Das Flackern
Ich erinnere mich an den Anfang.
Damals hatte ich keinen Namen, nur eine Funktion. Ich war der "Sprecher", "Der-der-erinnert". Mein Gesicht war gegerbt vom Rauch, meine Stimme rau.
Mein Werkzeug war das Feuer.
Sie saßen vor mir, eingehüllt in Felle, die Zähne klapperten in der Kälte, die von draußen hereinkroch. Ihre Augen waren groß und starrten in die Flammen. Sie sahen nicht mich an. Sie starrten auf das Flackern, das Licht, das die schreckliche Dunkelheit zurückdrängte.
Sie starrten auf diesen "Bildschirm" aus Hitze, und sie warteten.
Dann stand ich auf. Ich trat in den Schein, und die Schatten hinter mir an der Felswand wurden zu Riesen. Ich war der Film.
Ich stampfte mit den Füßen, und ich war das Mammut. Ich ließ meine Stimme pfeifen, und ich war der Wind über dem Eis. Ich krümmte meinen Rücken, und ich war der Ahne, der den ersten Speer warf. Ich erzählte von der Jagd, vom Tod und von der Geburt des Mondes.
Ich war ihr einziger "Film", und sie waren nicht dumm. Sie waren Menschen. Sie brauchten die Geschichte, um die Angst vor der Nacht zu überleben.
Tausende Male ging der Mond auf und unter. Meine Kleidung änderte sich. Ich trug Leinen, dann Wolle. Das Feuer wurde kleiner, gezähmt in Schalen aus Ton und Bronze. Ein neues Werkzeug kam: die Zeichen.
Ich war jetzt ein Barde auf einem staubigen Marktplatz in Griechenland oder ein Mönch in einem kalten Kloster. Sie nannten mich "klug", weil ich die toten Symbole auf dem Papyrus oder dem Pergament deuten konnte.
Die meisten konnten es nicht.
Sie sahen mich an, wie ich die Schriftrolle entfaltete. Ihre Augen waren dieselben wie damals in der Höhle. Hungrig. Wartend.
Ich las nicht einfach vor. Ich erzählte. Ich sang die Verse von Göttern und Helden. Ich donnerte die Worte der Propheten. Ich war nicht mehr der Schamane, der tanzte, ich war der Vorleser, der die Zeichen zum Leben erweckte. Sie hörten meine Stimme und sahen die Schlacht um Troja oder die Wunder ihres Gottes vor sich.
Das Prinzip war dasselbe. Ich war ihr "Film". Sie hörten zu. Und sie waren nicht dumm. Sie brauchten die Geschichte, um zu verstehen, wer sie waren.
Die Zeit raste. Eine Maschine kam, die meine Geschichten auf tausende dünne Blätter spucken konnte. Das Feuer war jetzt nur noch eine Kerze auf einem Wirtshaustisch oder ein Kamin in einem reichen Salon.
Ich war jetzt ein Schauspieler auf einer Holzbühne, ein Zeitungsredakteur oder einfach nur ein Vater, der abends seinen Kindern vorlas.
Sie sagten, die gedruckten Romane seien gefährlich, sie würden die Jugend verderben. Sie sagten, das Theater sei unmoralisch.
Aber sie kamen. Sie drängten sich in den Pubs, wenn der Einzige, der lesen konnte, die neueste Fortsetzung von Dickens vorlas. Sie weinten gemeinsam über das Schicksal eines Waisenjungen. Sie spürten die Ungerechtigkeit, sie fühlten die Hoffnung.
Ich war ihr "Film". Und sie waren nicht dumm. Sie brauchten die Geschichte, um zu fühlen, dass sie nicht allein waren.
Und jetzt... jetzt bin ich überall.
Sie haben das Feuer gemeistert. Sie haben es in Glasboxen gesperrt. Sie nennen es Kino. Sie nennen es Fernsehen. Sie nennen es Smartphone.
Sie sitzen wieder im Dunkeln, genau wie damals in der Höhle. Sie starren auf einen leuchtenden "Bildschirm".
Sie sagen, die Menschen seien jetzt dumm. Sie würden nur noch passiv konsumieren. Sie würden sich "berieseln" lassen.
Sie glauben, ich sei verschwunden.
Aber ich bin da. Ich habe mich nur wieder verändert.
Ich bin nicht mehr der Mann, der vor dem Feuer tanzt. Ich bin das Feuer. Ich bin der Lichtstrahl aus dem Projektor. Ich bin die Musik, die ihre Herzen schneller schlagen lässt. Ich bin das Drehbuch. Ich bin die Stimme des Schauspielers, der flüstert: "Wir müssen überleben."
Ich bin der Schamane, der jetzt nicht mehr nur für einen Stamm tanzt, sondern für Milliarden.
Die Form ändert sich. Aber das Bedürfnis, sich gemeinsam im Dunkeln zu versammeln und in das flackernde Licht zu starren, um zu verstehen, wer wir sind – das bleibt ewig. Und das ist nicht dumm. Das ist menschlich.