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Das Eis ruft
Das Eis ruft
„Keine Angst“, sagte Rainer zu Isabelle und bot ihr seine Hand zum Halt.
„Ich habe keine“, zischte sie, wackelte bedrohlich. Sie bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten.
„Du bist noch nie Schlittschuh gelaufen?“ Rainer konnte es nicht glauben.
„Nein, nie“, antwortete Isabelle kläglich. „Meine Eltern haben es mir nicht erlaubt.“
„Warum nicht?“ Rainer konnte es sich nur schwer vorstellen, im Winter nicht Eis zu laufen. Sobald es fror, juckte es ihn unter den Fußsohlen. Er konnte es kaum erwarten. Jeden Tag maß er die Stärke. Zehn Zentimeter mussten es mindestens sein.
„Mein Bruder ist als kleiner Junge eingebrochen. Er ist unter das Eis gerutscht und musste wiederbelebt werden.“
„Das ist ja furchtbar“, sagte Rainer. „Dann hast du doch Angst?“, neckte er sie, ein wenig hilflos, weil ihm nichts anderes zu sagen einfiel. Er mochte Isabelle. War ein wenig verschossen in sie. Das mit ihrem Bruder hatte er nicht gewusst.
Isabelle sah hinunter. Es hatte bislang noch nicht geschneit. Unter ihr war der See zu einer Schwärze gefroren.
„Er hat gesagt, das Eis habe zu ihm gesprochen.“
Rainer sah in Isabelles Gesicht. Er sah ihre Anspannung, die diese Erinnerung in ihr hervorgerufen hatte.
„Das Eis ist sicher. Glaube mir.“
Er nahm ihre Hand und zog sie an sich. Isabelle ließ es geschehen.
Er spürte ihr leichtes Sträuben, als er sie küsste.
Er war in seinem Element. Er liebte den Frost - ohne den Schnee. Alles erschien so klar. Sein Atem gefror und kleine Eiskristalle bildeten sich in seinen Wimpern. Isabelle sah sie deutlich.
Sie schob ihn weg.
„Du wolltest mir beibringen, wie man Schlittschuh läuft. Nicht wie man küsst“, sagte sie etwas außer Atem. Unbeholfen versuchte sie ihre ersten Schritte. Die Kufen ihrer Schlittschuhe scharrten über das Eis.
Rainer lachte: „Du gleitest nicht. Du stocherst. Sieh her!“
Er beugte seinen Oberkörper leicht nach vorne und glitt wie selbstverständlich über die glatte Fläche. Entfernte sich lautlos bis zur Mitte des Sees. Dort drehte er eine elegante Kurve, blieb stehen, winkte ihr zu, es ihr gleich zu tun.
Isabelle seufzte. Langsam bewegte sie ihr rechtes Bein. Dann das Linke. Sie hörte, wie das Eis ganz dumpf jede Bewegung als Echo wiedergab. Es war, als ob in der Schwärze unter ihr, etwas lauerte.
„Ich traue mich nicht, Rainer“, rief sie ihm zu. Sah, wie Rainer mit den Schultern zuckte. Doch anstatt zu ihr zurückzukehren, glitt er weiter über das Eis.
„Rainer! Komm zurück!“ Doch er hörte sie nicht.
Sie kniff die Augen zusammen, um ihn wenigstens mit ihren Blicken verfolgen zu können. Die Sonne blendete sie.
Martin fliegt. Schwebt über den Wolken. Die Sonne sticht hart in seinen Augen. Dann und wann reißen die weißen Berge unter ihm auf und er sieht das Wasser unter dem Eis leuchten.
Er will eintauchen.
Isabelle wurde kalt. Daher stolperte sie zum Ufer zurück. Ihre Ungeschicklichkeit brachte sie zu Fall. Sie ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, knallte rückwärts der Länge nach hin. Hart schlug ihr Kopf auf dem Eis auf. Farben explodierten hinter ihren Augenlidern. Dunkles Blut vermischte sich mit der Schwärze des Eises.
Plötzlich spürt Martin, er ist nicht allein. Ein Mädchen steht neben ihm. Sie ist ihm seltsam vertraut.
„Isabelle?“
Er kann nicht sprechen. Denkt den Namen trotzdem gesagt zu haben.
Das Mädchen sieht ihn an. Ihre Haare sind ganz filzig und am Hinterkopf mit Blut verkrustet.
„Martin?“ fragt Isabelle.
Isabelle sieht sich um. Die Wolken türmen sich unter ihr auf. Sie werden immer dunkler.
Es wird schneien`, denkt sie und freut sich.
Dicke Flocken fielen dicht an dicht und bedeckten die Schwärze des Eises. Fast hätte Rainer sich im Schneegestöber verirrt. Suchend hielt er nach Isabelle Ausschau. Die Landschaft hatte sich binnen einer halben Stunde verändert. Da er Isabelle nicht sah, lag es für ihn auf der Hand, dass sie zurück zur Hütte gegangen war.
Tom und Anne saßen in der Hütte vor dem Kamin.
„Wollen wir reden?“ fragte Tom Anne. Sie nickte, schwieg aber beharrlich weiter. Tat so, als sei sie schrecklich gelangweilt. Sie wollte nicht noch ein Mal ihre Fassung verlieren.
„Ich wollte dich gestern nicht überrumpeln“, sprach Tom in das Schweigen hinein.
„Glaube mir, ich mag dich wirklich.“ Er fuhr mit der Hand über die frische Kratzspur in seinem Gesicht, grinste frech.
„Ich nehme es dir auch nicht übel, dass du mich hinterher verdroschen hast. Im Gegenteil. Es ist echt geil gewesen.“
Anne sah Tom in die Augen. Seine Haltung imponierte ihr irgendwie. Außerdem hatte sie auch Lust, wieder mit ihm zu schlafen.
„Ist schon in Ordnung. Ich bin nicht mehr sauer. Ich habe nur ein bisschen empfindlich darauf reagiert, wie du mit meiner Jungfräulichkeit umgegangen bist.“
Tom kratzte sich verlegen am Kopf.
„Na ja, damit hatte ich nicht gerechnet. Und als ich gesehen habe, es ist dein erstes Mal, habe ich Angst bekommen.“
„Wieso denn das?“ fragte Anne. Nun war sie doch ein wenig neugierig.
„Jungfrauen sind immer so anhänglich.“ Kaum hatte er es ausgesprochen, wusste er wie dumm es sich anhören musste.
„Du denkst also, ich sei ein Mädchen, dass sich für den Traumprinzen aufsparen will“, sagte sie.
„So ähnlich“, druckste er.
„Bist du enttäuscht, wenn ich dir sage, dass du eigentlich für mich nur der Kerl bist, mit dem ich schlafen möchte. “
„Du gehörst noch nicht hierher, Isabelle“, sagt Martin. Er weiß, dass er nicht sprechen kann. Dennoch redet er mit seiner Schwester, spricht Worte, die ihm entfallen sind, seit er in das Eis eingebrochen ist.
„Ich weiß“, sagt Isabelle. Eigentlich liege ich am Ufer eines Sees. Es ist ziemlich kalt. Der Schnee hat mich zugedeckt. Rainer hat mich nicht gesehen. Ich werde wohl erfrieren.“
„Liebst du Rainer?“
Isabelle sieht ihren Bruder an. Schatten liegen unter seinen Augen. Sein Gesicht ist bleich. Es wirkt leblos, schaut aus wie damals, als man ihn aus dem See gezogen hat.
„Ich weiß nicht,“ antwortet sie. „Einerseits möchte ich dass er mich küsst, aber...wenn ich in seine Lippen auf den meinen spüre, denke ich, dass es nicht richtig ist.“
Isabelle ballt ihre Fäuste. „Du fehlst mir so sehr.“
Als Rainer die Hütte erreichte, hatte es aufgehört zu schneien. Es dunkelte bereits.
Tom und Anne sahen ihn erstaunt an, weil er alleine gekommen war.
„Wo ist Isabelle?“ fragte Anne ihn. Dachte, die zwei hätten sich gestritten.
„Ich denke, sie ist hier“, antwortete Rainer. Vollkommen arglos.
Die Hütte gehörte seinen Eltern. Sein Vater angelte im Sommer wie im Winter hier.
„Nein, ist sie nicht.“ Anne war besorgt. Sie kannte ihre Freundin gut genug. Sie würde niemals ohne Grund wegbleiben.
„Wo hast du sie das letzte Mal gesehen?“
„Na, auf dem Eis. Sie hatte keine Lust, Schlittschuh zu laufen.“
„Auf dem See?“, Annes Stimme kippte. „Du hast sie alleine gelassen?“
„Ja und?“ Rainer fühlte sich angeklagt von Annes Stimme.
„Du bist ein Idiot.“ zischte Anne.
„Hey,hey, Anne.“, mischte sich Tom ein. „Ich weiß auch nicht, warum du hier so einen Staub machst.“
„Sie hat einfach Angst vor dem Eis.“
„Ist doch irre“, warf Tom ein.
„Nein, ist es nicht“, gab Rainer zu. „Sie hat mir von ihrem Bruder erzählt.“
„Was denn? Dass er ein Zombie ist?“, fragte Anne.
„Nein, das nicht. Nur, dass er wiederbelebt werden musste.“
„Und wenn schon“, sagte Tom. „Das ist noch lange kein Grund, auszuflippen.“
„Und wenn ihr, etwas passiert ist?“, flehte Anne.
„Wir gehen noch ein Mal zum See und suchen nach ihr.“ schlug Rainer vor.
„Also, ich finde es unheimlich“, sagte Anne. Wie kann ein Mensch einfach so verschwinden?“
Der Mond warf ein bläuliches Licht über die Schneelandschaft. Der See lag dar, als sei er von einem Leichentuch bedeckt.
„Vielleicht, will Isabelle uns verschaukeln?“, sagte Rainer.
„Es sind keine Spuren, außer den meinen von vorhin, zu sehen gewesen. Sie muss gegangen sein, als es noch schneite.“
„Oder es ist ihr vorher etwas passiert.“, warf Anne ein. „Warum sollte sie denn nicht zur Hütte gegangen sein?“
„Was weiß ich?“ sagte Rainer schlecht gelaunt. Er wollte nicht zugeben, dass er sich nun doch zunehmend sorgte.
„Ich bin doch nicht ihr Kindermädchen“, setzte er hinzu.
„Es nützt nichts, wenn wir uns streiten“, sagte Tom. „Fällt dir irgendetwas auf, Rainer? Versuch dich zu erinnern. Hat sie irgendetwas zu dir gesagt?"
„Sie war komisch drauf“, sagte Rainer mürrisch. „Sprach davon, dass das Eis ihren Bruder gerufen hatte.“
Der Nachhall seiner Worte ließ alle drei erschauern. Oder war es ein Windhauch?
„Siehst du das Wasser leuchten?“ Martin schwebt mit Isabelle durch die Wolken.
Sie schweben auf die Wasseroberfläche zu.
„Warum leuchtet es?“
„Es sind die untoten Seelen.“
Isabelle erschaudert. „Untote Seelen?“
Ja, sind sie nicht wunderschön?“
„Habt Ihr das gehört?“ Anne krallte sich an Tom fest. Es hörte sich an, wie ein Knacken von Holz, nur viel dumpfer.
„Isabelle hatte Recht, das Eis ruft.“
So einen Quatsch höre ich mir nicht mehr an“, fluchte Rainer. „Das Eis hat geknackt, mehr nicht. Das ist normal. Es dehnt sich aus. Das ist Physik und nicht mystisch.“
„Und was ist das?“ Annes Stimme wurde schrill. Die Hysterie ihrer Worte wirkte ansteckend auf die Jungen. Sie standen steif vor Angst auf dem See, aus dessen Mitte ein eigentümliches Leuchten hervorging. Unter ihnen knirschte es fürchterlich.
„Ich will hier weg!“ schrie Anne. Auch Tom und Rainer machten Anstalten vom Eis zum Ufer hin zu laufen.
Jeder Schritt von ihnen hallte dumpf wieder. Doch anstatt dass das Ufer immer näher kam, entfernte es sich. Das Eis unter ihnen gab nach und eine grünliche Flamme leckte an ihnen empor. Es war, als lebte sie, sie stöhnte greulich, wie ein Mensch der Folterqualen erlitt. Die drei brachen ein und die Flamme zog sie unter das Eis. Rainer versuchte noch im Überlebenskampf an die Oberfläche zu gelangen. Verzweifelt versuchten seine Hände das Eis zu durchbrechen. Er wusste: Es war sinnlos. Zehn Zentimeter waren sicher.
Der Mond wirft ein bläuliches Licht über die Schneelandschaft. Der See liegt dar, als sei er von einem Leichentuch bedeckt. Isabelle fliegt mit Martin hinauf zu den Sternen.
„Deine Freunde sind tot", sagt er
„Und ich?", fragt Isabelle. Sie spürt ihren Körper nicht mehr.
„Du bist bei mir".