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Das Dorf ohne Namen
Mein Name ist Lataya. Wie alt ich bin, das weiß ich nicht. Wieso sollte ich es denn auch wissen? Es ist doch nicht wichtig. Ich wurde geboren und lebe. Und wenn die Götter wollen, dass ich von dieser Welt scheide, werde ich das auch tun. Dann interessiert es auch niemanden mehr, wer ich war. Wie heute auch niemand etwas von dem anderen wissen will. Ich lebe in einem Dorf ohne Namen, das in einem Land ohne Namen liegt. Und wie die Welt heißt, das interessiert niemanden. Wer geht schon in die Welt? Hier bin ich sicher. Hier werde ich leben, arbeiten und sterben. Hier bleibe ich. Es gibt keinen Grund den Großen Wald zu durchqueren. Es gibt Geschichten, Legenden, Sagen. Sie alle erzählen von den Dingen, die hinter dem Großen Wald lauern. Es sind Gefahren. Es sind bösartige Monster, die dort ihr Unwesen treiben: Drachen, riesige Spinnen, Schlangen und andere, viel, viel schlimmere Dinge, die sich unsere Phantasie nicht vorzustellen vermag. Sie lauern im Dunkeln und springen uns an, wenn wir grade nicht darauf achten und es am wenigsten erwarten.
Niemand will sich diesen Gefahren aussetzen. Wieso sollte man auch? Wir sind doch hier sicher. Wir haben alles, was wir zum Leben brauchen. Wir sind zufrieden.
Es gibt eine Geschichte. Meine Mutter erzählte sie mir früher, wenn ich nicht brav sein wollte. Die Mütter tun das schon seit wir denken können. Diese Geschichte muss also sehr alt sein. Wer weiß, vielleicht ist es wirklich nur ein Schauermärchen und ist niemals wirklich passiert. Sie spielt zu der Zeit, als das Dorf noch einen Namen. Aber dieser ist schon lange verlorengegangen. Es muss also viele Jahre her sein, wenn sich nicht einmal die Alten an daran erinnern können. Die Geschichte erzählt von einem Mädchen. Manche sagen, es sei blond gewesen, andere sagen, es hatte schwarze Haare. Doch worin sich alle überein stimmen ist die Augenfarbe: Sie hatte grüne Augen. So grün wie der Heilige Stein, den die Priester in der Höhle unter dem großen Felsen aufbewahren. Und eines Tages sagte sie zu ihrer Mutter: "Ich will gehen und sehen, was hinter dem Großen Wald ist. Ich nehme Vaters Schwert. Er braucht es sowieso nicht mehr, er ist alt geworden." Die Mutter scholt das Mädchen und es erwähnte nie wieder etwas darüber. Doch es trug diesen Gedanken Jahre mit sich herum. Eines Tages fand es am Rande des Großen Waldes einen Wolfswelpen. Er hatte so grüne Augen wie das Mädchen: unergründlich tief. In ihnen brannte das gleiche Feuer. Das Mädchen zog den Wolf auf. Der Wolf war sein einziger Freund. Die Leute bekamen mit der Zeit das Mädchen und den Wolf immer weniger zu Gesicht. Des Nachts hörten sie das schaurige Heulen eines Wolfes, in das sich bald eine zweite Stimme gesellte. Dann kam die Zeit, als die Menschen die beiden nie mehr sahen. Es hieß, der Wolf habe das Mädchen in den Wald gelockt und es da zerrissen. Es ging auch das Gerücht um, dass das Kind selbst zu einem Wolf geworden war und die beiden nun zusammen die Wälder durchstreiften. Die Eltern des Kindes sahen es als verloren und bestatteten alle seine Sachen auf dem Friedhof. Für ihre Seele opferten sie den Göttern. Sie bekamen bald ein neues Kind und trauerten nicht mehr.
Manchmal, wenn der Mond hinter einer Wolke verschwindet und der Wind um die Ecken der Hütten zieht hört man das Heulen eines Wolfes. Und manchmal glaubt jemand auch das Lachen einer Frau zu hören. Niemals mehr als ein Erahnen, aber immer zu viel als dass man sagen könnte, es wäre nie da gewesen.
Das ist nicht mehr als ein Märchen, dazu da, Kinder zu erschrecken. Ich weiß es.
Als ich heute am Rande des Großen Waldes Beeren sammelte, da hörte ich ein leises Wimmern. Inmitten von Brombeersträuchern fand ich einen Wolfswelpen. Er war abgemagert und hatte viele blutige Striemen an seinem kleinen Körper. Ich brachte ihn zu der Medizinfrau des Dorfes. Jetzt sitzt er hier bei mir. Zufrieden und satt ist er. Aus seinen großen grünen Augen sieht er mich an. Mutter sagte vorhin "Man könnte meinen, er wäre dein eigenes Blut. Er hat die gleichen Augen wie du.".