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Das Hotel
Wie aus einem grausamen Alptraum entrissen, wuchte ich mich mit einem tiefen Röcheln nach vorne. Eisiges Wasser umgibt meinen nackten, zitternden Körper. Mit aller Kraft zerre ich mich aus der Wanne und stürze zu Boden, meine Beine geben einfach nach. Mein Gesicht verzieht sich vor Schmerz, als ich mich langsam aufrichte. Sitzend an die Wand gelehnt ringe ich nach Luft und spüre, wie kalte Wassertropfen aus meinem Haar über meinen Oberkörper perlen.
»Wo bin ich?«, frage ich mich, während ich mit aufgerissenen Augen den Raum betrachte und langsam etwas mehr Klarheit erlange.
Erst jetzt bemerke ich das leichte Flackern der Spiegelleuchte. Das schwache Licht, welches einige Insekten anzieht, offenbart ein wüstes Badezimmer. Schwarzer Schimmel ziert zahlreiche Fugen der hellgrau gemusterten, mit Kalk befleckten Marmorfliesen, die sich bis zur unteren Hälfte des Raumes erstrecken. Die feuchte Badematte zwischen meinen Zehen fühlt sich schleimig an. Als würde ich auf einem verwesenden Tier sitzen. Auf der Toilette liegt ein zerknülltes, weißes Badetuch. Zaghaft greife ich danach, reibe mich gründlich ab und werfe es wieder zurück auf den Toilettendeckel.
Mit Mühe richte ich mich auf und gerate ins Wanken. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment explodieren. Benommen taumle ich zum Spiegel und wage einen kurzen Blick hinein. Mein blasses, eingefallenes Gesicht verrät das Ausmaß meiner Erschöpfung und Verwirrung.
»Was ist mit mir passiert?«, frage ich mich, während ich mit den Fingerspitzen durch mein Gesicht fahre und in meine geröteten Augen blicke.
Schließlich begebe ich mich wankend aus dem Badezimmer und betrete einen dunklen Raum. Beim Abtasten der Wand betätige ich einen Lichtschalter und kann nun erkennen, dass ich mich in einem Schlafzimmer befinde. Es ist altmodisch eingerichtet, mit kastanienbraunen Tapeten und einem etwas helleren Parkettboden. Auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett steht eine silberne Schirmlampe und ein rotes Wählscheibentelefon. Vor dem Bett befindet sich ein etwas größerer, dunkelbrauner Holztisch mit einem alten Röhrenfernseher. Die orangefarbenen, karierten Vorgänge sind zugezogen. In der Ecke des Zimmers erblicke ich staunend eine große Standuhr mit einem goldenen Pendel. Sie sieht sehr hochwertig aus und muss uralt sein.
Diese Art der Einrichtung erinnert mich an ein Hotelzimmer. Jedoch kann ich mich weder daran erinnern, wie ich hergekommen, noch seit wann ich hier bin.
Grübelnd wandere ich durch den Raum und versuche, zumindest einen Teil meiner Erinnerungen wiederzuerlangen, als ich einen hölzernen Kleiderschrank erblicke. Ich öffne ihn in der Hoffnung, meine Kleidung zu finden und habe Glück. Es sind einige Hemden, Anzughosen und Sakkos vorhanden. Dazu genügend Unterwäsche und Socken. Offenbar habe ich einen längeren Aufenthalt geplant.
Endlich wieder bekleidet beschließe ich, bei der Rezeption anzurufen und setze mich auf das Bett. Vielleicht kann mir dort jemand weiterhelfen. In der kleinen Schublade des Nachttisches finde ich ein Kärtchen auf einer Bibel.
»Willkommen im Matt-Hew-Hotel. Die Durchwahl der Rezeption lautet 8-12. Gerne kümmern wir uns um Ihr Anliegen.«
»Matt-Hew-Hotel …? Der Name ist mir fremd.«
Nervös lege den Hörer an mein Ohr und gebe die Durchwahl über die Wählscheibe ein.
Schließlich erklingt eine angenehm warme, dunkle Stimme.
»Guten Abend Sir, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Guten Abend Mr. …«
»Abaddon«
»Mr. Abaddon, bitte verzeihen Sie. Es mag zwar verrückt klingen, … aber ich leide vermutlich an einer Art Amnesie. Ich … Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie ich hergekommen bin. Haben Sie eventuell Informationen darüber, wann ich eingecheckt bin?«
»Ah Mr. Charon! Natürlich, wir hatten bei Ihrer gestrigen Ankunft eine äußerst nette Unterhaltung. Sie sind hier in Las Vegas auf Geschäftsreise und haben wichtige Termine bei mehreren großen Kunden. Sie arbeiten für eine Bank und es ginge um Kreditverträge oder ähnliches. Ihre Aufenthaltsdauer ist nicht näher definiert. Sie sagten, Sie möchten auschecken, wenn das Geschäftliche erledigt ist.«
Mir wird klar, dass auch diese Erinnerungen vollständig fehlen. Selbst mein Vorname fällt mir nicht mehr ein.
»Mr. Charon? Geht es Ihnen gut? Haben Sie sich vielleicht den Kopf gestoßen?«
»Nein … oder ich weiß nicht. Er schmerzt ziemlich.«
»Keine Sorge Mr. Charon, ich ordere den Pagen. Er wird sich unverzüglich auf den Weg machen und Ihnen etwas gegen Ihre Schmerzen bringen.«
»Vielen Dank Mr. Abaddon, das würde mir sehr helfen.«
»Sehr gerne Mr. Charon. Ich wünsche Ihnen weiterhin einen angenehmen Aufenthalt und gute Besserung.«
Ernüchtert hänge ich den Hörer auf und lasse mich nach hinten fallen. Womöglich muss ich nur eine gewisse Zeit abwarten und meine Erinnerungen kehren von selbst wieder zurück. Ich hoffe nur, dass ich die Kundentermine einhalten kann. Schließlich möchte ich meinen Job nicht verlieren.
Während ich im Bett liege und meine Stirn reibe, erlangt das Gold gerahmte Bild über dem Bett meine Aufmerksamkeit. Ein alter, nackter Mann, bedeckt mit einem weißen Schleier in einem kleinen Holzboot. Er befindet sich auf einem schmalen Fluss und steuert das Boot mit einem Holzruder. Eine weitere Person ist an Bord. Auf der linken Seite des Flusses erkennt man friedvolles, grünes Land, bestückt mit zahlreichen Bäumen und weiteren Flussläufen. Auf der rechten Seite hingegen ein in Dunkelheit und Chaos gestürztes Land. Ein wirklich bemerkenswertes Bild.
Gedankenversunken starre ich auf das Bild, das eine magische Wirkung auf mich zu haben scheint, als es plötzlich klopft und ich zusammenzucke. Vermutlich der Page. Erleichtert begebe mich zur Tür und blicke durch den Türspion. Eine freundlich lächelnde Gestalt in roter Uniform.
»Hallo, Mr. Charon? Ich bringe Ihnen wie gewünscht eine Tablette gegen Ihre Kopfschmerzen und etwas Wasser dazu.«
Ich öffne die Tür und der Page strahlt mich an, während er mir das Medikament und das Glas Wasser überreicht.
»Vielen lieben Dank, Sie sind meine Rettung.«, entgegne ich und setze mit Mühe ebenfalls ein freundliches Gesicht auf.
»Gerne Mr. Charon. Rufen Sie mich, falls Sie noch etwas benötigen.«
»Danke, das werde ich.«
Nach einer freundlichen Verabschiedung schließe ich die Tür und nehme die Tablette zu mir. Hoffentlich wirkt sie schnell. Aber was nun? Ich stelle das Glas auf den Nachttisch ab und bemerke darunter einen kleinen Safe. Vermutlich sind dort meine Wertsachen enthalten, mein Portemonnaie mit meinem Ausweis. Oder ein Hinweis bezüglich der Kundentermine. Aufgeregt beuge ich mich herunter und ziehe an dem Griff. »Verdammt, er ist verschlossen.« Wäre ja auch zu schön gewesen.
Am besten rufe ich noch mal bei der Rezeption an. Mr. Abaddon findet bestimmt eine Lösung.
Erneut greife ich zum Hörer und wähle die Nummer. Es klingelt eine Weile, aber niemand hebt ab. Ich blicke zur Pendeluhr und stelle fest, dass es schon fast Mitternacht ist. Morgen ist sicher wieder jemand erreichbar.
Ich beschließe, die Nacht im Hotel zu verbringen, da ich ohnehin nichts tun kann und nicht weiß, wo ich sonst hin soll. Gähnend und mit halb geöffneten Augen begebe ich mich zum Fernseher. Vielleicht sehe ich dort etwas, das mir hilft. So ein altes Gerät habe ich jedoch noch nie bedient. Ich drücke zufällig auf einige der Knöpfe, bis einer davon einrastet. Ein rauschendes Bild leuchtet auf. Genervt klopfe ich mit geballter Faust gegen den Fernseher, doch ohne Erfolg. »So eine alte Schrottkiste.« Ich schalte ihn wieder aus und beschließe, mich dann doch schlafen zu legen. Kaum weggedreht, höre ich plötzlich, wie sich jemand hinter mir unterhält. Ich blicke erneut zum Fernseher und sehe Figuren aus einem Schwarz-Weiß-Film. »Komisches Gerät.«, denke ich mir und beschließe, es besser nicht mehr anzurühren.
Im Bett liegend verfolge ich gespannt die Dialoge des Films. Es geht um einen Detektiv, der gerade einen Mord aufklärt und die Verdächtigen vernimmt. Der Film ist wirklich gut gemacht. Ich habe das Gefühl, bei den Vernehmungen mit eingebunden zu werden. Es wirkt fast so, als würde der Detektiv mit mir kommunizieren. Er sieht mich regelmäßig an, nickt dabei kurz und wirft mir ab und an ein Lächeln zu. Schon fast unheimlich.
Langsam merke ich, wie meine Augenlider schwerer werden. Die Dialoge des Films wandern tiefer in mein Unterbewusstsein. Sie rücken immer weiter in die Ferne und verschwinden schließlich komplett …
»Mr. Charon!«
Ich schrecke auf und blicke verwirrt um mich.
»Mr. Charon, hier drüben!«, ruft jemand eindringlich.
Noch immer ist mir nicht klar, wo die Stimme herkommt. Dann bemerke ich, dass der Fernseher noch läuft und sehe den Detektiv im Bild, wie er besorgt in die Kamera schaut.
»Sie müssen aufwachen, Mr. Charon!«
Ich starre wie eingefroren in das Gesicht des Detektives und verspüre ein unangenehmes Gefühl.
»Was zum …?«
»Es wird nun Zeit.«
Redet er mit mir? Wie ist das möglich?
Nach kurzem Zögern beschließe ich, ihm zu antworten.
»… Zeit für was?«, flüstere ich und kann nicht glauben, dass ich mit dem Fernseher rede.
Er lächelt nun, als wenn ihm meine Reaktion gefiele.
»Zeit für Ihre Arbeit!«
Seine Worte ergeben für mich keinen Sinn. »Das muss doch ein Traum sein …«, denke ich mir und reibe mir die Augen. Doch als ich sie wieder auf den Bildschirm richte, ist der Fernseher ausgeschaltet. Ich sitze in völliger Dunkelheit.
Nach einigen Sekunden der Stille neben mir laute Schritte.
»MR. CHARON!«
Ein wütendes, hell aufflackerndes Gesicht direkt vor meinem. Ich falle zusammen mit Kissen und Decke schreiend aus dem Bett, stehe sofort wieder auf und laufe zur Eingangstür. Ich stürze auf den Flur und blicke auf dem Boden kauernd in das Zimmer zurück. Doch ich sehe die Gestalt nicht mehr. Erst jetzt wird mir mein panisches Atmen und mein hämmernder Herzschlag bewusst. »Was war das gerade!?«
Zum ersten Mal befinde ich mich auf dem Flur und schaue mich um, während mir Schweiß über die Stirn läuft. Die Tapeten sind Beige und mit einem Pflanzenmuster versehen. Sie wirken verschmutzt und beschmiert mit etwas, das wie Ruß aussieht. Genau wie der rote Teppichboden.
Ich schaue in den schmalen Gang hinein und sehe, wie einige Zimmer weiter der Page vor einer Tür steht. Die kleinen Schirmlampen an der Wand werfen ein schwaches Licht, sodass ich Mühe habe, ihn aus der Ferne zu erkennen. Er bewegt sich nicht und wirkt so, als wenn er mich nicht gesehen oder gehört hätte. Ich stehe langsam auf und zucke zusammen, als ich einen Knall höre. Erneut richte ich meinen Blick auf den Pagen und mir stockt der Atem. Er schlägt seinen Kopf wieder und wieder gegen die Tür, vor der er steht. – Was zur Hölle ist hier los?
»Hallo? Sind Sie okay?«, rufe ich besorgt und hoffe, dass ich mir das nur einbilde.
Als er langsam seinen Kopf zu mir dreht, stockt mir der Atem. Ein blutüberströmtes, kreidebleiches Gesicht kommt zum Vorschein. Seine Augen vollkommen weiß. Sein Atmen schwer und keuchend. Doch anstatt zu antworten, bewegt er sich langsam in meine Richtung. Eines seiner Beine schleift er hinter sich her, als wäre es gebrochen. Aus seinem offenen, nach Luft ringenden Mund rinnt eine blutverschmierte, zähflüssige Speichelmasse und hinterlässt am Boden ihre Spuren.
Je näher er mir kommt, desto schneller und aufgeregter wird er.
Ein schwerer Kloß bildet sich in meinem Hals und ich schüttele ungläubig den Kopf. Der Page hat mich fast erreicht, da setzt endlich mein Fluchtinstinkt ein. Ich laufe in die entgegengesetzte Richtung an einigen Zimmern vorbei, doch es ist kein Fahrstuhl oder Treppenhaus in Sicht. Meine Beine fühlen sich noch immer sehr träge an und ich gerate immer wieder ins Wanken. Der dunkle Gang wirkt endlos und ich höre das bedrohliche Schleifen und Keuchen des Pagen hinter mir. Als ich einen Blick zur Seite wage, erkenne ich aus dem Augenwinkel, dass er ganz dicht hinter mir ist. Dabei stürze ich zu Boden und schürfe mir das Gesicht auf. Das Adrenalin in meinem Blut lässt mich sofort wieder aufspringen und ich laufe hektisch atmend weiter. Da spüre ich, wie mich etwas an der Schulter packt. Ich schreie und reiße mich los. »Jetzt werde ich sterben!«, denke ich. Doch dann erblicke ich eine offene Zimmertür. Ich eile hindurch und schlage sie hinter mir zu. Völlig außer Atem und mit dem Rücken an die Tür gelehnt sinke ich zu Boden.
Nur wenige Sekunden vergehen, da klopft es.
»Mr. Charon, ist alles in Ordnung?«
Ich presse meine Hand gegen den Mund, um mein lautes Atmen zu unterdrücken.
»Haben Sie sich verletzt, als Sie aus dem Zimmer gestürzt sind? Ist denn etwas vorgefallen? Mr. Charon?«
Traumatisiert versuche ich einen klaren Gedanken zu fassen. War das alles womöglich nur Einbildung oder eine Halluzination? Ich muss nachdenken. Nach einer Weile richte ich mich langsam wieder auf und blicke durch den Türspion. Ich sehe den Pagen, sein Gesicht ist jedoch wieder vollkommen normal. Er lächelt genauso freundlich, wie bei unserer ersten Begegnung.
Etwas erleichtert, aber dennoch misstrauisch, rufe ich durch die Tür mit unsicherer Stimme:
»Alles in Ordnung, machen Sie sich keine Sorgen! Mir geht es gut!«
Der Page reagiert nicht auf meine Worte. Noch immer durch den Spion blickend sehe ich, wie er nur dasteht und lächelnd auf die Tür starrt. Verunsichert gehe ich einige Schritte zurück in den dunklen Raum hinein und stolpere. Ich falle zu Boden und lande auf etwas Weichem.
»Warum liegen hier Kissen und Decke auf dem … Bin ich etwa …?«
Durch den unteren Türschlitz kann ich den Schatten des Pagen erkennen. Noch nie habe ich mich von etwas so bedroht gefühlt. Ich schlage meine Hände zusammen und bete, dass er mich endlich in Ruhe lässt. Es vergeht etwas Zeit, da höre ich wieder seine Stimme:
»Rufen Sie mich, falls Sie noch etwas benötigen, Mr. Charon.«
Anschließend wandert sein Schatten langsam zur Seite. Endlich ist er weg.
Noch immer am Boden sitzend kaue ich nervös meine Nägel, während ich wippe und versuche, mich wieder zu beruhigen. Ein lautes Klingeln durchbricht die Stille und ich zucke schreiend zusammen. Es dauert einige Momente, bis ich realisiere, dass ich rangehen sollte. Mit zittrigen Händen greife ich nach dem Hörer und führe ihn langsam an mein Ohr. »H…Hallo?«
Ein Rauschen ertönt, gemischt mit einer dissonanten, verzerrten dunklen Stimme. Ich kann nichts verstehen und muss schlucken. Es schmerzt ein wenig, da mein Mund völlig ausgetrocknet ist. Die Geräusche werden allmählich etwas klarer und es formen sich einige Worte.
»…bring…sie…!?«
Doch dann hallt der Schrei einer Frau aus dem Badezimmer. Mir fällt der Hörer aus der Hand und ich stehe zaghaft auf. »Was erwartet mich als nächstes?«, denke ich und bleibe wie versteinert stehen. Ein weiterer Schrei. »Verdammt, ich muss etwas tun!«
Ich löse mich von meiner Starre, laufe los und stoße die Badezimmertür auf. Die Tür knallt dabei gegen die Wand und reißt leicht ein. Es ist jedoch niemand zu sehen. Wieder eine Halluzination? Ich sinke zu Boden und lasse mein Gesicht in meine Hände fallen. »Gott, ich werde noch wahnsinnig!« Doch dann höre ich ein lautes Plätschern und Röcheln. Etwas schießt aus der Badewanne. Ich falle nach hinten, als mir einige der Wassertropfen ins Gesicht spritzen. Eine alte Frau, die schwer nach Luft ringt. Sie bemerkt mich und starrt mich an, während sie sich angestrengt am Badewannenrand stützt. Ihr Gesicht ist kreidebleich und ihre Lippen pechschwarz. In ihrem Haar stecken einige Blätter und ihre Nägel sind verdreckt, als hätte sie in Erde gewühlt. Mein Herz beginnt erneut zu toben und ich mache mich bereit, zu fliehen, als sie plötzlich etwas von sich gibt.
»Bitte! … helfen … Sie mir!«, stammelt sie, während sie Wasser aus ihrer Lunge hustet.
Mein Instinkt sagt mir, dass ich ihr besser nicht trauen sollte. Jede einzelne Körperzelle in mir schreit „Flieh!“, als aus ihrem Mund eine goldene Münze herausfällt, die geradewegs auf mich zurollt und kurz vor mir zum Erliegen kommt. Ich starre sie an. Meine Augen sind wie gebannt. Mein Geist beruhigt sich. Meine Muskeln entspannen. Ich fühle mich wie hypnotisiert. Genau wie bei dem goldgerahmten Bild über dem Bett. Allmählich erlange ich wieder mehr Klarheit, stehe langsam auf und begebe mich zu der alten Frau.
»Was ist mit Ihnen passiert?«, furchtlos packe ich sie am Arm und helfe ihr aus dem Wasser. Sie ist ganz kalt und trägt ein weißes Kleid. »Keine Sorge, ich bringe Sie zu einem Arzt.«
Jedoch wirkt sie geistig völlig abwesend, flüstert etwas vor sich hin und zittert stark. Ich habe Schwierigkeiten, sie aus dem Bad zu führen. Plötzlich wird sie unruhig und hält mich fest,
während sie mit aufgerissenen Augen nahe an mein Gesicht kommt. »Die Münze! … Ihre Münze!«
Ich blicke auf den Boden und sehe, dass wir bei der Münze stehengeblieben sind. Ihr scheint es wohl sehr wichtig, dass ich sie an mich nehme.
»Wir haben keine Zeit, junge Dame! Die Münze ist jetzt egal. Sie müssen schnell in ein Krankenhaus.«
Doch sie besteht darauf und geht wieder einige Schritte zurück zur Badewanne. Ich seufze und mir wird klar, dass ich wohl keine andere Wahl habe. »Na schön, aber dann kommen Sie mit mir!«
Kopfschüttelnd bücke ich mich, um die Münze aufzuheben. Als ich sie berühre, schießen tausende Gedanken durch meinen Kopf, als würde mich ein Blitzschlag treffen. Ich zucke vor Spannung, ein lauter Schrei hallt in mir und vibriert durch meinen gesamten Körper. Dann wird mir alles klar.
»Kommen Sie nun schnell, es bleibt nicht mehr viel Zeit!«, sage ich besorgt. Die alte Frau nickt und scheint mir jetzt vollkommen zu vertrauen. Sie wirkt beruhigt und folgt mir bedingungslos in den Flur, während ich sie an der Hand halte.
»Wir müssen zum Fahrstuhl!« Genau in dem Moment geht der Feuermelder los. Aus den Türen der anderen Zimmer dringt schwarzer Rauch. Gemeinsam laufen wir durch den immer heißer werdenden Flur. Die Luft wird immer stickiger, während wir in Richtung Fahrstuhl eilen. Dieses Mal kenne ich den Weg und wir erreichen ihn schließlich. Er ist jedoch außer Betrieb. Das Feuer hat sich mittlerweile auch im Flur ausgebreitet.
»Das Treppenhaus!«, rufe ich, während die Sicht immer trüber wird.
Sie nimmt mich jedoch kaum wahr und schaut geistesabwesend um sich.
Ich nehme sie wieder an die Hand und ziehe sie durch das Treppenhaus Richtung Erdgeschoss. Der Weg nach unten findet jedoch kein Ende. Plötzlich regnet es brennende Teile herab und treffen mich. Meine Kleidung fängt Feuer. Doch ich kann mich rechtzeitig von ihr befreien und trage ein paar kleinere Verbrennungen davon. Auf die noch brennende Kleidung trete ich solange ein, bis das Feuer erlischt. »Ich brauche unbedingt die Münze!«
Unbeirrt laufen wir die endlosen Treppen weiter hinunter. Die alte Frau bricht schließlich erschöpft zusammen. Es bleibt mir keine andere Wahl, als sie den Rest des Weges auf dem Rücken zu tragen. Nach einer Weile geben auch meine Beine vor Erschöpfung nach.
Völlig unverhofft kommen wir vor einer Tür zum Erliegen, gekennzeichnet mit einem grün leuchtenden „Exit“-Schild. Endlich haben wir es geschafft.
Als wir durch die Tür hindurchgehen, finden wir uns in der Dunkelheit wieder. Man kann nichts erkennen. Die alte Frau klammert sich an mich und zittert am ganzen Körper.
Plötzlich höre ich jemanden in die Hände klatschen.
»Sehr schön, Mr. Charon! Ich wusste doch, dass Sie es wieder schaffen.«
Das Licht geht an. Wir befinden uns in einer Schwimmhalle mit einem großen Pool in der Mitte. Er ist bis zur Hälfte mit goldenen Münzen gefüllt. Ein Mann steht auf der anderen Seite des Pools und schaut mich erheitert an. Er ist apart gekleidet, mit schwarzem Anzug und roter Krawatte. Sein schwarzes Haar ist nach hinten gegelt und er trägt weiße Samthandschuhe.
»Abaddon …«
»Sie sind wahrlich ein Künstler, Mr. Charon! Die Leute liegen Ihnen wie gewohnt völlig zu Füßen!«, ruft er mit etwas Hohn in seiner Stimme.
Ich hole die goldene Münze hervor und schnipse Sie in den Pool.
»Lass das dumme Theater. Wenn du mir nicht jedes verdammte Mal Steine in den Weg legen würdest, würde das Ganze wesentlich schneller ablaufen.«
Er lacht und breitet seine Arme aus, während die alte Dame sich von mir löst und wie hypnotisiert zu ihm wandert, sich neben ihn stellt und auf etwas zu warten scheint.
»Aber aber, Mr. Charon. Wo bliebe denn dann der ganze Spaß?«
Er zieht einen seiner Handschuhe aus und greift in das Gesicht der alten Frau. Sie fängt an zu zucken und versucht sich loszureißen. Doch vergeblich. Ihre Haut wird grau und beginnt zu welken. Sie strampelt und zieht, bis ihre Kräfte sie verlassen und sie schließlich zu Asche zerfällt. Nur ihr weißes Kleid bleibt übrig und gleitet sanft zu Boden. Dann richtet er wieder seinen Blick zu mir.
»Bereit, um wieder auszuchecken? Bis du deine Schuld beglichen hast.«, sagt er nun in einem ernsteren Ton.
»Tu, was du nicht lassen kannst, du Mistkerl.«
Seine Miene verfinstert sich und er hält nun seine Hand dicht vor seinem Gesicht.
»Werd bloß nicht frech, du kleine Made. Ich kann die Sache auch erheblich qualvoller gestalten.«
Mit einem schmerzhaft lauten Knall schnipst er mit seinem Finger und hinter mir öffnet sich eine Aufzugstür. Ein Tsunami aus Wasser schießt heraus und schleudert mich mit Wucht in den Pool hinein. Dabei stoße ich mir den Kopf und alles wird schwarz, bis ich vom Todesstrudel umhergewirbelt völlig das Bewusstsein verliere.
Wie aus einem grausamen Alptraum entrissen, wuchte ich mich mit einem tiefen Röcheln nach vorne …