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Das Dorf im Nebel
Kakuya lag am Fuße eines gewaltigen Bergmassivs. Rund um das Dorf wogten dunkle Nebelschwaden. Sie trugen das ursprüngliche Böse in sich, so sagte man. Möglicherweise war das zu einem großen Teil Aberglaube, tatsächlich aber kehrten von drei Kakuyanern, die das Dorf verließen, um Nahrung zu beschaffen, nur zwei wieder zurück. In wenigen Jahren würde nur noch eine Handvoll der Einwohner übrig geblieben sein und schließlich den Hungertod erleiden oder im Nebel zugrunde gehen.
„Du wirst in den Nebel hinausgehen …“ Ein Schatten von Besorgnis lag auf Vionas Gesicht. Swan saß neben ihr auf der kleinen Mauer, die das Haus der Ältesten umgab. Nachdenklich starrte er in die grauen Schwaden, welche sich am Horizont abzeichneten.
„Ja, es ist an der Zeit.“ Morgen war sein vierzehnter Geburtstag, das Reiferitual würde vollzogen werden. Hatte er auch keine Angst, so machte er sich doch Gedanken um seine Freundin. Seit frühster Kindheit verbrachten sie jede freie Minute miteinander und hatten längst beschlossen später einmal zu heiraten.
„Mach dir keine Sorgen. Ich werde zurückkehren. Versprochen.“ Viona stellte diese Antwort nicht zufrieden. Trotzig ließ sie ihre Füße gegen die Mauersteine klatschen. Die Realität sah anders aus. Beinahe jede Woche erlebte das Dorf aufs Neue eine Tragödie, wenn die Jäger ausblieben. Und jeder wusste, dass sie niemals wiederkehren würden. Fiona hatte auf diese Weise ihren Vater verloren.
„Wieso dringt der Nebel nicht ins Dorf ein?“, fragte Swan unvermittelt.
„Das weißt du nicht?“
Der Junge schüttelte den Kopf.
Viona deutete auf die Webstube: „Die Frauen spinnen goldene Fäden, die Älteste wirkt einen Spruch darüber und webt sie um das ganze Dorf. Sie ist ununterbrochen damit beschäftigt.“
„Du hast mir nie etwas gesagt“, er klang vorwurfsvoll.
„Wir sollen nicht darüber reden. Aber jetzt wo du …“, sie stockte.
„Wenn du dein Ritual vollzogen hast, möchte ich dir etwas geben.“
Swans Vater lächelte ihm aufmunternd zu. Gemeinsam betraten sie das Domizil der Ältesten. Unzählige Male war Swan an dem Gebäude vorbeigelaufen, hatte er mit Viona auf der Steinmauer vor dem hölzernen Eingangstor gesessen. Doch nie zuvor war es ihm gestattet gewesen, diese heilige Stätte zu betreten. Sie schritten durch einen geräumigen Saal, dessen Boden mit Tierfellen ausgelegt war. Zahlreiche Fackeln spendeten dem fensterlosen Raum Licht, ihr Ruß brannte Swan in den Augen. Auf einem Schemel saß die alte Frau. Sie hob bedächtig den Kopf, als sie die Besucher bemerkte, und nahm eine hölzerne Schale zur Hand, die mit Beeren und Getreide gefüllt war. Mit einem Stock begann sie den Inhalt zu zerstoßen. Swan und sein Vater warteten geduldig, bis sie ihre Arbeit beendet hatte. Sie hielt einen Moment inne, ihre müden Augen schienen geradewegs durch den Jungen hindurchzublicken.
„Swan.“ Sekunden verstrichen, bevor sie weiter sprach. Die Älteste hatte eine andere Vorstellung von Zeit. Wie oft hatte sie am Morgen die Sonne über den hässlichen, Unheil verkündenden Schwaden emporsteigen gesehen, wie oft am Abend darin versinken?
„Fühlst du dich bereit? Bereit dazu, die Last auf dich zu nehmen, die seit Generationen auf unserem Dorf ruht? Als Raja gibst du dein Leben hin, um es anderen zu ermöglichen. Ich zwinge dich nicht Raja zu werden. Du musst es selbst wollen.“
Swan wusste, dass er nicht wirklich eine Wahl hatte. Würde er sich dem Ritual verweigern, wäre er wie ein Aussätziger für die meisten Dorfbewohner. Sie würden hinter seinem Rücken tuscheln, es tunlichst vermeiden, seinen Weg zu kreuzen. Wenn Viona und sein Vater zu ihm halten sollten, würde man sie ebenfalls ausgrenzen. Ein unerträglicher Gedanke für Swan.
„Ich fühle mich bereit.“ Daraufhin kniete der Junge, wie es ihm erklärt worden war, vor der Ältesten nieder und bot ihr sein Gesicht dar. Die faltigen Hände der Frau tauchten in die Schüssel ein, sanft trug sie den Brei auf Swans Wangen und Stirn auf.
„Du bist jetzt Raja“, murmelte sie. Raja waren die Krieger des Dorfes, somit galt das Ritual als abgeschlossen. Die beiden Männer verbeugten sich und verließen das Haus der Ältesten.
Swan stand am Dorfausgang, sein Vater hatte ihn schweigend begleitet. Die beiden Männer, mit denen er auf die Jagd gehen würde, blickten mit düsteren Mienen in den Nebel. Ihm wurde mulmig zumute. Wenn er so recht überlegte, hatte er sich nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht, welches Grauen dort, in der brodelnden Finsternis, lauern mochte. Er versuchte krampfhaft seine Fantasie im Zaum zu halten und die schrecklichen Bilder, die im Begriff waren, sich in seinen Gedanken festzusetzen, auszublenden.
„Warte“, Viona kam auf ihn zugestürmt, sie hatte geglaubt, nicht mehr rechtzeitig zur Verabschiedung da zu sein.
„Das habe ich für dich gewoben. Die Älteste hat einen Zauber darauf gewirkt.“ Sie drückte ihm eine goldene Weste in die Hand. Dankbar, und erleichtert darüber, das Mädchen zu sehen, küsste Swan sie auf die Wange. In ihren Augen lag ein feuchter Glanz.
„Wir müssen aufbrechen.“ Der bärtige Jäger schulterte seine Axt. Auch sein Mitstreiter machte sich bereit. Swan zögerte. Doch schließlich trat er mit ihnen in die Dunkelheit ein und winkte seinem Vater und Viona ein letztes Mal zu. Er musste sie wiedersehen …
Swan konnte kaum die Silhouetten seiner Begleiter ausmachen und beeilte sich, mit ihnen Schritt zu halten. Verlöre er sie aus den Augen, würde er vermutlich nicht wieder ins Dorf zurückfinden. Vor einiger Zeit hatte er die Weste übergestreift. Sie verlieh ihm ein beruhigendes Gefühl. Trotzdem musste er vorsichtig sein. Der Bärtige, welcher Vigor hieß, hob die Hand, ein Zeichen, sich nicht zu bewegen. Vor ihnen raschelte etwas im Laub. Vigor holte mit der Axt aus und schlug zu. Schrilles Quieken zerschlug die Stille. Sie hatten Glück gehabt, ein junges Wildschwein war ihnen direkt vor die Füße gelaufen. Rawen, der andere Jäger lachte: „Das ging flott. Noch drei von der Größe und wir können umkehren.“
Ein wütendes Schnauben war zu hören. Vigor fluchte. Die Mutter des Frischlings kam aus dem Nebel geprescht und riss Swan von den Beinen. Der Junge rollte einen kleinen Abhang hinab und blieb bewusstlos liegen.
Er schlug die Augen auf. Swan ruhte auf einem weichen Moosbett, vor ihm ragte ein gewaltiger Baum in die Höhe. Der Nebel war hier nicht besonders dicht, daher bemerkte er die verkümmerten Äste und Blätter.
‚Hilf mir …’Der Junge sah sich um doch außer ihm selbst war niemand in der Nähe.
‚Rette mich …’
Ihm wurde klar, dass die Stimme direkt zu seinem Unterbewusstsein sprach.
‚Dich retten?’, dachte er.
‚Siehst du mich nicht?’
War es möglich, dass der Baum zu ihm sprach?
‚Was soll ich tun?’
‚Gib mir Wasser.’
Swan schöpfte mit den Händen Wasser aus einer nahen Quelle und schüttete es über den Wurzeln des Baumes aus. Immer wieder. Es war eine mühsame Aufgabe.
‚Danke.’Er konnte sehen, wie das Leben in die uralte Pflanze zurückkehrte. Wie von Zauberhand wuchsen neue Äste und sprossen junge Triebe.
‚Die Menschen haben mich vergessen’, seufzte der Baum.
Verwundert blickte sich Swan um. Der Nebel, der seit Jahrzehnten über dem Erdboden gelegen hatte, löste sich in Nichts auf.
‚Ich kann sie nicht schützen, wenn ich verkümmert bin. Jetzt werde ich wieder über sie wachen.’
‚Ich werde jetzt gehen’, dachte Swan. ‚Aber ich werde wiederkommen, um dich zu gießen.’Die Äste des Baumes beugten sich leicht. Es schien fast, als würde er nicken. Swan stellte erstaunt fest, dass er sich in unmittelbarer Nähe zum Dorf befand. Jetzt, wo der Nebel verschwunden war, konnte er deutlich die Holzpalisaden ausmachen, welche Kakuya umgaben. Er machte sich auf den Weg.
Swan wurde freudig empfangen. Sobald Viona ihn erblickte, fiel sie ihm in die Arme und schluchzte. Vigor und Rawen machten eine leicht verdrießliche Miene. Sie hatten sich einiges anhören müssen, als sie ohne ihn zurückgekehrt waren. Doch auch sie waren froh über seine Heimkehr und vor allem darüber, dass der Nebel das Dorf endgültig verlassen hatte. Kurz darauf wurde Swan von der Dorfältesten zur Berichterstattung einbestellt. Nachdem sie sich die ganze Geschichte angehört hatte, beschloss sie, dass der alte Baum nun regelmäßig gewässert werden sollte. Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht schloss sie die müden Augen, um sie nie wieder zu öffnen. In Kakuya kehrte Frieden ein.