Mitglied
- Beitritt
- 12.07.2002
- Beiträge
- 589
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Das Janusgesicht
Schon wieder ein ganzes Paket voller Fanpost! Ich hatte es doch meiner Agentur oft genug gesagt, dass mich der ganze Kram nicht interessiert. Sie sollten sich das Porto sparen und mich damit in Frieden lassen. Aber nein: Mein Agent sieht das anders. „Sie müssen wenigstens einen Teil der Briefe höflich und zuvorkommend beantworten“, meinte er, „das sind Sie Ihrem Publikum schuldig! Vergessen Sie bitte nie: Ohne Ihr begeistertes und dankbares Publikum wären Sie ein Nichts!“
Natürlich hatte er recht. Gar keine Frage. Aber trotzdem: Manchmal könnte ich ihn in den Arsch treten.
Unwillig öffnete ich das Paket. Neutrale weiße Umschläge, einige nüchtern mit maschinell geschriebener Adresse, andere mit farbiger Tinte, oder Kugelschreiber beschriftet. Flüssige und hakelige Handschriften. Alles war dabei. Und dann die farbigen Umschläge, liebevoll mit Sonderbriefmarken beklebt und zum Teil mit Girlanden, Bildchen und was weiß ich allem verziert. Wie ich das Ganze hasste!
Ein einziger Umschlag stach mir ins Auge. Er war in einem faden Beige-Ton gehalten, allerdings aus erstklassigem Büttenpapier. Die Schrift kippte leicht nach links und die Unterlängen der Buchstaben waren auffällig kurz gehalten. Trotz der guten Papierqualität war klar zu erkennen, dass die Spitze der Feder einige Male die Oberfläche des glatten Materials nicht nur angekratzt, sondern fast durchstochen hat. Welche Hand mochte diese Feder geführt haben? Zu was für einem Menschen gehört sie? Das Kuvert fiel mir auf, weil ich schon in früheren Stapeln meiner Fanpost ein ähnliches entdeckt hatte. Oder war es der gleiche Absender? Mann oder Frau? Alle anderen Briefe landeten ungeöffnet im Papierkorb.
Ich war nach der Probe hundemüde. Mein Regisseur war wieder einmal unerbittlich. ‚Ist ja klasse, wenn mich der Hund fordert’, sagte ich zu mir selbst, ‚aber als gefeierte Schauspielerin auf dieser international berühmten Bühne werde ich schon selbst wissen, wie die von Shakespeare so gekonnt gedrechselten Sätze und Verse zu interpretieren sind. Ich bin schließlich keine Anfängerin mehr!’ Ich setzte mich in den großen Polstersessel und legte die schmerzenden Beine hoch. Die Neugier packte mich und ich öffnete den beigen Umschlag. ‚Verdammt, jetzt brauche ich auch dafür schon eine Lesebrille. Ich werde nicht jünger.’
„Sehr verehrte, gnädige Frau“, las ich, „Sie kennen mich nicht, aber sähen Sie genau ins Parkett, würden Sie mich erkennen. Ich verfolge Ihre Vorstellungen alle vom gleichen Platz aus, in der vierten Reihe. Alle – ausnahmslos! Als Lady Macbeth sah ich Sie gestern schon zum sechsten Mal. Der dämonische Tonfall in Ihrer Stimme, gepaart mit dem eisigen Grau Ihrer Augen und dem zynischen Gesichtsaudruck, treibt mir jedes Mal eiskalte Schauer über den Rücken.....“ Meine Augen sprangen zur Unterschrift: „Walter, Freiherr von Heggersdorff“. Die Unterschrift unterschied sich kaum vom Text davor. Keine markanten, oder schwungvollen Linien; alle Buchstaben einzeln klar und deutlich erkennbar. Die Unterlängen der beiden G’s verkürzt. ‚Wer war dieser Kerl? Welcher Sitz in der vierten Reihe? Links, oder rechts?’ Ich ertappte mich, wie ich vor mich hin murmelte.
Ich spreche oft mit mir selbst. Am liebsten in der Garderobe, vor dem großen Spiegel über dem Schminktisch. Hier konnte ich mit mir kommunizieren, nicht nur reden. Wichtiges konnte ich mit einer entsprechenden Handbewegung unterstreichen und hervorheben, Unwesentliches mit einer abfälligen Geste über Bord werfen. Und ich schaffte es, in meinen Selbstgesprächen auf die einstudierte Theatersprache zu verzichten, gestattete mir klare, direkte Ausrücke, konnte einfach ‚Ich’ sein. Das war wohltuend.
‚Gut, mein lieber Freiherr von Dingsbums, ich werde auf dich achten. Versprochen! Die vierte Reihe hat in unserem Theater links und rechts je etwas über zwanzig Sitze, aber ich werde Mittel und Wege finden, dich zu erkennen, keine Angst! Und wenn ich einen der Platzanweiser bestechen muss.’
Nur fünf Tage später hatte ich ihn geortet. Es war in einer Faust-Vorstellung. Wenn ich auch das optimale Alter für die Gretchen-Besetzung überschritten habe, gelang es mir trotzdem, das Publikum zu stehenden Ovationen hinzureißen. Er saß im Parkett rechts, zweiter Platz neben dem Mittelgang. Aber gleich beim Beginn des Schluss-Applauses erhob er sich und trieb die anderen Zuschauer mit seinem intensiven Klatschen zu einem wahren Begeisterungssturm. Hunderte Füße ließen den Theaterboden mit ihrem Trampeln erzittern.
Keine Frage: das musste er sein. Der Freiherr auf Platz Nummer 22 in der vierten Reihe.
„...Sie waren hinreißend mit ihrem Charme, den Sie als Gretchen versprühten. Ihr hingebungsvolles Lächeln verzaubert...“, las ich am nächsten Tag im beigen Brief. Beim „ä“ von Lächeln hatte die Feder das Papier glatt durchstochen.
Früher oder später musste es so kommen: nach der Samstagsvorstellung stand er mit einem Blumenstrauß vor meiner Garderobe. Aber dann drückte er mir die Blumen in die Hand und verschwand, ohne ein Wort herausgebracht zu haben. Kaum, dass er mir für eine Sekunde in die Augen schaute. Ein junger Mann, der in seiner Gehemmtheit so gar nicht zum Bild des geschliffenen „Freiherrn“ passte, den er in seinen Briefen zu vermitteln versuchte.
Die beigen Umschläge kamen weiterhin nach jeder Vorstellung. Egal was ich gab, er fand mich in allen Rollen bewundernswert und verstand es, dies so auszudrücken dass die alten Dichterfürsten ihre helle Freude an seinen Briefen gehabt hätten. Es blieb die einzige Fanpost, die ich mit Interesse las. Nicht das Lob faszinierte mich, sondern die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen und dem – nicht gesprochenen – Wort. ‚Verdammt, was musste der Freiherr für ein Mensch sein?’ ging es mir durch den Kopf. Neben der Neugierde erwachte jetzt auch der Spieltrieb in mir.
Es war Donnerstag, wieder Faust. Und wieder saß er auf Platz 22. Und erneut stand er nach der Vorstellung vor meiner Garderobe. Ich schenkte ihm mein hingebungsvolles Lächeln, das er von der Bühne kannte.
Seine schwarzen Schuhe erstrahlten im Hochglanz. „Ich...ich...ich“, die Stimme versagte ihm den Dienst.
‚Medium-Light’, sagte ich mir, ‚wenn ich seinen Mut klassifizieren müsste, könnte ich ihn in die Kategorie Medium-Light stecken, aber nur, wenn ich ihm wohl gesinnt wäre. Ehrlicher wäre eine Einstufung in Light mit einer starken Tendenz zu Extra-Light. Mit dem starr auf seine Fußspitzen gerichteten Blick polierte er seine schwarzen Schuhe nach.
Mein Lächeln wirkte und löste etwas seine Zunge. Wir verabredeten uns auf ein Glas Wein im Theatercafé.
Ich betrat das Café durch den Hintereingang und blieb im Schatten des Türbogens stehen. Natürlich konnte er nicht wissen, dass es einen Zugang gab, der nur uns Künstlern offen stand. Er hatte einen Platz gewählt, von dem aus er den Haupteingang im Blickfeld hatte. Kerzengerade saß er am Tisch, seine Augen starr auf die Türe gerichtet. Er unterbrach diese Haltung nur alle paar Sekunden, um auf die Armbanduhr zu schauen. Die Weinkarte lag unberührt vor ihm. Er wartete mit der Bestellung auf mich.
‚Ein wohlerzogener Junge’, sagte die Stimme in mir, und ich fühlte den Altersunterschied schmerzhaft in meinem Herzen. Mit etwas Glück hätte ich glatt seine Mama sein können.
Wir hatten uns den zweiten Wein servieren lassen.
"...und dann dieses verschmitzte Lächeln, an dem man ablesen kann, was sich in Ihrem hübschen Kopf gerade abspielt...".
Ich hörte gar nicht mehr zu. ‚Wenn der Kerl nicht bald mit seinen Lobhudeleien aufhört, werde ich wahnsinnig’, brummelte es in mir. Und laut zu ihm mit einem süßen Unterton: „Hätten Sie Lust, mal einer Probe beizuwohnen?“ Nachdem wir uns für den nächsten Vormittag verabredet hatten, gingen wir auf getrennten Wegen nach Hause.
„Und ich werde diese verdammte Textstelle so betonen, wie es mir beliebt“, warf ich gerade dem Regisseur an den Kopf, als ich sah, wie der Freiherr den Zuschauerraum durch einen der Seiteneingänge betrat. Der Alte hatte den Beginn der Probe kurzfristig um eine halbe Stunde vorgezogen. Deshalb waren wir zum verabredeten Zeitpunkt schon an der Arbeit und ich konnte den Gast nicht begrüßen. Der Beleuchter mischte sich in den Streit ein und ergriff unverfroren die Partei des Regisseurs. Mit einem eisigen Blick brachte ich ihn zum Schweigen. ‚Dir werde ich es heimzahlen, du Hosenscheißer.’ Danach würdigte ich ihn die ganze Probe keines Blickes mehr.
Ich war nicht bei der Sache und die Konzentration war im Eimer. Dank meiner Routine konnte ich die Hänger elegant umschiffen. Es fiel kaum einem auf. Kaum einem, ja, IHM aber sehr wohl. „Gnädige Frau, gibt es unterschiedliche Textbücher zum gleichen Theaterstück?", fragte er mich nach der Probe. "Vielleicht liegt es an der Übersetzung. Aber in meinem Buch heißt es nach dem Stichwort ‚Ehekrieg’: „Sie hätten ihn besser erdrosselt...“. Ich erinnere mich an Ihre mit überzeugender Bitterkeit durch zusammengepresste Lippen gepressten Worte „Sie hätten ihn besser ermordet“..... sicher wäre es aufs Gleiche herausgekommen, aber es ist nicht Originaltext.“
‚Was glaubt sich dieser kleine Stinker herausnehmen zu können? Mich, die unagefochtene Queen auf dieser Bühne, zu kritisieren? Soll ich jetzt lachen, oder weinen?’ „Ich genieße meine künstlerische Freiheit“, entgegnete ich. Etwas platteres fiel mir nicht ein. Mein Stolz war angekratzt. Aber der zynische Theater-Gesichtsausruck, den ich aufsetzte, wirkte überzeugend auf ihn. Ihn interessierte nur die Schauspielerin in mir. Also soll er bekommen, wonach ihm verlangt.
Aber die Fülle von beigen Umschlägen, die mir in den nächsten Tagen zugestellt wurden, landete zusammen mit der übrigen Fanpost im Papierkorb.
Es dauerte fast drei Monate, bis Platz Nummer 22 in der vierten Reihe das erste Mal unbesetzt war während einer meiner Vorstellungen.