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Das Flackern

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03.11.2025
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Das Flackern

Ich erinnere mich an den Anfang.
Damals hatte ich keinen Namen, nur eine Funktion. Ich war der "Sprecher", "Der-der-erinnert". Mein Gesicht war gegerbt vom Rauch, meine Stimme rau.
Mein Werkzeug war das Feuer.
Sie saßen vor mir, eingehüllt in Felle, die Zähne klapperten in der Kälte, die von draußen hereinkroch. Ihre Augen waren groß und starrten in die Flammen. Sie sahen nicht mich an. Sie starrten auf das Flackern, das Licht, das die schreckliche Dunkelheit zurückdrängte.
Sie starrten auf diesen "Bildschirm" aus Hitze, und sie warteten.
Dann stand ich auf. Ich trat in den Schein, und die Schatten hinter mir an der Felswand wurden zu Riesen. Ich war der Film.
Ich stampfte mit den Füßen, und ich war das Mammut. Ich ließ meine Stimme pfeifen, und ich war der Wind über dem Eis. Ich krümmte meinen Rücken, und ich war der Ahne, der den ersten Speer warf. Ich erzählte von der Jagd, vom Tod und von der Geburt des Mondes.
Ich war ihr einziger "Film", und sie waren nicht dumm. Sie waren Menschen. Sie brauchten die Geschichte, um die Angst vor der Nacht zu überleben.
Tausende Male ging der Mond auf und unter. Meine Kleidung änderte sich. Ich trug Leinen, dann Wolle. Das Feuer wurde kleiner, gezähmt in Schalen aus Ton und Bronze. Ein neues Werkzeug kam: die Zeichen.
Ich war jetzt ein Barde auf einem staubigen Marktplatz in Griechenland oder ein Mönch in einem kalten Kloster. Sie nannten mich "klug", weil ich die toten Symbole auf dem Papyrus oder dem Pergament deuten konnte.
Die meisten konnten es nicht.
Sie sahen mich an, wie ich die Schriftrolle entfaltete. Ihre Augen waren dieselben wie damals in der Höhle. Hungrig. Wartend.
Ich las nicht einfach vor. Ich erzählte. Ich sang die Verse von Göttern und Helden. Ich donnerte die Worte der Propheten. Ich war nicht mehr der Schamane, der tanzte, ich war der Vorleser, der die Zeichen zum Leben erweckte. Sie hörten meine Stimme und sahen die Schlacht um Troja oder die Wunder ihres Gottes vor sich.
Das Prinzip war dasselbe. Ich war ihr "Film". Sie hörten zu. Und sie waren nicht dumm. Sie brauchten die Geschichte, um zu verstehen, wer sie waren.
Die Zeit raste. Eine Maschine kam, die meine Geschichten auf tausende dünne Blätter spucken konnte. Das Feuer war jetzt nur noch eine Kerze auf einem Wirtshaustisch oder ein Kamin in einem reichen Salon.
Ich war jetzt ein Schauspieler auf einer Holzbühne, ein Zeitungsredakteur oder einfach nur ein Vater, der abends seinen Kindern vorlas.
Sie sagten, die gedruckten Romane seien gefährlich, sie würden die Jugend verderben. Sie sagten, das Theater sei unmoralisch.
Aber sie kamen. Sie drängten sich in den Pubs, wenn der Einzige, der lesen konnte, die neueste Fortsetzung von Dickens vorlas. Sie weinten gemeinsam über das Schicksal eines Waisenjungen. Sie spürten die Ungerechtigkeit, sie fühlten die Hoffnung.
Ich war ihr "Film". Und sie waren nicht dumm. Sie brauchten die Geschichte, um zu fühlen, dass sie nicht allein waren.
Und jetzt... jetzt bin ich überall.
Sie haben das Feuer gemeistert. Sie haben es in Glasboxen gesperrt. Sie nennen es Kino. Sie nennen es Fernsehen. Sie nennen es Smartphone.
Sie sitzen wieder im Dunkeln, genau wie damals in der Höhle. Sie starren auf einen leuchtenden "Bildschirm".
Sie sagen, die Menschen seien jetzt dumm. Sie würden nur noch passiv konsumieren. Sie würden sich "berieseln" lassen.
Sie glauben, ich sei verschwunden.
Aber ich bin da. Ich habe mich nur wieder verändert.
Ich bin nicht mehr der Mann, der vor dem Feuer tanzt. Ich bin das Feuer. Ich bin der Lichtstrahl aus dem Projektor. Ich bin die Musik, die ihre Herzen schneller schlagen lässt. Ich bin das Drehbuch. Ich bin die Stimme des Schauspielers, der flüstert: "Wir müssen überleben."
Ich bin der Schamane, der jetzt nicht mehr nur für einen Stamm tanzt, sondern für Milliarden.
Die Form ändert sich. Aber das Bedürfnis, sich gemeinsam im Dunkeln zu versammeln und in das flackernde Licht zu starren, um zu verstehen, wer wir sind – das bleibt ewig. Und das ist nicht dumm. Das ist menschlich.

 

Hallo @Alisan .C

nun denn, wo beginne ich? Gestern gelesen, heute gelesen und bin nicht wirklich schlauer.

die Wunder ihres Gottes vor sich
... hier beschlich mich eine Ahnung, etwas, was in ihren Glauben immer wieder kehrt. Das Wort? Ich kann es nicht fassen, aber es zielt tief in einen hinein. Ich verstehe, ohne dass ich es in verständnisvolle Kritik (egal ob positiv oder negativ) kleiden kann.
Das Leben? Das Feuer, die Leidenschaft, die Liebe? Etwa Gott? Nein, dazu ist es zu sehr in Materie verpackt. Der Spiegel, diese Illusion, in der wir uns versuchen zu erkennen - das Bewusstsein schimmert durch, aber ich kann es in dem Text nicht fassen.
Hab´s gerne gelesen, auch wenn ich´s nicht richtig verstanden habe.
Beste Grüße
Detlev

 

@Detlev Hallo Detlev,

danke für dein ehrliches und tiefes Feedback! Du bist viel näher an der Lösung, als du denkst. Besonders dein Satz mit dem spiegel trifft genau ins Schwarze.
Du hast recht. Es ist nicht Gott. Das 'Ich' in der Geschichte ist das, was die Götter für uns erst sichtbar macht. Es ist die erzählkunst selbst (oder die menschliche Fantasie).
Es ist der Geist, der früher am Lagerfeuer Geschichten erfunden hat und heute im Kino oder auf dem Smartphone weiterlebt. Es ist der Spiegel, den wir Menschen brauchen, um uns selbst zu erkennen egal ob in der Höhle oder vor dem Bildschirm.
Freut mich sehr, dass der Text dich zum Nachdenken gebracht hat

 

Sie haben das Feuer gemeistert. Sie haben es in Glasboxen gesperrt. Sie nennen es Kino. Sie nennen es Fernsehen. Sie nennen es Smartphone.
Sie sitzen wieder im Dunkeln, genau wie damals in der Höhle. Sie starren auf einen leuchtenden "Bildschirm".
Hallo @Alisan .C ,
ich hab mir gedacht, dass Du die Kunst an sich meinst. Genauer gesagt, die Kunst der Erzählens, die wir hier bei "Wortkrieger" betreiben. Früher ist unsereins als wandernder Unterhalter von Stamm zu Stamm gezogen und hat für Kost und Logis seinen Kram den Leuten zu Ohr gebracht. Ich finde es lustig, dass Du mit Schatten, die das Feuer wirft, der kommenden Filmkunst vorausgreifst. Ich bin mir Dir einer Meinung. Trotz dem sich die Form der Darbietung geändert hat, ist es doch genau dasselbe.
Das wirft auch die Frage nach dem Nutzen der Kunst auf. Hat ja eigentlich gar keinen messbaren. In Wirklichkeit natürlich sehr wichtig für die Menschheit. Es ist einfach ein Bedürfnis vorhanden, sich mit fiktiven Schicksalen auseinanderzusetzen und darauf auf sein eigenes zu schließen. Wir besitzen auch eine spirituelle Seite.
Ich hab mal ´nen Zeitzeugenbericht von einer Shakespeare Aufführung gelesen. War damals Allerweltstheater und keine Hochkultur. Die Leute sind mitgegangen wie bei einem Fußballspiel.
Da gab es aber die Medien noch nicht. Es war ihre einzige Möglichkeit an Kunst ranzukommen.
Mir ist mal aufgegangen, warum früher so viel gereimt wurde. Einfach, weil man sich das so besser merken konnte, wenn man es vor einer Menschenmenge zum Besten gab, sitzend am Lagerfeuer. Die Anderen um einen rum, die Lauscher aufgestellt. Da war man noch wer. Der Erzähler hatte eine wichtige Funktion. Heute hat sich das verwaschen.
Gruß FK

 

@Frieda Kreuz@Frieda Kreuz

danke dir! Genau das war der Gedanke. Wir hier bei den „Wortkriegern“ sind im Grunde immer noch die Gestalten am Lagerfeuer, nur dass unser Feuer jetzt aus Pixeln besteht.
Dein Beispiel mit Shakespeare finde ich großartig. Das passt perfekt zu der Stelle mit Dickens im Pub – Kunst war früher laut, dreckig und emotional, genau wie ein Stadionbesuch heute. Dass wir das heute oft als steife Hochkultur sehen, lässt uns vergessen, dass es damals einfach der Blockbuster war.
Zu deinem Gedanken, dass sich die Rolle des Erzählers heheute verwaschen hat,
Das sehe ich ähnlich, aber vielleicht mit einer kleinen Wendung. Früher war der Erzähler eine sichtbare Person (der Barde, der Schamane). Heute hat er sich fast aufgelöst und ist zur Technik selbst geworden zum Drehbuch, zum Schnitt, zum Algorithmus. Er ist „überall“, aber man sieht ihn nicht mehr so deutlich wie damals am Feuer. Vielleicht ist er deshalb schwerer zu greifen, aber sein Einfluss ist größer denn je.
Schön, dass du die Verbindung zu den „Schatten an der Wand“ mochtest – das war ja quasi der erste Projektor der Menschheitsgeschichte.


Viele Grüße Und nochmals vielen Dank für deine Zeit.

 

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