. Er ist wie ein Schemen. Sie mag die Schuhe und die Hose, die er trägt. Es sieht nach Protest aus.
"Auf den Silberschein", flüstert sie dann, als sei es verboten in dieser Kleidung des Nachts auf unmögliche Dinge zu hoffen.
"Mhm", macht der Mann, und beide starren wieder die Wolkendecke an.
"Und, wird es passieren", will sie nach einer Zeit wissen.
"Was, das Ende?"
"Ja."
"Nein."
"Nicht?"
"Nein, wird es nicht."
"Aber wieso nicht?"
"Willst du denn, dass es passiert?"
"Nicht vor dem Silberschein. Danach ist es egal."
Der Fremde wirft einen zweiten Blick auf Maria. Ein Lächeln huscht über seine Lippen.
"Was ist dieser Silberschein denn überhaupt?"
Und da muss sie Luft holen. Maria holt ganz tief Luft, und denkt angestrengt nach. Sie denkt nach, holt tief Luft, atmet sie aus, und holt dann wieder ganz tief Luft. Bis sie sich endlich gefangen hat: "Der Silberschein existiert nicht, und daher trage ich diese Hose, und diese Schuhe, damit er, wären die Wolken nicht, sehen könnte, dass es mich maßlos ärgert, dass es ihn nicht gibt, und ich ihn im unmöglichsten Fall sogar verpassen könnte, sobald ich ihn erdacht habe. Der Silberschein ist nicht mehr als ein leeres Blatt Papier, und das macht mich so wütend; dass ich hier stehen muss, um ihn zu finden!"
Aufgebracht läuft Maria ins Haus zurück und denkt, dass es schon merkwürdig ist, wenn ein Mensch mitten in der Nacht auf das Ende der Welt wartet.
Dann greift sie zu Stift und Papier, und beginnt, den Fremden zu zeichnen.