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Das Fenster
Das Fenster
Das Fenster war groß und sauber. Vollkommen streifenfrei, selbst wenn die Sonne ihre Strahlen zur Mittagszeit durch das Glas warf.
Seit vierzehn Jahren kam jeden Dienstag im Monat; so gegen 9.00 Uhr morgens; jemand von der Reinigungsfirma zum Fensterputzen. Seit vierzehn Jahren saß die alte Frau nun jede Minute ihrer Zeit an ihrem großen, streifenfreien Fenster. Blieb dort sitzen, bis weit in die Nacht hinein. Starrte durch die gläserne Reinheit in ein ungetrübtes Seherlebnis; in eine Welt, die ihr zwar fremd, aber deswegen nicht uninteressant geworden war.
Zu sehen gab es nämlich viel. In erster Linie Menschen. Gut, eigentlich nur Menschen. Die Frau selbst war alt geworden und vereinsamt, aber dennoch immer unter Menschen. Manche kannte sie sogar noch von früher, als Erwin noch lebte.
Manfred und Waltraut aus dem Haus nebenan, zum Beispiel. Doch das war jetzt auch Vergangenheit. Denn im Zuge der Anbindung - an wen oder was wurde nie wirklich geklärt - war die Bismarckstrasse ausgebaut worden. Vierspurig geworden, nannte sie sich jetzt großspurig Bundesstraße. Das wenige Grün, das vorher noch rechts und links der Straße gestanden hatte, war der Verbreiterung zum Opfer gefallen. Modernisierung nannte man so etwas. Um die Anwohner, viele ältere Menschen, hatte sich niemand geschert. Der Verkehr hatte beträchtlich zugenommen. Als Erwin noch da war, hatte sie sich nie um die Anzahl der Fahrzeuge, Tag für Tag, gekümmert. Dann aber war ihre Einsamkeit so groß geworden, daß sie anfing die PKW’s nach Farbe aufzulisten. Dabei war ihr aufgefallen, das es täglich mehr wurden. Die lange versprochene Fußgängerampel aber, die kam nicht. Na gut, aber wenn man aufmerksam genug war, gelangte man noch von einer auf die andere Straßenseite. Wie das der Manfred in seinem besoffenen Koppe immer wieder vollbrachte, war allen ein Rätsel. Aber bewundernswert.
Das bisschen Lärm und auch ein wenig Feinstaub - ein sehr schönes kleines Wort für die Abgase so großer Lastwagen - hätte noch niemandem geschadet, hatten die von der Stadtverwaltung gesagt. Da war es dann auch unerheblich, dass die bis vor wenigen Wochen selber nichts von dem Feinstaub gewusst hatten. Obwohl der Erwin damals schon gesagt hatte, dass in dem Benzin etwas Krank machendes drin wäre.
Auf der anderen Seite gab es jetzt natürlich jede Menge zu sehen. Nicht dass es vorher langweilig gewesen wäre, aber jetzt gab es noch mehr von allem. Es war jetzt viel mehr Bewegung da. Wie nannten die jungen Leute das? Action?!
Erwin hatte es eines Tages nicht über die Straße geschafft. Das war vor 14 Jahren gewesen. Seitdem war sie Witwe. Seitdem sass sie auch täglich im Fenster. Sie hatte noch immer Hoffnung, dass sich die Ärzte geirrt hatten und der Erwin winkend auf das Haus zukäme. Jetzt bald musste es so weit sein.
Er war schließlich schon so lange weg.
Daß der Fensterputzer seit einigen Wochen nicht mehr erschienen war, hatte sie nur vage zur Kenntnis genommen. Dafür mit erregtem Entsetzen beobachtet, wie ein Autofahrer einen Anderen niederschoß, weil dieser den letzten Parkplatz vor dem Bäcker ergattert hatte.
Gut, es war auch unpersönlicher geworden. Aber wissenschaftliche Studien besagten ja, dass aus eben diesem Grund die Menschen in die Anonymität der Großstädte zögen.
Wenn die Forscher wohl gefragt hatten?
Vielleicht das junge Paar, das sich früh morgens ungeniert in einer Hauseinfahrt auf der Motorhaube eines alten Passats liebte. Lediglich beobachtet von der alten Frau. Und ein paar Jugendlichen. Die hatten vorher einen Spaziergänger halb tot getreten, weil dessen Turnschuhe einem anderen besser passen würden.
Irgend jemand war allerdings in ihrer Wohnung gewesen. Sie hatte es wohl gehört, auch wenn sie versucht hatten leise zu sein. Den Kaffee, den sie für den Fensterputzer gekocht hatte, wollten die aber auch nicht trinken; denn auf ihm schwammen bereits Schimmelpilzkolonien. Aber auch das verkam zur Nebensache, genauso wie die Tatsache, dass sie sich seit Tagen nicht mehr gewaschen hatte.
Und trotzdem! Vor dem Ausbau hatte man gehört, was im Nachbarhaus vor sich ging. Wenn der Manfred nach Hause getorkelt kam und der Waltraut dann den Arsch versohlte, weil sie sich nicht vögeln lassen wollte. Solche Sachen konnte man früher hören.
Daß ihr Mittagessen auf der Fensterbank bereits eine unappetitliche Konsistenz angenommen hatte, war ihr gar nicht bewusst. Dafür wurde sie zu sehr abgelenkt, von vorbeirasenden LKW’s; deren Fahrer onanierend hinter dem Lenkrad saßen.
Auch die unbequeme Haltung, die sie eingenommen hatte, war ihr vollkommen gleichgültig. Alles war so entsetzlich schön und wert, ohne Unterlass beobachtet zu werden.
So wie der Krankenwagen, der eines Nachmittags kam, um die Waltraut noch für einige Stunden ins Kreiskrankenhaus und von dort auf den Friedhof zu bringen. Dicht gefolgt von der Polizei, die gekommen war, den Manfred abzuholen.
An jenem Morgen hatte Manfred nämlich - erstaunlich nüchtern übrigens - bemerkt, dass es das erste Mal sei, dass er die alte Frau schlafend im Fenster sehen würde. Waltrauts vorsichtiger Einwand, dass ihr vielleicht etwas zugestoßen sein könne, hatte dieses Schicksal heraufbeschworen. Denn Manfred hatte sich einige Stunden, reichlich Biere und etliche Schnäpse später Waltrauts Widerworte erinnert und zugeschlagen.
Die alte Frau sass weiter da, beobachtete, genoss, entsetzte sich, vergaß ihre Umwelt, vergaß sich selbst in ihren Erinnerungen, wurde von den wenigen, die sie noch kannten, vergessen.
Bis schließlich irgend jemand - unter großem Gestöhne und Gejammer, über die zusätzliche Bürde - nachschauen ging, warum die Tür schon seit Wochen eingetreten war. Und wo der schreckliche Gestank seine Ursache hatte.
Und dann war nach 14 Jahren das Fenster plötzlich leer.