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Das Fremde
Gitta schob sich durch die Menschenmenge, die den Bahnsteig überfluteten. Sie versuchte darauf zu achten, niemanden anzustoßen. Kinder wurden von ihren Eltern gezogen. “Schnell, der Zug wartet nicht!”
Eine Gruppe Jugendlicher drängte an ihr vorbei. “Wagen neun!”, rief einer von ihnen. Der ICE war eingefahren. Wer keinen reservierten Platz hatte, kämpfte sich zu den geöffneten Türen. Eine unverständliche Stimme dröhnte aus dem Lautsprecher der Bahnhofsanlage. Warme feuchte Luft bildete kleine Schweißperlen auf Gittas Stirn.
“Hallo Gitta, hallo, ich bin´s!”
Verwirrt blieb Gitta stehen, schaute sich um. Wer hatte sie gerufen? Ihre Augen suchten in der Menge nach einem bekannten Gesicht. Nichts. Ein junges Pärchen schien sich gestört zu fühlen. Fragende Blicke.
“Oh, Pardon, ein Irrtum.” Gitta hob entschuldigend die Hand, lächelte und setzte ihren Weg fort.
Sie blickte in fremde Gesichter, als sie durch den Waggon ging, um ihren gebuchten Platz zu erreichen. Niemand würde ihren Namen rufen können, und für einen kurzen Moment fühlte sie sich einsam unter der Fülle von Menschen.
Ihr Sitz war der Letzte im Abteil, in einer kleinen Nische, direkt am Fenster. Gegenüber ein weiterer Einzelsitz. Er war nicht besetzt. Ein Blick auf das Schild, oberhalb des Fensters verriet ihr, dass der Platz nicht reserviert worden war. Gitta hoffte, dass sie alleine bleiben würde. Sie wollte nicht reden, nicht einmal ein höfliches Lächeln austauschen.
Die Landschaft zog an ihr vorbei. Bäume verschmolzen miteinander und wurden zu einem schnellfließenden grünen Band. “Nichts ist wie es scheint”, dachte Gitta und ließ sich in die hypnotische Wirkung der Monotonie fallen.
“Gitta, Kleines.” Sie riss die Augen weit auf, als sie die Stimme, nahe an ihrem Ohr hörte. Niemand war da, der die Worte hätte sagen können.
“Was geschieht mit mir?" Gitta spürte die Tränen, die sich hinter ihren Lidern stauten, presste die Hände an ihre Schläfen. Zu lange schon hörte sie diese Stimmen, die aus einer anderen Welt zu kommen schienen. “Nein, ich bin nicht verrückt, ich brauche nur Ruhe, viel Ruhe.”
In dem Moment, als sie glaubte hilflos weinen zu müssen, griff eine Hand nach der Reisetasche, die sie auf den freien Platz vor sich gestellt hatte.
“Verzeihung, darf ich?” Gitta hörte die Stimme, sie blickte auf den Mann, der sich gesetzt hatte, ohne ihre Antwort abzuwarten. Braune Augen musterten sie. Gitta mochte keine braunen Augen, sie verursachten ihr Unbehagen. Warum? Sie hatte es nie erklären können.
Ihre Kehle wurde trocken. Wohin mit den Händen? Sie schaute aus dem Fenster, sah sein Gesicht, das sich darin spiegelte. Ihre Blicke begegneten sich. Kribbeln auf der Haut. “Will er was von mir? Unsinn, er ist nur ein Reisender.” Gittas Herzschlag steigerte sich. Sie wollte etwas sagen, etwas Normales, Belangloses um ihre Nervosität zu ersticken. Keine Silbe kam über ihre Lippen. Die Aura des Fremden, der sie immer noch ansah, forschend, als wolle er ihre Seele ergründen, hatte sie sprachlos gemacht.
“Schau ihn nicht an“, befahl ihr eine innere Stimme. Zu spät. Ein magisches Band hatte sie umschlungen und hielt ihren Blick zwanghaft auf das Gesicht des Fremden gerichtet. Sie sah wie sich seine Züge entspannten, sein Mund deutete ein zufriedenes Lächeln an. Ihre Hände begannen zu zittern. Kälte ließ ihren Körper erstarren. Wärme löste sie wieder auf.
Gitta schloss die Augen, versuchte ihre Willenskraft gegen das Unbegreifliche zu bündeln. Doch ihr Geist war gefangen in einer Hülle, die nicht mehr handeln konnte. Die Zeit schien zu zerfließen, sich zu dehnen wie ein langes Gähnen. Bilder tauchten vor ihr auf, ließen sie in einen dunklen Abgrund stürzen, um sie gleich darauf wieder ins Helle zu ziehen. Bilder von ihm, von ihr. Unendliches Glück, grenzenlose Trauer. Fragmente aus einem Leben, gelebt in längst vergangener Zeit.
Seine warme Hand umfasste ihre. Seine Stimme, so zärtlich, so liebevoll. “Bald”, flüsterte er in ihr Ohr.
Der Sturm in Gitta verebbte augenblicklich. Sie öffnete die Augen, bereit in die zu schauen, die ihr so fremd nicht mehr erschienen. Doch sie war alleine.
Sie hatte das Ziel ihrer Reise erreicht.
Das kleine Haus am See, umgeben von einem Grundstück, das groß genug war, um sie vor den Blicken der Nachbarn zu verbergen. So oft schon hatte Gitta sich dorthin zurückgezogen. Lesen, schwimmen, Spaziergänge, unverbrauchte Luft, die ihre Lunge füllte und ihren Geist befreite. Hier hatte sie Chris kennen und schätzen gelernt. Er wollte sie heiraten, noch in diesem Jahr.
Gitta hatte sich auf einen Stein, am Ufer des Sees gesetzt und beobachtete die Kreise, die ein springender Fisch auf dem Wasser zurückgelassen hatte.
Sie versuchte ihren Kopf mit Gedanken an Chris zu füllen. Die braunen Augen des Fremden und die Visionen, die nur aus ihrer Fantasie entsprungen sein konnten, zu vertreiben.
Eine aufkommende Windböe kräuselte die Wasseroberfläche. Der nahende Abend ließ bizarre Schatten auf den See kriechen. Fröstelnd schlang Gitta die Arme um ihre Knie.
“Gitta, komm zurück, bitte!”
Gitta sprang auf, presste die Hände auf ihren Mund. Der unterdrückte Schrei schmerzte in ihrer Brust. Wie konnte sie nur glauben, dass sie hier vor den Stimmen geschützt war? Was hatte das alles zu bedeuten? Kann mir denn keiner helfen? Das Gesicht des Fremden, sie sah es vor sich. So nahe, dass sie glaubte es berühren zu können. “Wer bist du?” Nur ein leises Hauchen kam über ihre Lippen. Er sah sie an. Liebe und Sehnsucht in seinen Augen umhüllten Gitta und ließen sie das Gleiche empfinden. Gitta taumelte. Mit dem Gefühl, an ihrem eigenen Atem ersticken zu müssen, flüchtete sie ins Haus. “Chris”, dachte sie, “ich muss ihn anrufen. Während sie mit fahrigen Fingern das Handy aus der Tasche griff, versuchte sie das Bild ihres Verlobten heraufzubeschwören. Wut auf den Fremden, auf sich selber, baute sich in ihr auf, als es ihr nicht gelang. Der Ruf ging durch. Der Anrufbeantworter sprang an. Gitta zögerte, sie zwang sich zu sagen, was sie sagen wollte.
“Ich liebe dich”, flüsterte sie und befürchtete, dass er das Zittern in ihrer Stimme hören würde, den Ton, der ganz tief aus ihrem Innern kam, der verraten könnte, dass sie sich nicht mehr sicher war.
Ihre Gedanken kehrten zu dem Mann zurück, der ihren Körper und Geist in seinen Bann gezogen hatte.
"Bald", hatte der Fremde gesagt, "bald ..."
Erschöpft, verwirrt, an ihrem Verstand zweifelnd, fiel sie auf das Bett. Wispernde Stimmen, die ihren Namen raunten, versanken mit ihr in einen tiefen Schlaf.
Der Raum war hell. Bunte Bilder hingen an der Wand. Ein Bett. Darin eine junge Frau. Blass, eingefallene Wangen, geschlossene Augen. Ein Mann und eine Frau beobachteten die Krankenschwester, die den Tropf zur künstlichen Ernährung und den Blasenkatheter entfernte, um dann schweigend und mit gesenktem Kopf, das Zimmer zu verlassen.
Gitta hatte sich an den Fremden gelehnt, dankbar für die Geborgenheit und die Kraft, die er ihr schenkte.
Sie blickte in das Gesicht ihrer Mutter. So viel Leid in ihren Augen. Ihr Vater, wie grau sein Haar geworden war.
“Wie lange schon?”, fragte Gitta den Mann, der kein Fremder mehr für sie war.
“Zu lange”, antwortete er.
“Ach Gitta, Kleines.” Gitta hörte die Stimme ihres Vaters, sah, wie er ihre Stirn küsste. Noch einmal betrachtete sie den Körper, den sie längst verlassen hatte. Nun war auch die letzte Fessel zwischen ihnen gelöst worden.
Mit einem liebevollen Blick, bedachte Gitta ihre Eltern.
Sie erwachte in den Armen des Mannes, der schon seit ewiger Zeit seine Seele mit ihr teilte. Und ihr war, als wäre die Gegenwart der Ewigkeit nahe. Als könne sie mit einem einzigen tiefen Einatmen in eine unendliche Ruhe hineinfallen.