Das Buch
Thomas und Sarah saßen wie jeden Tag kurz nach Neun im großen Lesesaal. Und wie jeden Tag kam Erich zu spät. Die Studenten der Universität Wien waren stolz auf ihren über hundert Jahre alten Saal. Es gab mehr als 24 Tische mit bis zu 20 Plätzen pro Tisch. Jeder Platz hatte seine eigene Lampe, welche mit ihren grünen Schirmen den Raum in kleine Bereiche von Licht und Schatten abtrennte. Obwohl erst wenige Studenten in der Bibliothek waren konnte man schon erahnen, welcher Geräuschpegel bei voller Besetzung herrschen musste. Das Rascheln der Papiere beim umblättern, das vorsichtige Rücken von Stühlen, aber um diese Zeit war es noch ruhig.
Erich kam mit einer Hand voll Bücher durch die große Flügeltür und ging auf die beiden zu. Er legte die Bücher ab und deutete mit dem Kopf auf den Ausgang. In dem Wissen das Erich immer einen Kaffee braucht bevor er zu lernen anfängt, standen Sarah und Thomas ohne ein Wort zu sagen auf und gingen hinaus.
Draußen bei den Kaffeeautomaten zündete sich Erich eine Zigarette an. Sarah schüttelte den Kopf. „So früh und schon eine Zigarette!“
„Erstens ist es schon halb zehn, und zweitens schon meine Dritte. Wollt ihr auch einen Kaffee?“ Sarah verneinte, aber Thomas wollte einen: „Ja gerne, aber ich hab keine 50 Cent.“
„Kein Problem, dafür hab ich aber eine Sünde frei.“
„Sünde kann ich dir keine erlassen, aber ich leg ein gutes Wort für dich ein“, antwortete Thomas.
„Erich, wie war deine Prüfung gestern?“ fragte Sarah.
„Eigentlich recht gut. Sollte im Großen und Ganzen geklappt haben. Wie schauts bei dir aus? Machst du Entwicklungspsychologie?“
„Ja klar, in zwei Tagen. Oder glaubst du ich sitze nur wegen euch in der Bibliothek?“
„Na sicher, dachte ich eigentlich schon. Aber beim Thomas hast du sowieso keine Chance. Außer der heilige Vater erlaubt doch noch die Priester-Ehe.“
„Der Scherz wird auch langsam fad. Ich studiere zwar Theologie, hab aber nie vor gehabt Priester zu werden.“
„Also willst du doch etwas von Sarah? Na dann, entschuldige. Sarah kannte diese Spielereien zu genüge und ignorierte sie einfach.
Nachdem sie ausgetrunken hatten ohne dabei zu vergessen, noch ein wenig über das Studentenleben zu schimpfen, gingen sie zurück in den Lesesaal. Sarah vertiefte sich in die verschiedenen Stufen der Entwicklung eines Kindes, Thomas beschäftigte sich wieder mit der spätmittelalterlichen Scholastik. Und Erich betrachtete zuerst widerwillig das Statistikbuch um es aber dann doch aufzuschlagen.
Sarah las zum zehnten Mal den Absatz über „Selbstgesteuertes Lernen“. Sie blickte auf und sah Erich beim lesen zu. Jetzt lernt er wieder Statistik, hoffentlich schafft er die Prüfung. Ein dritter Antritt ist nie leicht. Aber wenn er sich nicht helfen lässt. Ich hätte mir schon längst Nachhilfe genommen. Thomas bemerkte Sarahs Blick. Warum wirft sie mir nie so einen sehnsüchtigen Blick zu? Immerhin schreib ich schon Diplomarbeit und hatte noch nie einen Nervenzusammenbruch. Zumindest noch keinen wegen einer Prüfung. Erich bekam von alledem nichts mit. Durch eine monotone Trendhypothese wird eine Rangfolge der Treatment-Mittelwerte vorgegeben. Was soll das schon wieder heißen? Verdammt, ich komm da einfach nicht mit. Aber ich muss! Ich muss! Sonst, nein das will ich mir gar nicht überlegen.
Erich schreibt auf einen Zettel: Mittagspause? und legt ihn zwischen die beiden anderen. Sarah stimmt mit einem Nicken zu. Thomas schaut erst skeptisch auf den Zettel, dann in die Runde und erklärt sich mit einem leisen "Ok" bereit.
„Na wie läuft es“, fragte Thomas.
„Gut beim dritten mal versteht man alles schon leichter“, antwortete Erich. Du willst ja nur, dass ich versage.
„Los ihr zwei lasst uns Essen, ich hab großen Hunger.“
Nach der Pause, setzten sich alle drei wieder zu ihren Büchern. Nur Erich wollte nicht so recht mit dem lernen beginnen. Schon der Gedanke daran, wieder und wieder sinnlose Formeln lesen zu müssen, ließ ihn erschaudern. Ich könnte mal wieder zur Galerie Bücher schauen gehen? Ja, ein paar Minuten werden mir schon nicht schaden.
In jeder Ecke des Lesesaals führte eine Treppe aus Metall nach oben. Man sah ihnen an, dass sie bereits öfters überstrichen wurden. Bei jedem Schritt knarrten und quietschten sie. Erich stand auf und stieg eine Wendeltreppe nach oben. Die Galerie bestand aus einem schmalen Weg rund um den Saal. Ihr Boden bestand aus zwei Meter langen und einen Meter breiten Gittereinsätzen, und man musste immer vorsichtig auftreten um kein lautes knarren zu hören. Was wenn es doch einmal passierte sofort mit bösen Blicken der Studenten darunter bestraft wurde.
Was haben wir hier für Bücher? Schottland – Demographische Daten. Im Vorwort jammert der Autor seitenweise darüber wie anstrengend und langwierig es war die Daten zu sammeln. Hätte der Mann lieber fünf Jahre mit der Veröffentlichung gewartet, dann hätte ein Klick im Internet gereicht. Ein weiteres, köstliches Buch „Wissenschaften Band I bis IV“. Das heißt wohl, man kann alle Wissenschaften in vier Werken darlegen, die Psychologie auf 100 Seiten. Das muss ich Sarah erzählen, dann braucht sie nur noch ein Buch lernen und ist fertige Psychologin. Ah was ist das?
Als Erich den zweiten Band der Wissenschaften zurückstellt sah er versteckt den Zipfel eines Buches. Es war mit dicken braunen Leder gebunden und mit Staub bedeckt. Erich wischte das Deckblatt mit seinem Hemd ab und betrachtete den Titel. Was ist das für ein Buch. So eine Schrift hab ich noch nie gesehen. Vielleicht weiß Thomas, was das für eine Sprache ist?
Sarah blickte von ihren Lernunterlagen auf und zu Erichs Platz. Kann er wieder nicht lernen? Sie blickte sich im Saal um und fand ihn auf der Galerie auf einem kleinen Hocker sitzen, mit einem großen braunen Buch in der Hand. Nach Statistik sieht das aber nicht aus. Aber egal, soll er sich ein wenig ablenken.
Die Schrift bestand aus geschwungenen Linien, Punkten und kleinen Rauten, wobei alle Zeichen am Kopf mit einer Linie verbunden schienen. Erich konnte nur die vom Bibliothekar händisch geschrieben Signatur lese: „Hg4f“. Erich stand auf um das Buch zum richtigen Platz zurückzubringen. Lies es. In Gedanken verloren blätterte er auf die erste Seite. Wunderschöne Zeichen. Heißt das Mensch? Nein, ich versteh doch nichts. Alle Menschen.... das kann nicht sein? Warum kann ich diese Sprache lesen? Was steht wohl in diesem Buch?
Erich fing an zu lesen und hörte bis am Abend nicht mehr auf. Sarah und Thomas machten am Nachmittag zwei Pausen, wollten Erich aber nicht stören, da er so gedankenverloren schien. Thomas musste um sechs Uhr gehen, verabschiedete sich von Sarah und blickte kurz zu Erich rauf. Der lernt sicher nicht Statistik. Aber, dass kann ja mir egal sein.
Fünfzehn Minuten vor dem Schließen, kam die Saalaufsicht und forderte alle Studenten auf fertig zu werden. Sarah packte ihre Sachen und blickte zu Erich hinauf. Bei so schlechtem Licht kann man doch gar nicht lesen? Sie packte auch seine Sachen ein und beschloss zu warten bis er herunterkam. Als Erich fünf Minuten später noch immer kein Anstalten machte, zu gehen, und sonst niemand im Saal war, rief Sarah: „Hey, komm schon ich will nicht ewig auf dich warten!“ Erich fuhr wie vom Blitz getroffen zusammen, sah sich kurz um und antwortete, dass er gleich kommen würde. Schlampe!
Am nächsten Tag trafen alle drei gleichzeitig in der Bibliothek ein.
„Erich du siehst aber ganz schön geschafft aus“, bemerkte Thomas.
„Ja, mir tut noch etwas der Rücken weh.“
„Was hast du eigentlich gestern die ganze Zeit gelesen“, wollte Sarah wissen. Sag ihnen nichts. Die Unwissenden werden es sowieso nicht verstehen.
„Ähm, ja ein Einführungswerk, da sind Formeln sehr einfach beschrieben.“
Die beiden merkten, dass es Erich unangenehm war, wahrscheinlich ging es bei dem Buch gar nicht um Statistik. Da sie ihn aber nicht unter Druck setzen wollten, gingen sie nicht weiter auf das Thema ein.
Erich setzte sich mit den anderen an den Tisch und begann in seinem Statistikbuch zu blättern. Die ersten zwei Stunden konnte er sich sehr gut konzentrieren. So gut wie schon lange nicht mehr. Aber nach und nach musste er immer öfter an die letzten Zeilen des Buchs von gestern denken. Mord ist eure Geschichte, Vernichtung eure Zukunft.
Erich blickte zu den beiden Anderen.
Und ihr Narren macht euch sorgen um Prüfungen.
Die Mittagspause machte Erich keinen Spaß. Schon die letzten zwanzig Minuten lernen, konnte er sich nicht mehr konzentrieren. Er wollte unbedingt das Buch lesen. Unbedingt.
Nach der Pause setze er sich an den Bibliothekstisch. Warum sollst du nicht in dem Buch weiter lesen? Nur zehn Minuten. Ja selbst eine Stunde wäre nicht schlimm. Dann kannst du dich viel besser konzentrieren. Erich schaut zu den beiden Anderen. Sie waren ins Lernen vertieft. Ja, warum eigentlich nicht? Er stand auf und ging zur Galerie hinauf, nahm das Buch aus seinem Versteck und begann zu lesen.
Gegen sechs Uhr sah Sarah bereits alle halben Stunden nach ob Erich noch immer dieses Buch las. Sie machte sich Sorgen. Thomas war bereits vor einer Stunde gegangen, aber sie hätte ihn sowieso nicht belästigen wollen, da er immer wenn sie fragend auf Erich deutete nur mit den Achseln zuckte und eine abfällige Handbewegung machte.
Um sieben Uhr reichte es Sarah. Erich sollte endlich aufhören dieses komische Buch zu lesen. Sie ging zu ihm rauf, wusste aber nicht, was sie sagen sollte.
„Hallo Erich, liest du noch immer? Wie sieht es aus, hast du Lust mit mir essen zu gehen?
... Wer stört? Was hat sie da gesagt. Als er hochblickte sah er ihr direkt in die Augen. Wunderschön. Sie ist wunderschön. Sie will mit mir essen gehen.
„Ja klar!“
Sie packten ihre Sachen zusammen und gingen in ein kleines asiatisches Restaurant direkt bei der Uni. Beim Lokal angekommen, musste Erich noch immer an die letzten Zeilen denken. Sarah hat schon den gesamten Weg versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, aber dann doch eingesehen, dass er keine Lust hatte.
„Wie geht es dir mit dem Lernen?“ fragte Erich.
Sarah lächelte erleichtert.
„Ja, es geht so. Du warst ja ziemlich in dein Buch vertieft.“
„Ja langsam wird es spannend, aber lass uns nicht vom Lernen reden.“
Daraufhin entspann sich ein langes Gespräch, das bis Mitternacht dauerte. Zum Abschluss gab Sarah Erich noch einen Kuss auf die Wange, der ihn im ersten Moment so überraschte, dass er leicht zurückschreckte. Peinlich berührt verabschiedeten sich beide und gingen nach Hause.
Am nächsten Morgen wollte Erich Sarah mit Pralinen überraschen. Er legte ihr eine kleine Schachtel auf den Platz, nahm sein Statistikbuch aus der Tasche und begann zu lernen. Als Sarah um 10 Uhr immer noch nicht gekommen war, begann sich Erich Sorgen zu machen. Er blickte zu Thomas, der aber anscheinend gar nicht nervös war das Sarah noch nicht auf ihren Platz saß. Erich ging aus dem Lesesaal um Sarah auf ihrem Handy anzurufen. Er ließ es zehnmal Leuten, sie ging aber nicht ran. Sie liebt dich nicht. Sie will dich nur vom Lesen abhalten. Schlampe.
Erich ging zurück in den Lesesaal und ging direkt auf die Galerie, nahm das Buch und begann zu lesen.
Ich las die Zukunft der Erde.
Ergötzte mich an der Dummheit ihrer Kinder.
Die Gewissheit größer werde.
Zeile um Zeile, immer geschwinder
Mord ist eure Geschichte, Vernichtung eure Zukunft
Sarah saß in der Straßenbahn und beobachtete Polizeiautos, die mit Sirene und Blaulicht an ihr vorbeirauschten. Aber nicht einmal das konnte sie heute in ihren Gefühlen stören. Gestern hatte sie Erich zum ersten Mal geküsst und heute hat sie die Prüfung mit einem „Sehr Gut“ bestanden. Als sie aus dem Wagen stieg, sah sie vor der Universität mindestens ein dutzend Polizeiautos stehen. Alles war abgesperrt. Sie sah eine Studienkollegin neben der Uni-Rampe stehen. „Hallo Laura, weißt du was da los ist?“
„Angeblich ist in der Bibliothek einer durchgedreht.“