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Das immer gleiche Grün
Dem Mann am Steuer das Wagens rechts von mir ist das Kinn auf die Brust gesunken. Seine Augen sind geschlossen, auch wenn sie scheinen, als würden sie sich jeden Moment wieder öffnen. So fährt er geradeaus. Seine Hände halten Kurs. Sie lassen das Steuer nicht los. Unausweichlich kommt die nächste Kurve. Er lebt wohl und ist doch schon zum Tode verurteilt.
Es ist zu spät. Ich kann nicht mehr hupen, ihn anschreien: Wach auf! Ich bin weit weg von ihm, kann nicht umkehren. Kann nichts anderes als weiter. Ich lasse ihn zurück. Nur das Gefühl bleibt. Ich sollte etwas tun.
Ich kann nichts tun.
Als Hanna zum letzten Mal mit mir im Auto saß, fuhr ich langsam und überholte niemanden. Ich steuerte mit fließenden Bewegungen, die sich langsam und vorsichtig ankündigten. Gab ihrem Körper Zeit, sich gegen jede Kurve, jede Erhebung der Straße zu wappnen.
Etwas in ihr war gebrochen. Als ich morgens aus dem Gästezimmer kam, in dem ich seit Beginn des Sommers schlief, zwischen Wäsche und aussortierten Büchern, stand sie im Bad und kämmte sich die Haare, die Stirn in Falten, die Augen eng und entschlossen. Sie war allein. Laura schlief in ihrem Bettchen, Stefan bereitete wie jeden Morgen das Frühstück vor. Wenn sie den Arm zu einem neuen Bürstenstrich anhob, schrie sie leise auf.
Jemand musste sie ins Krankenhaus fahren. Ich hatte es ihr am Abend versprochen. Dort würde man sie mit Wärme und Umsicht behandeln, mit Wickeln aus Kräutern und winzigen Kugeln aus Zucker. Mit guten Worten und den Gedanken an höhere Mächte.
Fast schmerzte es mich selbst, wenn ich bremste oder beschleunigte. Etwas zerfraß Hanna. Sie würde zerfallen, wenn wir nicht aufpassten. In mir zerfiel nichts. Damit mich ihre Schreie nicht ablenkten, hatte sie Mozarts Requiem in d-Moll bis zum Anschlag aufgedreht. Frauenstimmen rasselten aus den Lautsprechern.
Sie hatte gewollt, dass ich sie fuhr. Laura würde in den Kindergarten gehen, wie an jedem anderen Tag, mit Bildern und Fragen im Kopf, die sich nicht in Ordnung bringen ließen. Stefan würde Hanna besuchen, morgen und an zahllosen anderen Tagen. Ich brachte sie heute fort. Ich weinte nicht und wurde auch nicht laut. Wir stritten nicht. Das taten wir schon lange nicht mehr. Wir waren erwachsen geworden.
Im Winter brachte ein Krankentransport sie nach Hause.
In der Nacht im Frühling saß ich lange an Hannas Bett. Gleich würde sie sich wieder aufsetzen und mit uns sprechen. Erst als sie in der Kirche aufgebahrt lag, war sie nicht mehr lebendig. Nur noch Körper - vergehende Hülle. Aber in den Händen, den kräftigen Fingern, dem zarten Rosa unter der dünnen Hautschicht - in den Händen, die sie monatelang auf Krücken getragen hatten, war etwas von ihr aufgehoben.
Ich hätte etwas tun sollen.
Ich konnte nichts tun.
Der Wagen des schlafenden Mannes wird im Rückspiegel kleiner und verschwindet in der Dämmerung.
Die Hügel zu beiden Seiten der Straße zeigen noch das gleiche Grün, die bloßen Bäume, vereinzelt Nadelbäume dazwischen. Schlamm. Gras. Autolichter.