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Das Fragezeichen
„Das kann nicht dein Ernst sein, Doris!“ Karl Baumann sah seine Tochter verständnislos an. „Du willst wirklich mit dem Kerl nach Amerika auswandern?“
„Der Kerl heißt Mike und ich liebe ihn.“ Doris’ Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an.
„Ich liebe ihn“, äffte sie ihr Vater nach. „Weißt du überhaupt was Liebe ist? Wie lange kennst du ihn? Zwei – drei Wochen?“
„Sechs, wenn du es genau wissen willst“, bekam er leise zur Antwort.
„Was treibt er denn so in der Bar, dein Mike? Ist er Türsteher oder fegt er nach der Sperrstunde noch den Laden aus?“
„Mike ist Geschäftsführer einer Reihe von Lokalen. Sein Chef hat ihn vorige Woche angerufen und gebeten eine Weile in die USA zu kommen.“
„Hat der Kleine Mist gebaut oder weshalb bestellt ihn der große Boss zu sich?“
„Nein, er soll dort ein größeres Unternehmen aufbauen. Dir Firma plant, eine riesige Kette von Bars und Tanzlokalen, verteilt in ganz Amerika. Wenn alles klappt, dann wird Mike an der Seite seines Chefs den Konzern leiten.“
Doris saß ihrem Vater gegenüber. Ihrem Gesichtsausdruck konnte er entnehmen, dass es sehr schwierig werden würde, ihr diese Schnapsidee auszureden. Seine Tochter befand sich zurzeit nicht in der Realität. Sie schien seine Argumente gar nicht zu verstehen oder verstehen zu wollen.
Sie schien nicht zu ahnen, dass Karl Baumann ihren Freund bereits kannte. Doch damit wollte er sie im Moment noch nicht konfrontieren.
Ihr Vater kannte ihren verträumten Blick, wenn sie unsterblich verliebt war. Aber jedes Mal war sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekommen. Manchmal auch mit einem Schlag, der ihr sehr wehgetan haben musste.
Dieses Mal sah die Sache anders aus. Ihre Augen verrieten, dass die Beziehung etwas Ernsthaftes war, wenigstens von ihrer Seite.
Karl Baumann hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Arme über seinem Waschbrettbauch verschränkt. Nur sein Blick durch die dunkle Nickelbrille war wachsam auf die Tochter gerichtet. Er durfte den klitzekleinen Moment nicht verpassen, in dem sich ein kleines Fragezeichen auf ihrem Gesicht abzeichnen würde. Dann waren die Menschen angreifbar, konnten überzeugt werden. Das kannte er von seinem Beruf her.
Im Augenblick war der Panzer, den seine Tochter um sich gebaut hatte, undurchdringlich. Wie sie vor ihm saß, einer zarten Blume gleich, den Kopf leicht mit der Hand abgestützt, schienen ihre Gedanken in die Weite zu schweifen, fern ab jeglicher Realität. Fest umklammerte sie mit ihrer Hand eine Tasse, deren Inhalt inzwischen wohl kalt geworden war.
Baumann wagte einen neuen Versuch.
„Was hat er dir von sich erzählt, von seinem Leben, bevor er dich kennen gelernt hat?“
Noch immer war ihr Blick verträumt, als sie zu sprechen begann. „Mike ist in Florida aufgewachsen. Seine Eltern hatte er sehr früh bei einem Verkehrsunfall verloren und kam in ein Heim. Er war seinem jetzigen Boss aufgefallen, als dieser dort auftauchte, um dem Heim eine großzügige Spende zu machen. Seitdem lebte er bei der Familie seines Chefs und wurde vor einem Jahr nach Deutschland geschickt, um hier eine Kette von Bars aufzubauen.“
„Warst du schon einmal in einem solchen Etablissement?“, fragte ihr Vater.
„Nein, Mike sagte, ich bräuchte mir keine Gedanken über seine Arbeit zu machen. Es sei alles legal. Nur wollte er mir die betrunkenen Besucher nicht zumuten, die hin und wieder handgreiflich würden. Aber dafür hätte er seine Bodyguards.“
„Du weißt also nicht, welche Art von Geschäften er betreibt?“
Als Doris den Kopf schüttelte, fuhr Baumann fort: „Jetzt muss ich dir etwas erzählen, was dir wahrscheinlich nicht gefallen, viel mehr sogar wehtun wird. Dein Mike betreibt im Bahnhofsviertel mehrere Puffs.“
Bei diesem Wort schreckte Doris hoch. Nun hatte Baumann die Stelle getroffen. Das Fragezeichen, auf das er gewartet hatte, war erschienen. Groß und fett stand es auf ihrem Gesicht geschrieben. Die Worte des Vaters hatten sie erreicht.
„Das ist nicht wahr“, schrie sie. „Du und deine kriminalistischen Gedanken. Kannst du nicht einmal das Gute in einem Menschen sehen!“
Zornig stellte sie die Tasse mit einem lauten Knall auf den Tisch. „Mike ist nicht einer von dieser Sorte. Gut, es gibt gewisse Tanzeinlagen, von denen er mir erzählt hat. Aber das hat mit Prostitution doch nichts zu tun.“
„Mädchen, wach endlich auf!“ Karl Baumann beugte sich zu seiner Tochter und schüttelte sie an dem Schultern. „Was meinst du, weshalb er sich an dich herangemacht hat? Er wollte ausspionieren, ob die Polizei ihn bereits im Visier hat, wie weit die Ermittlungen gegen die Bars sind. Genau vor sieben Wochen hat unser Revier begonnen, nähere Untersuchungen in den Bordellen durchzuführen. Sehr diskret noch. Aber es muss doch etwas durchgesickert sein. Seitdem läuft dort alles ganz legal.“
„Da siehst du es, Paps“, hakte Doris ein. „Mike ist einer von den Guten. Er macht nichts Verbotenes.“
„Nein. Er macht sich die Finger nicht schmutzig. Dafür hat er seine Leute. Leute, die von ihm gut bezahlt werden, um Prostituierte aus Osteuropa hier nach Deutschland einzuschleusen, die er dann in seinen so genannten Tanzlokalen vermarktet und damit das große Geld kassiert.“
„Und konntest du ihm das nachweisen?“ Doris funkelte ihren Vater wütend an.
„Bis jetzt noch nicht. Was wollte Mike über meinen Beruf wissen? Über was hat er dich ausgefragt?“
Doris schwieg und ließ den Kopf hängen.
„Aha, da haben wir’s. Was hast du ihm erzählt?“ Baumann hob das Kinn seiner Tochter nach oben und schaute ihr streng in die Augen.
„Nicht viel. Er hat sich sehr für deinen Beruf interessiert.“ Plötzlich stockte sie. „Paps, ich glaube ich habe einen gewaltigen Fehler gemacht. Damals, als du zu einer Razzia weg musstest, habe ich mich mit Mike verabredet, ihn in unsere Wohnung eingeladen. Als er nach dir fragte, habe ich ihm gesagt, dass du im Bahnhofsviertel dienstlich unterwegs seiest. Danach hatte er es furchtbar eilig, telefonierte laufend herum und machte komische Andeutungen, die ich nicht verstand.“
„Mike hat seine Kollegen in den Bars vor uns gewarnt. Wir standen am Ende da, wie die Trottel. Ich glaube, Doris, du packst deine Koffer schnellstens wieder aus. Für dich werden wir irgendwann auch noch einen passenden Mann finden. Und jetzt muss ich mal dringend telefonieren.“