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Das Handtuch
Das Handtuch
Hans wurde einst verflucht und in ein Frotteetuch verwandelt. Über den Hergang dieser Verwandlung und die Vorgeschichte ist so gut wie nichts bekannt. Jedenfalls lebte er seitdem als eben dieses Tuch in einem Badezimmer. Ab und zu wurde er gewaschen, gebügelt und dann folgten einige gemütliche Tage im Badezimmerschrank. Doch irgendwann lag Hans auf dem Handtuchstapel im Schrank erneut zuoberst und wurde wieder brutal an den Wandhaken gehängt. Das hasste Hans am meisten, denn die Familie, der das Haus mit diesem Badezimmer gehörte, bestand neben den Eltern aus drei Kindern, und eines davon, Rudi, war gerade mal vier Jahre alt. Er hatte die Angewohnheit, sich nach dem Toilettengang oder auch mal nach Spielen im Dreck die Hände einfach kurz mit Wasser zu befeuchten ohne die Seife zu benutzen und sich dann die noch halb dreckigen Hände an Hans abzuwischen. In solchen Situationen dachte Hans immer „Na warte du kleiner Drecksack! Wenn ich reden könnte würde ich dir mal so richtig die Meinung ins Gesicht sagen! Oder wenn ich mich gar bewegen könnte, würdest du mal eine gehörige Ohrfeige einfangen, wie zu Grossvaters Zeiten, als es noch so etwas wie Erziehung gab!“ Doch selbstverständlich hörte ihn niemand, und so kam es oft vor dass vor allem die Kinder in der Hektik des Spiels Hans auf den kalten Boden fallen liessen. Dazu muss man sagen, dass er trotz der Verwandlung sehr wohl Schmerzen empfinden konnte, wie halt jeder andere Mensch auch. Das tat ganz schön weh, wenn sich die Kinder im Sommer aus Spass die nassen Handtücher an die Beine fetzen.
Aber Hans hatte Glück, er war eines der kleineren Handtücher. Wäre er ein grosses gewesen, so wäre er bestimmt auch als Liegetuch fürs Freibad benutzt worden. Gerade bei Gabi, der Mutter, wäre das fatal, denn ihr Gewicht befand sich im dreistelligen Bereich, und die erste Ziffer war keine 1!
Nun gut, soweit zu Hans’ langweiligem Alltag. Nun passierte aber eines Tages etwas. Gabi wurde fünfzig. Eingeladen waren alle Verwandten sowie viele Bekannte und die Nachbarn. Da Hans ein doch ziemlich schönes Exemplar war, entschloss sich Gabi beim Saubermachen der Toilette, ihn für die Gäste aufzuhängen. Für viele andere Handtücher wäre dies eine Ehre gewesen, doch die konnten ja weder denken noch etwas fühlen. Nur ganz wenige waren Reinkarnationen von einigen Blattläusen oder anderen kleinen Insekten, welche die Situation gar nicht richtig begriffen und einfach als Handtücher vor sich hin lebten.
Hans war sehr nervös, er kannte ja die meisten der Gäste nicht, vielleicht gab es darunter irgendwelche Schweine welche das Handtuch als Toilettenpapier missbrauchten wenn dieses alle wäre. Oder jemand könnte sich nach einem Glas zuviel in der Toilette übergeben und sich dann mit Hans den Mund abwischen. „Oh Gott.“, dachte Hans. „Ich darf gar nicht daran denken... Ich werde es schon überstehen!“
Um 18 Uhr war es soweit. Alle Gäste waren inzwischen eingetroffen und wurden nun zur Vorspeise an den Tisch gebeten. Hans war schon immer gut im Schätzen. Schon in der Schule, als er noch ein Mensch gewesen war, konnte er oftmals innerhalb von weniger als einer Minute die exakte Anzahl der Kreidenstifte bestimmen, welche die anderen Schüler auf den Tisch fallen gelassen hatten. Auch wenn es immer nur fünf oder sechs Stück gewesen waren, Hans war nur ganz selten ein paar daneben gelegen.
Diese Gabe nutzte Hans nun, um anhand der Stimmen, die er hörte, die ungefähre Anzahl der Gäste und somit die Häufigkeit der Toilettengänge einzuschätzen. „Es müssen zwischen zehn und fünfzig sein.“, stellte er fest. Wenn er Hände gehabt hätte, würde er nun mit der einen Hand sein Kinn kraulen, wie viele intelligente Leute es beim angestrengten Nachdenken tun. „Nun gut, das geht ja noch, die werden ja nicht alle zur Toilette müssen.“
20 Uhr. Der Hauptgang wurde serviert. Gabi hatte alles selber gekocht, sie war eigentlich ziemlich begabt, doch heute wollte sie etwas ganz Neues ausprobieren, und so entschied sie sich für Austern. Dummerweise verwechselte sie im Gewürzschrank die Maggi-Sauce mit dem Abführmittel von Hugo, dem Vater, der oft an Verstopfungen litt. „Dann giess ich da mal ordentlich drüber“, dachte sie. „Austern sind ja bekanntlich relativ fade Früchte.“
Die Gäste wurden inzwischen ziemlich ungeduldig. Onkel Holger scherzte: „Na hör mal Gabi, da fahr ich den weiten Weg bis zu euch hier und dann muss ich auch noch auf den Frass warten! Haha!“ Da alle in der Familie sehr humorvolle und gesellige Menschen waren, brachen auch sogleich alle in schallendes Gelächter aus. „Holger teilt wieder mal aus, die Drecksau!“, witzelte Erika.
„Ruhe, hier ist der Hauptgang!“, verkündete Gabi feierlich. Sie stellte das grosse Glastablett in die Mitte des Tisches. Dann war es einen Moment ruhig.
„Sind das... Austern..?“, fragte Verona verdutzt.
„Sehr richtig, und ich wünsche euch einen guten Appetit!“, freute sich Gabi.
„Gabi... Du weißt doch, dass alle Verwandten deines Mannes allergisch sind auf Austern. Das liegt in der Familie. Das heisst, mehr als die Hälfte aller Gäste wird heute gar nichts als Hauptgang essen können!“
„Oh mein.. Ich... Das habe ich total vergessen! Nun... Was machen wir denn da..?“, stotterte Gabi.
„Ach was, das macht doch nichts! Die Kohlsuppe war doch schon so delikat, da können wir gern auf den Hauptgang verzichten, Gabi! Mach dir mal keine Gedanken!“, rief Holger, der Bruder von Gabis Mann. Er konnte ein ganz fieses Dreckschwein sein, aber in solchen Momenten wusste er immer mit den richtigen Worten die Situation zu entschärfen und die Leute bei guter Laune zu halten.
„Im Ernst? Macht euch das nichts aus? Na dann ist ja alles halb so schlimm!“, freute sich Gabi. „Dann wünsche ich jetzt dem Rest einen guten Appetit!“
Die übrigen vier Verwandten von Gabi schlemmten sofort los. „Köstlich!“, schwärmte ihr Bruder Fritz.
Nach zwei Stunden waren die vier satt. Es wurde noch viel Wein getrunken und gelacht und diskutiert, ein richtiges kleines Familienfest eben. Die wenigen Verwandten von Hugo, welche dann doch noch Hunger bekamen, mussten sich mit einem Gurkenbrötchen begnügen.
Inzwischen war es spät geworden, und die ersten Gäste verabschiedeten und bedankten sich bei Gabi und ihrem Mann. Wenig später waren fast alle gegangen. Nur Elmbrich sass noch mit Gabi und Hugo am Tisch. „Also ich muss schon sagen, die Austern waren köstlich, Gabi!“
„Vielen Dank, freut mich wenn’s euch geschmeckt hat!“
Hans war übrigens während dem Fest von einem betrunkenen Gast versehentlich die Toilette runtergespült worden. Er verstarb dabei, denn auch ein Handtuch benötigte Luft zum Atmen, und so ertrank Hans irgendwo in den Abwasserkanälen von Berlin.
Ende