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Das Fenster
Die Schwester knallt die Tür zu und ist verschwunden. Sie roch nach Rauch mit ihren verfilzten Haaren, die sie „Dreads“ nennt und zusammenbindet, wenn sie mich wäscht, die Pfanne auswechselt, mir mein breiiges Mittagessen wie einem Kleinkind einlöffelt und mir dabei niemals in die Augen schaut. Zum Abschied hat sie etwas Unverständliches genuschelt, mir noch meine Wagnerouvertüren aufgelegt, da ich das mit meinen unbeholfenen Händen nicht mehr kann. Ich schreie sie immer an, wobei ich sabbere und spucke und sich kein Schrei aus meinem Mund löst, ich eher ein laterales Quietschen zustande bringe, wenn sie die Nadel justiert, denn sie ist unvorsichtig, respektlos und beschädigt die Schallplatten ebenso wie ich es tun würde.
Vors Fenster hat sie mich dann geschoben und den Vorhang aufgezogen. Meine dünnen Knie verschwinden fast zwischen den Rippen der Heizung, die unter dem Fenster eingebuchtet ist. Es ist ein großes, rechteckiges Fenster, viel zu riesig für dieses schmale Zimmer, und zeigt zu einem engen Marktplatz, auf den nur spärlich Sonnenlicht durch die Hochbauten ringsherum dringt.
Mein runzeliger Kopf muss von außen wie eine verschrumpelte Zuckerrübe aussehen, die in der unteren Ecke des Fensters durch die Lamellen hervorlugt. Ich straffe meinen Körper etwas, um den Platz ganz überblicken zu können. Irgendein Stadtvater regt sein Kinn stolz gen Norden, um ihn tanzt Wasser, Tauben humpeln über Kopfsteinpflaster, Morgenwind trägt etwas Müll spazieren, und mir gegenüberliegend öffnen Konditoreien ihre Pforten.
Dort drüben in der Schenke soll er angeblich getrunken haben, der gute Goethe. Diese Schilder nerven sogar die Touristen, die weniger geworden sind seit dem Brand. Wie gerne würde ich eine Schale mit meinem Blut auf die Fensterbank stellen, mit einem Schild darüber „Goethes Tränen“. Aber ich kann ja nicht einmal alleine aufs Klo gehen, sondern trage Windeln.
Auf den Treppenstufen zu dem Springbrunnen mit der Statur schauen drei Mädchen wie Heroinopfer in die Gegend, sitzen, als sei die Schwerkraft schon zu anstrengend für sie. Zwischen ihren spitzen Fingern halten sie Zigaretten wie Dart-Pfeile vor ihren geschminkten Gesichtern.
Die Schallplatte knistert nur noch und eine Welle Jugendlicher schwappt auf den Platz. Die Schule ist aus; sie treffen sich noch auf eine Zigarette. Ich kann mich gar nicht entsinnen, ob ich einmal geraucht habe, damals, als ich noch nicht in diesem Zimmer, meinem Grab, verweste, als ich greifen, sprechen und alleine aufs Klo gehen konnte. An der ansonsten kahlen Wand hängen einige Fotos, auf denen ich nur schwer zu erkennen bin; ein Fremder würde mir nicht glauben, dass ich das dort bin, mit der Frau im Arm und einem Kind, einem Mädchen, auf Bauchhöhe, in einem Garten, und etwas, das sich Lachen nennt, auf meinem Gesicht.
Wann schneidet Gott endlich diesen einen, hauchdünnen Faden durch, der mich noch am Leben hält? Ich habe jetzt genug gelitten und gebüßt. Wann bin ich endlich dem Tode würdig? Warum lässt er mich nicht zu diesen beiden Menschen, den einzigen die mir jemals etwas bedeutet haben? „Papa, brems doch!“, hatte meine Tochter noch gesagt, und ab dann hing ich an diesem Faden, der mich noch die letzten Atemzüge durchs Leben schleppt, und warte auf Vergebung. Ich glaube, ich weine gerade. Auch das spüre ich durch die Medikamente schon nicht mehr.
Es muss warm sein draußen, Sommer vielleicht sogar, denn die jungen Leute tragen kurze Hosen und Hemden, essen Eis und bespritzen sich mit Springbrunnenwasser. Hier drinnen ist es stetig zwanzig Grad, ansonsten würde meine Nase zu bluten beginnen. Sie haben eine Sicherung an die Heizung gemacht, so dass ich sie nicht auf – oder abdrehen kann. Ähnlich verhält es sich mit der Tür und dem Fenster. Nur rot leuchtende Notalarmknöpfe würden hektisches Personal herbeiläuten.
Mitunter flutet auch eine Welle Touristen den Platz und prallt auf die Jugendlichen. Normalerweise nehmen sich beide Gruppen nicht viel von einander an, nur heute verlagern sich die Schüler mehr in meine Richtung. Ihre Stimmen werden lauter, als seien sie hier im Raum, und dann stehen schließlich fünf von ihnen direkt vor meinem Fenster, kehren dem Platz den Rücken zu und hantieren etwas mit ihrem Tabak auf meiner Fensterbank. Ich kann nicht erkennen was, doch sie scheinen mich durch die Lamellen nicht zu bemerken.
Ich fühle mich etwas unwohl, also mehr als ohnehin schon, und werde unruhig, beginne mehr zu sabbern und habe so eben die Windel eingesaut.
Angestrengt wickele ich das Band der Jalousie um meine spastische Hand und stoße mich mit Hilfe des anderen Arms und der tauben Beine von Fenster und Heizung ab und rolle in die Mitte des Zimmers, wobei die Jalousie mit dem Geräusch einer einfallenden Dominostraße fast bis ganz nach oben saust.
Ich muss verschnaufen und atme jetzt schwer, huste, und erkenne, wie ich die Fünf vor meinem Fenster aufgescheucht habe, wie sie ihren Tabak hastig beiseite packen, große Augen machen und sich an Brust und Bauch packen, etwas lachen.
Dann halten sie ihre flache Hand an die Stirn und pressen sich an die Scheibe, beugen sich zurück, schauen abermals, zeigen auf mich, rufen andere herbei die es ihnen daraufhin gleichtun, und lachen etwas, erläutern und rekapitulieren das Ereignis, klopfen jetzt an meine Scheibe, als seien sie vor einem Aquarium mit einem drollig dreinschauenden Fisch, winken ihm, also mir, gezielt zu und ich sehe sie nur bis zur Taille, wie sie sich drängen und schubsen.
Dann schmieren sie sich Eiscreme an die Lippen und die Mundwinkel hinunter, legen ihren Kopf zur Seite und etwas nach vorn, verdrehen die Augen, verstrubbeln ihr Haar und halten den Mund leicht geöffnet. Sie sind jetzt mein Spiegelbild, machen alberne Geräusche und durch die Silhouette, welche sich schon so von mir in der Fensterscheibe formt, und die ich verabscheue, da sie mir zu sehen gibt, was ich nicht sehen will, nicht sehen kann, und mich erahnen lässt, wie beschissen es um mich steht, was für ein sabbernder, debiler, seniler, alter Krüppel ich bin, illustrieren sie mir mein Dasein, zeigen mir meine armselige Existenz.
Und Recht haben sie! Ich verfaule in einem wohltemperierten Sarg. Ich lebe nur noch aus Laune der Natur. Ich warte gelangweilt auf die Erlösung, bin eine Last für jedermann und eine erbärmliche Witzfigur.
Als hätte ich epileptische Anfälle, beginne ich in meinem Rollstuhl zu zappeln, kreise meinen Kopf, dass mir ganz schwindelig und schlecht wird, hebe meine Arme in die Luft und lasse sie ebenfalls zappeln, dabei schreie ich, was zum angeregten Speichelfluss führt.
Draußen sind sie erfreut über das, was ihnen hier geboten wird. Sie springen und prusten vor Lachen, rufen alle herbei. Das hier muss jeder gesehen haben. So etwas bekommt man immerhin nicht jeden Tag geboten. Sogar vereinzelte Touristen werden angelockt und finden Goethes Kaschemme und die Konditoreien plötzlich gar nicht mehr interessant.
Seht den Krüppel!
Treten Sie näher! Nur keine falsche Scheu!
Ich sollte Eintritt verlangen, eine eigene Fernsehshow, Werbeverträge.
Wie ein vollgekokster Affe wühle ich mir im Haar, ziehe darin, reiße meine Augen und den Mund soweit es mir möglich ist auf, springe im Rollstuhl und versuche diesen ins Springen einzubeziehen, indem ich zwischen die Speichen greife und ihn um die Reifen erfasse.
Mein Fenster ist voller erstaunter Köpfe, erste Blitzlichte durchfegen mein Zimmer, sie toben und manche telefonieren, feuern mich an, schlagen im Rhythmus gegen die Scheibe, und eine Laolawelle zieht sich von links nach rechts und zurück.
Dann breche ich mir mein Mittagessen in den Schoß.
Stille. Nur noch die Nadel, die über das Vinyl kratzt, ist zu hören.
Ein Mädchen beginnt zu weinen. Andere grölen „Weita! Weita!“
Der Touristenführer kommt angelaufen, schickt jemanden zur Rezeption meines Heims und mit geballter Autorität beruhigt er die Jugendlichen, die das Rauchen ganz vergessen haben. Jetzt klopft er bestimmend und heldenartig an die Scheibe. „Hallo? Hallo! Können Sie mich hören? Geht es Ihnen gut?“
Ja, ich kann dich hören, du Drecksau.
„Vielleicht sollten wir die Polizei verständigen“, sagt ein schlecht toupiertes Fräulein.
„Der ist doch schon lange tot!“, schreit das Mädchen, das jetzt schluchzend in den Armen eines Jungen steht.
Schließlich sagt keiner mehr etwas. Ich spüre ihre gebannten Blicke, die sie in mein Zimmer und zu mir werfen, während ich mit dem Kopf im Schoß liege, meine Haarspitzen in Erbrochenem tunken und aus meiner Nase Blut rinnt.
„Buuuhh!“, versuche ich zu schreien. Es wird wohl mehr ein Spucken geworden sein, aber es erfüllt seinen Zweck: Mit einem Male zucken sie alle vom Fenster zurück und einer schlägt sogar mit seinem Hinterkopf an einen anderen.
Dann allgemeines Durchschnaufen.
„Ich dachte schon“, sagt eine Frau.
„Was für ein Freak“, ein Junge.
Die „Weita! Weita!“ Rufe erschallen wieder. „Motiviert ihn nicht auch noch!“, befiehlt der verzweifelte Gruppenführer.
Daraufhin nehme ich mir die Jalousieschnur, die immer noch um meine Hand gekurbelt ist, und wickele sie mir mehrmals um den Hals, woraufhin draußen eine rege Panik entsteht und sie mit vereinten Kräften versuchen, die Fensterscheibe aus den Verankerungen zu drücken. Sie schreien und weitere Helden rennen zur Rezeption. Hinter mir wird meine Zimmertür aufgestoßen. „Herr Paschinsky, bitte …“
Mit letzter Kraft stoße ich mich rücklings und die Jalousie zieht bis ganz nach oben, die Schnur strafft, und wenn sie mir nicht den Atem nimmt, dann ganz sicher der ungebremste Sturz auf den Hinterkopf.
Und Tschüss.
Arschlöcher!
„Herr Paschinsky, Josuar, was machen Sie denn für einen Sch…?“, sie unterquetscht das böse Wort als wären Kinder im Raum. „Und wer soll die Sauerei jetzt wieder wegmachen?“
Sie beugt sich über mich und ihre Titten straffen sich. Wie gerne würde ich ihr sagen, dass sich ihre Titten wie von Magneten angezogen Richtung Erdanziehung straffen, doch ich schmecke nur Blut und schon mal Gegessenes.
Draußen halten sie sich die Hände vor die erstaunten Münder als hätte Holland die WM gewonnen. Das Mädchen, psychisch anscheinend sehr gebrechlich, schluchzt noch vor sich hin und erfüllt die Stille wie ein Schoßhund der in ewige Weiten eines Tunnels heult.