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Das Gedankenlabyrinth
Die alles erstickende Schwärze lichtete sich langsam zu einem diffusen Grau. Geräusche, die beängstigend und fremdartig klangen, drangen in überlauten Schallwellen auf sie ein. Ihre Hände ballten sich rhythmisch zu Fäusten und entspannten sich wieder. Der ganze Körper schüttelte sich konvulsiv. Vorsichtig versuchte sie sich in eine bequemere Lage zu drehen, dabei raschelte es befremdlich um sie herum. Ein Wadenkrampf erfaßte ihr rechtes Bein mit heißen Messerstichen, so daß es unkontrolliert hin und her schlenkerte. Der Schmerz war so unerträglich, daß sie einen lauten Schrei ausstieß und abrupt die Augen öffnete.
Grau. Die Zimmerdecke war grau. Langsam hievte sie sich in eine sitzende Position und sah nur einen Arm weit von sich grau. Unbewußt hob sich ihre linke Hand und tastete das Gebilde, daß sich da vor ihr auftürmte ab.
Ein Rascheln ertönte und kleine Staubwolken quollen sich in federleichten Kräuselbewegungen um ihre Hand.
Ihre Finger krümmten sich zu Krallen und kratzten versuchsweise an dem Bauwerk. Ratsch, ratsch, ratsch, ratsch. Das Ratschen und Knistern löste eine Erinnerung aus: PAPIER!
Tatsächlich! Sie saß vor einer Mauer aus Papier!
Ein heftiges Niesen erfaßte sie und wirbelte Staubwolken in dicken Schwaden durcheinander. Das Rascheln um sie herum explodierte zu einem alles durchdringenden Dröhnen, so das sie unweigerlich beide Hände schützend an die Ohren legte.
Sie versuchte erfolglos, die Tränen vor den Augen wegzublinzeln und nahm schließlich den linken Unterarm hoch, um den Kleidungsärmel zu Hilfe zu nehmen und erstarrte:
Ein langes, lappiges Etwas hatte sich wie ein Kreis um den Unterarm gelegt. Kettenartige Stränge zogen sich in geordneten Reihen vom Handgelenk hoch zu ihrer Schulter.
Das Gestrick, mit unregelmäßigen Flecken übersät, schaukelte und zuckte wie ein eigenständiges Lebewesen vor ihren Augen hin und her. Unwillkürlich stieß sie einen Schrei aus. Ein lautes Rascheln ertönte wieder, was sie seltsamer Weise sofort beruhigte. Unbewußt fuhr sie mit dem hart verkrusteten Ärmel über ihre Augen, die einen rotzfeuchten Schmierfilm darauf hinterließen.
Mühsam zog sie ihre Beine an, kam auf die Knie und erhob sich. Ein heftiges Schwindelgefühl erfaßte sie. Schwarze Flecken und Kreise tanzten in einem wahnsinnigen Tempo vor ihren Augen auf und ab. Instinktiv versuchte sie sich abzustützen. Ein tiefes Durchatmen und das Schwindelgefühl ließ ganz allmählich nach.
Sie öffnete die Augen wieder und erkannte, daß sie in einem schmalen Gang stand. Beide Arme leicht angewinkelt, konnte sie links und rechts Mauern aus Papier ertasten.
Langsam setzte sie den rechten Fuß vor, wobei sie sich über das allgegenwärtige Rascheln schon nicht mehr wunderte.
Die ersten Schritte jagten heiß stechende Schmerzen durch ihren gesamten Körper, die aber mit jedem weiteren Tritt nachließen.
Grau. Wo sie auch hinsah: Grau. Ein Schritt, rascheln. Noch ein Schritt, rascheln. Die Monotonie der Bewegung und des Geräusches lullte sie ein. Sie fühlte, wie eine rosafarbene Wattewolke sie umhüllte. Schritt, rascheln. Schritt, rascheln.
Wärme durchströmte sie weich und wohlig. Schritt, rascheln.
Schritt rascheln. Ihre Hände zu Krallen gekrümmt erzeugten den herrlichsten Beat, den sie jemals gehört hatte:
Ratsch, ratsch, ratsch,ratsch. Das krampfartige, alles verzehrende Hungergefühl entführte sie in den Olymp des Vergessens. Ratsch, ratsch, ratsch, ratsch. Die Dehydrierung ihres Körpers hatte offene Wundmale in die Ellbogengelenke geschlagen. Die Ärmel des Pullovers waren mit den Eiterkrusten zu einer unnatürlichen Symbiose verwachsen. Schritt rascheln. Ratsch, ratsch, ratsch, ratsch.
Wohlig warm lief der scharfe, ammoniakhaltige Urin an ihren Beinen hinunter und ließ sie erschauern.
Schritt, rascheln. Ratsch, ratsch, ratsch, ratsch,
(Elisabeth Rosing)