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Das Bild ohne Gestalt

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24.04.2003
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Das Bild ohne Gestalt

Es ist keine Phantasterei, nach den Sternen zu greifen, solange man dabei weiß, nicht einen von ihnen jemals fassen zu können.

Maria trägt diese Hose, und sie trägt diese Schuhe. Aus Trotz, weil ihr weder das eine, noch das andere gefällt. Ein Selbsttrotz diese Hose und diese Schuhe.
Wenn die Nächte länger und die Tage kürzer werden, dann verlässt sie oft das Haus, um auf den Silberschein zu warten, der aber nie kommt.
Maria hat ihn sich ausgedacht, den Silberschein, und da er nie kommt, zieht sie aus Trotz diese Hose und diese Schuhe an.
Damit zeigt sie dann, dass er ihr gestohlen bleiben kann.

Dennoch starrt Maria unentwegt in den Himmel und wünscht sich die Wolken weg. Nur für den unrealistischen Fall, sie könne ihn doch noch verpassen, hinter all den Wolken. Verpassen hinter dieser dichten schimmernden Decke dort oben, während sie aus Protest hier unten mit trotziger Kleidung auf das Unmögliche harrt.
Das soll es geben, dass die Leute dann denken, wenn man sich bloß genügend querstellt, tritt das Ereignis ein, und es wäre tragisch, geschehe dies dann hinter geschlossenem Vorhang. Also wünscht Maria sich die Wolken weg und starrt dabei in den Himmel, um den unmöglichen Silberschein nicht zu verpassen.

Einmal hat sie versucht, ein Bild von ihm zu zeichnen, doch das Papier blieb auch nach Stunden ohne Bild, und ihre Hände zitterten. Dann wurde ihr bewusst: Man kann den Silberschein überhaupt nicht zeichnen, weil er nicht existiert. Erst muss man ihn sich denken, damit er real wird, und dann ... dann kann man ihn auch zeichnen, und er wird zu etwas Lebendigem, Greifbarem.
Deshalb steht Maria immer dann auf der Straße, wenn die Nächte länger werden, und starrt dabei in den Himmel, während sie sich die Wolken wegwünscht und durch das tragen trotziger Kleidung unmögliche Dinge erschaffen will, die sie dann zeichnen kann.
Ansonsten bleibt das Blatt nämlich leer. Und das wäre tragisch.

Der Mann neben ihr, - wer weiß schon, wo der plötzlich hergekommen ist - fragt sie nicht. Er ist ganz still und fragt sie nicht nach dem Silberschein, oder danach, was sie überhaupt hier zu suchen hat. Jetzt, wo die Menschen allgemeinhin schlafen und die Nächte wieder lang sind.
Immerhin hat er ja auch nichts hier zu suchen.
Der Mann sagt nur: "Du wartest also."
Und Maria nickt vor Überwältigung ganz sachte, weil sie nicht fassen kann, dass sie ihr jemand ansieht, die Warterei.
"Ja", gibt sie schließlich zurück. - "Du etwa auch?"
Es entsteht eine Pause, in der beide in den Himmel starren, und keiner von beiden weiß eigentlich, wie der jeweils andere denn nun genau aussieht.
"Ja, ich auch. Ich warte auf das Ende der Welt, und du?"
Zum ersten Mal senkt Maria den Blick und betrachtet den Fremden. Er ist wie ein Schemen. Sie mag die Schuhe und die Hose, die er trägt. Es sieht nach Protest aus.
"Auf den Silberschein", flüstert sie dann, als sei es verboten in dieser Kleidung des Nachts auf unmögliche Dinge zu hoffen.
"Mhm", macht der Mann, und beide starren wieder die Wolkendecke an.
"Und, wird es passieren", will sie nach einer Zeit wissen.
"Was, das Ende?"
"Ja."
"Nein."
"Nicht?"
"Nein, wird es nicht."
"Aber wieso nicht?"
"Willst du denn, dass es passiert?"
"Nicht vor dem Silberschein. Danach ist es egal."
Der Fremde wirft einen zweiten Blick auf Maria. Ein Lächeln huscht über seine Lippen.
"Was ist dieser Silberschein denn überhaupt?"
Und da muss sie Luft holen. Maria holt ganz tief Luft, und denkt angestrengt nach. Sie denkt nach, holt tief Luft, atmet sie aus, und holt dann wieder ganz tief Luft. Bis sie sich endlich gefangen hat: "Der Silberschein existiert nicht, und daher trage ich diese Hose, und diese Schuhe, damit er, wären die Wolken nicht, sehen könnte, dass es mich maßlos ärgert, dass es ihn nicht gibt, und ich ihn im unmöglichsten Fall sogar verpassen könnte, sobald ich ihn erdacht habe. Der Silberschein ist nicht mehr als ein leeres Blatt Papier, und das macht mich so wütend; dass ich hier stehen muss, um ihn zu finden!"

Aufgebracht läuft Maria ins Haus zurück und denkt, dass es schon merkwürdig ist, wenn ein Mensch mitten in der Nacht auf das Ende der Welt wartet.

Dann greift sie zu Stift und Papier, und beginnt, den Fremden zu zeichnen.

 

Guten Morgen,

zum Nachdenken und irgendwie kommen mir die Gedankengänge bekannt vor. An einem Satz knabbere ich:

Das soll es geben, dass die Leute dann denken, wenn man sich bloß genügend querstellt, tritt das Ereignis ein, und es wäre tragisch, geschehe dies dann hinter geschlossenem Vorhang.
Wenn man sich schon so querstellt, dass das unreale Ereignis eintritt und man kann es dann nicht sehen - hat man sich dann nicht genügend quergestellt? Vielleicht reichen Hose und Schuhe noch nicht?

LG

Jo

 

Salü Cerberus81,

diese Geschichte gefällt mir seit langem wieder ausnehmend gut! Sie ist wie ein Silberstreifen am Horizont all der Geschichten, die ich hier in letzter Zeit gelesen, bzw. nicht zu Ende gelesen habe. Sie ist musikalisch, eine pastellfarbige Phantasie, ein trotziger Traum – was sich normalerweise ausschliessen könnte, hier aber ineinander fliesst zu einem Bild. (Es erinnert mich an die Bilder von Edward Hopper.) Sie lässt sich gut lesen und von Anfang an zog sie mich hinein in die nebulöse, eben seltsame, Stimmung.
Noch etwas Korrektur:

und er wird zu etwas Lebendigem, greifbaren.
zu etwas Lebendigem, Greifbarem.
Sie mag die Schuhe und die Hose, die er trägt. Es sieht nach Protest aus.
Schuhe und Hose > sie sehen nach Protest aus
oder
Schuhe und die Hose, wie er sie trägt. Es sieht nach Protest aus.
Also ... um es auf den definitiven Punkt zu bringen:
der definitive Punkt gefällt mir in diesem Kontext nicht so.
> Also, damit du verstehst … oder, Also, um es deutlich zu sagen …

Das sind wirklich nur Kleinigkeiten in dieser sonst mir sehr gefallenden Geschichte. Zum Titel: Am Ende entsteht dann ja doch ein Bild mit Gestalt? ;)

Gute Zeit und lieben Gruss,
Gisanne

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo zusammen!

@jobär

Wenn man sich schon so querstellt, dass das unreale Ereignis eintritt und man kann es dann nicht sehen - hat man sich dann nicht genügend quergestellt? Vielleicht reichen Hose und Schuhe noch nicht?

Klar, das ist natürlich Interpretationssache. Von mir war das eigentlich nur so gedacht, dass man sich schon trotzig verhält, damit etwas geschieht, und wenn es dann tatsächlich geschehen sollte, verpasst man es halt durch blöde Umstände.

@Gisanne

Erstmal danke für die lobenden Worte. Sowas hört man natürlich immer gerne.

zu etwas Lebendigem, Greifbarem.

Habe ich ausgebessert.

Schuhe und Hose > sie sehen nach Protest aus

So hatte ich das ursprünglich geschrieben, habe es dann aber geändert, weil sich das "Es" auf die Situation bezieht. Also den Umstand, dass er selbst von seiner Art her nach Protest aussieht.

Was den "definitiven Punkt" angeht: Der hat mich gestern schon gestört. Ich schau mal, wie ich das anders schreiben kann.


Euch beiden vielen Dank für eure Kommentare!


Gruß

Cerberus

EDIT: Ich habe den Satz mit dem definitiven Punkt jetzt komplett gestrichen.

 

Hallo Cerb!

Mir gefallen nur wenige Sachen an dieser Geschichte: 1. die Idee - und hier lässt du sehr viel Raum für Interpretationen, was mir ausnahmsweise mal gefällt. Auch der Kontrast zwischen der Frau und den Typen, die Frau, die auf eher was Abstraktes wartet (Silberschein kann ja für alles stehen) und der Typ wartet auf eher was Konkretes (wobei sich das bei "das Ende der Welt" sehr doof anhört, aber wenigstens ist etwas, wovon jeder Mensch eine genau Vorstellung davon hat. Ja, man sollte auch ab und zu über das Ende der Welt nachdenken, kann nicht schaden.)
2. den Anfang, also die ersten zwei, drei Sätze.
3. der Dialog - klingt zwar wie ein Drehbuch-Dialog, aber er klingt auch ziemlich locker und gar nicht gestellt.

Was mir nicht gefällt, ist die permanente Wiederholung von den trotzigen Klamotten und den Versuch sich unmögliche Dinge zu erdenken. Du trampelst so oft darauf herum, dass es bei dieser Kürze einfach nur nervt und ich mir denke, der wiederholt doch nur, um sein Blatt vollzuschreiben. Also mit Wiederholungen füllt man keine Geschichte - jedenfalls keine gute.

Ansonsten bleibt das Blatt nämlich leer. Und das wäre tragisch.
Ja, aber deshalb wiederholt man nicht! :P

Fazit: Es ist nett, nix Großartiges, aber nett - im Sinne von gut, nicht scheiße.

JoBlack

 

Hallo Jo!

So driften die Meinungen auseinander ;)

Diese Wiederholungen hatte ich schon einmal bei einer Geschichte verwendet. Mir ist immer dann danach, wenn ich gerade ein Buch von Alessandro Baricco lese, der diese gerne als Stilmittel benutzt. Leider ist sein Stil ziemlich ansteckend.
Bei diesem Text habe ich auch befürchtet, dass es zu viel des Guten sein könnte. Aber das ist halt immer Ansichtssache. Ich kann aber verstehen, dass es dir nicht gefallen hat. Ist ganz definitiv Geschmackssache.
Aber immerhin haben dir ja ein paar Sachen zugesagt.

Auch dir Danke fürs Kommentieren!

 

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