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Das kalte Mädchen

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23.01.2014
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Das kalte Mädchen

„Tu das nicht! Es wird viel zu kalt heute Nacht.“
Sie stand auf, verabschiedete sich, verscheuchte ein dunkles Gefühl.
„Deine Mutter würde das nicht wollen“, sagte einer.
Mama. Mama hatten sie eines Morgens ins Krankenhaus gebracht. Ihr böses Bein. Oder der Husten. Oder beides.
„Ich bin morgen zurück, Kleines.“
Sie kam nie zurück. Wie lange war das her? Immer wieder fragte sie die anderen.
„Wann kommt Mama wieder?“
Zuerst sagten sie „bald“. Dann antwortete keiner mehr. Irgendwann hörte sie auf zu fragen.
Manchmal tauchten Leute auf, dann versteckte sie sich. Sah zu, wie sie herumfragten und alle den Kopf schüttelten. Sie wollte nicht weggeholt werden. Nicht in ein Heim. Nicht zu fremden Menschen. Sie wollte hier bleiben. Was, wenn Mama zurückkäme und sie wäre nicht mehr da?
Vor einer Stunde hatte sie sich mit all den anderen aus den alten verschlissenen Decken gewühlt, die längst feucht und muffig geworden waren hier unter der Brücke. Eine rollte sie zusammen und steckte sie in die große alte Tasche, in der sie ihre Habseligkeiten von Ort zu Ort schleppte.
Nur nicht in diese grausige Unterkunft! Wo alles hässlich war und es manchmal nach abgestandener Pisse stank und nach schmutziger Kleidung. Wo sie zusammen mit fremden Frauen in einen Raum musste. Manchmal mitleidige Blicke bekam. Wo man ihr immer Fragen stellte und sie Angst hatte, dass man sie wegbringen würde und sie nicht am nächsten Morgen zurück zur Brücke gehen durfte.
Sie fühlte sich leicht, als sie aufbrach. Sie dachte an die saubere kalte Luft, die Stille, den Sternenhimmel.
„Bis morgen!“, sagte sie.
„Aschenputtel!“
Sie blieb stehen, blickte sich um. Der alte Matthias schälte sich aus seinen Decken und ging ihr ein paar Schritte hinterher. Vielleicht war er gar nicht so alt. Er hatte sich um sie gekümmert, als sie ankamen. War freundlich zu Mama und ihr. Zeigte ihnen einen Platz, wo der Wind weniger blies.
„Warum nennst du mich so?“
„Weil du so hübsch bist wie das Aschenputtel. Meinst du, das können nur Prinzen sehen?
Und weil du so kleine Füße hast. Und trotzdem Blasen.“
„Nicht trotzdem. Deswegen. Ich schwimme in den Schuhen herum, weil sie zu groß sind.“
„Glaubst du an das Drüben?“
„Wieso fragst du mich das?“
„Weil ich Angst habe, dass du an irgendeinem Morgen nicht zurückkommen wirst, Aschenputtel.“
„Wie soll ich das wissen? Ich war noch nie Drüben“
Natürlich glaubte sie. Mama war schon so lange fort. Wo sollte sie sonst sein, wenn sie nicht zurückkommen konnte. Sie war Drüben. Und von da gab es keinen Weg zurück. Man konnte nur hin.
Die anderen sahen ihr nach, als sie wegging, machten sich auf den Weg in die Unterkunft. Es war zu kalt geworden unter der Brücke. Kopfschütteln. Zu müde, um sich Gedanken zu machen, zu kalt zum Stehenbleiben.
Mond und Schnee erhellten die Wiesen am Flussufer. Kahle Bäume mit knorrigen Armen, gespreizten Fingern. Die Bewegung tat ihren kalten Beinen gut. Ihr Ort war nicht weit vom Weg. Nur ein paar Schritte in ein Gebüsch, das in seinem Inneren Platz bot für sie. Es versteckte sie, behütete sie. Dort war sie nicht weit weg und doch allein. So wollte sie es. Die anderen taugten nicht zum Reden oder Ankuscheln an kalten Abenden. Da war keiner, der ihr mal eine Geschichte erzählte. Keine wahre und keine erfundene. Viele tranken Wein oder Schnaps, damit sie besser schlafen konnten und dann redeten sie entweder nichts mehr oder dummes Zeug.
Nur mit Mathias konnte sie sich manchmal unterhalten. Über Mama. Über ihr Leben davor, an das sie sich immer weniger erinnern konnte. Wenn sie nicht mehr davon erzählte, würde sie jeden Tag ein Stück mehr verlieren.
Matthias hörte gern zu. Nur von sich selbst erzählte er nie. Nicht mal, wenn sie fragte.
"Alles vergessen", antwortete er. Aber das wollte sie nicht. Auf gar keinen Fall.
Einmal hatte sie ihn gefragt, ob er sich wirklich an gar nichts erinnerte.
„Weißt du“, erklärte er, „das mit dem Erinnern ist so eine Sache. Es kann schön sein, wenn es schöne Dinge sind, die man behalten will. Es kann ein Schatz sein, der einem immer gehören wird. Es kann aber auch sehr traurig machen. Wenn man fühlt, was man verloren hat, dann hält man das Hier und Jetzt noch viel schwerer aus.“
„Aber wenn alles verschwindet, vergesse ich doch auch, dass das Hier und Jetzt nicht für immer bleiben soll?“
Der alte Matthias legte seine Arme um sie.
„Da hast du ganz Recht, Kleines.“

Ein ganzes Jahr schon ging sie an diesen Ort. Nicht jede Nacht, aber oft. Sie hatte ihn niemandem gezeigt. Auch Matthias nicht.
„Aha, die junge Madame geht wieder ins Grüne“, sagte manchmal einer der anderen.
Aber sie hielt sich nicht für etwas Besseres. Es war einfach schön, diesen Platz für sich zu haben. Mit dem klaren Himmel, der guten Luft, dem Blätterrauschen im Sommer, wenn ein milder Wind durch die Zweige fuhr.
Sie setzte sich in den Schnee. Es war kalt auf dem Weg dorthin. Die alte Winterjacke wärmte wenig. In den zu großen Stiefeln versuchte sie, ihre Füße zu bewegen. Aber jetzt waren ihre Zehen steif und gefühllos geworden. Ob sie sich überhaupt noch krümmen ließen? Ihre Hände froren in den löchrigen Taschen. Trotzdem! Es war eine schöne Nacht, sogar schöner als im Sommer.
Sie war sehr müde. Der Rücken schmerzte da, wo sie an einem Stamm lehnte.
Ihre Sinne meldeten Dinge, die nicht sein konnten. Die Füße schmolzen. Ihre Hände, Kälte wie Verbrennen. Wie Feuer. Sie verstand nichts. Nicht, warum das jetzt so wehtat. Auch nicht mehr, warum sie dort war, wo sie war. Die Kälte machte alles langsam. Auch ihr Denken. Vorhin noch wusste sie es. Allmählich fanden die Gedankenfetzen wieder zusammen. Das Vergessen war so nah.
„Komm mit!“, hatten sie gesagt. „Es ist zu kalt.“
„Geht ihr schon! Ich schau mal. Vielleicht komm ich nach. Oder ich geh in die Bank oben an der Straße. Wenn’s ganz arg wird.“
Man konnte hineinschlüpfen, wenn einer den Vorraum verließ, nachdem er Geld gezogen hatte. Wenn man schnell war und die Tür erwischte, bevor sie zufiel. Aber sie würde nicht in die Bank gehen. Nicht ein zweites Mal. Es war warm dort. Aber die Menschen, die reinkamen und sie dort liegen sahen und dann so taten, als wäre sie unsichtbar! Sich abwendeten voller Abscheu, als hätte sie eine ansteckende Krankheit mit hässlichen Pusteln im Gesicht, als wäre sie nicht nur ein müdes Mädchen, das draußen fror. Vielleicht wollten sie auch nicht daran denken, dass nicht alle Menschen ein paar Zahlen in eine Maschine tippen konnten und dann das Geld mitnehmen, das sie für einen Einkaufsbummel brauchten oder ein leckeres warmes Essen. Der Blick von einem Mann saß ihr tief im Gedächtnis. Der Schrecken darin, als er sie hinter dem Geldautomaten liegen sah. Sein Ekel. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so geschämt. Für alles. Dafür, dass sie so war, wie sie war. Dafür, dass sie da war, wo sie nicht sein durfte. Dafür, dass es sie gab.
Sie war viel lieber in ihrem Versteck. Im Sommer hörte sie oft noch bis spät nachts Stimmen von Spaziergängern. Manchmal einen Hund, der zu nah kam. Aber es war nicht Sommer.
Sie legte ihre Arme um sich. Dann kam das Zittern. Überall. Sie versuchte es abzustellen. Einfach aufhören. Halt still. Entspann dich! Aber es nahm Besitz von ihr. Schüttelte sie. Am schlimmsten am Nacken. Dann an den Schultern. Krämpfe. Die Muskeln wollten nicht mehr. Wollten endlich Ruhe.
Das bisschen Wärme, das sie vom Gehen noch im Körper hatte, war längst verflogen. Sie sollte jetzt bei den anderen sein. Aber auch dieser Gedanke verschwand, als die Schmerzen in ihren Gliedern nachließen. Sie erinnerte sich an eine warme Küche. An den Geruch nach Essen. Nach ihrer Lieblingssuppe mit Kartoffeln und Lauch und Würstchen. An eine Stimme, die sie an den Tisch rief. An Mamas Lachen.
Schritte. Kam jemand? Wieder Stille.
Sie sah Mama, die abends an ihrem Bett saß und ihr vorlas oder fragte, wie ihr Tag gewesen war. Wie gut es tat, ihr Dinge zu erzählen, die sie bedrückten! Sie fühlte das sanfte Streicheln über ihr Gesicht, bevor sie aufstand und das Licht löschte. Sie spürte den Kuss an ihrer Wange, wenn sie sich morgens auf den Weg in die Schule machte. Hörte das fröhliche Geplapper ihrer Freundinnen, die sie an der Ampel über die Hauptstraße traf.
Sie saßen in benachbarten Bänken in der Klasse, tuschelten und lachten, bis manchmal eine Lehrerin sie versetzte, weil sie zu viel schwätzten und zu wenig zuhörten. Sie trafen sich an den Nachmittagen. Manchmal durften sie beieinander schlafen. Dann unterhielten sie sich die halbe Nacht. Sie wusste ihre Namen noch.

Endlich kam die Wärme zurück. Zu viel jetzt. Zu viel und zu schnell. Sie riss sich die Jacke vom Körper. Die Stiefel von den Füßen.
Endlich war das Zittern weg und eine wunderbare Stille kehrte ein. Sie betrachtete den Mond. Fast voll war er. Es fehlten nur noch ein oder zwei Tage. Man konnte aus der Rundung ein Z machen. Ein komisches, mit einem Bauch oben anstatt eines spitzen Zackens. Z wie zunehmend. Ihre Mama hatte ihr erklärt, wie man bestimmen konnte, ob der Mond zu- oder abnahm.
Durch die Zweige betrachtete sie die weiße beschienene Fläche, wo an einem Sommertag eine Wiese war, wo so viele Menschen saßen, sich unterhielten, aßen und tranken, spielten.
Den harten Baumstamm im Rücken spürte sie nicht mehr. Noch einen Augenblick hinlegen. Ausstrecken. Ganz kurz nur. Ihrem müden Körper Ruhe gönnen, jetzt, wo er nicht mehr zitterte.
Durch eine Lücke in den Ästen sah sie ein paar Sterne. Winzige Punkte mit wenig Licht. Der Mond schien zu hell. Sie erinnerte sich an eine Empfindung, die sie als kleines Mädchen gehabt hatte. Nur an das Gefühl, nicht an mehr. Ein „Alles ist gut.“-Gefühl. Ein kleines Glück, für das kleine Kind, das sie gewesen war. Später erst kam die Ahnung, dass es ein großes verlorenes war.
Gleich würde sie nach Hause gehen. Aber noch nicht jetzt. Jetzt war es zu schön, zu friedlich.
Im Einschlafen hörte sie wie aus weiter Ferne das Knirschen von Schritten auf dem Schnee, feste eilige Schritte, ein Knacken von Zweigen. Atemgeräusche. Wo sie eben noch Sterne betrachtet hatte, tauchte ein dunkles Gesicht auf.
„Hab ich’s mir doch gedacht, Aschenputtel.“
Zwei starke Arme ergriffen sie, hoben sie hoch, wickelten sie in Decken. Kräftige Hände rubbelten ihren Rücken, ihre Schultern und Arme.
„Es ist doch noch viel zu früh für Drüben.“
„Matthias“, murmelte sie.

 

Der Text hätte auch einen Absatz früher enden können. Mit "zu friedlich". Die Entscheidung fällt mir schwer. Aber wenn ich drauf warte, bis sie reif ist, lade ich den Text nie hoch.

 

Hallo @wander ,
da du seit 2014 hier im Forum bist und bereits etliche Geschichten hochgeladen hast, will ich mich dieser Geschichte anders als der einer Debütantin widmen.
Ich habe leider noch keinen anderen Text von dir gelesen, aber vielleicht ist das auch gut so für ein unvoreingenommenes Kommentieren.

Was mir auffällt:
Immer wieder hatte sie die anderen gefragt.
Zuerst sagten sie „bald“. Dann antwortete keiner mehr. Irgendwann hörte sie auf zu fragen.
Manchmal kamen Leute, dann versteckte sie sich. Sah zu, wie sie herumfragten und alle den Kopf schüttelten.
Sie wollte nicht weggeholt werden. Nicht in ein Heim. Nicht zu fremden Menschen. Sie wollte hier bleiben bei den anderen.

Diese Anderen, die Leute, sie, oder keiner und alle, die du nicht weiter charakterisierst, erwähnst du in deinem Text noch häufiger, nicht nur in obigem Beispiel.
Die Menschen im Umfeld des Mädchens, die offensichtlich viel Zeit und Lebenssituationen mit der Protagonistin teilen, bleiben nebulös, formlos, geisterhaft. Sie bleiben uns fremd.
Schade, hier hast du Potenzial verschenkt, dem Leser das Leben der Wohnungslosen greifbarer zu machen und damit auch „Aschenputtel“ lebhafter und fassbarer zu gestalten.
So durchläuft sie als „kaltes Mädchen“ die Erzählsituation und wirkt von Anfang bis Ende bereits erstarrt. Man nimmt ihr die verzweifelte Suche nach der Mutter eingangs nicht ganz ab, das hätte man mit Hilfe der „anderen“ dramatischer aufziehen können.
Damit hättest du dann auch erreicht, dass die jungen Leser eine stärkere Empathie für das Mädchen entwickeln und mitfiebern, dass es doch am Ende gerettet werden möge.

Einzig Matthias, der auch die Mutter deiner Prota kannte, gewinnt etwas an Substanz.
Aber auch diesen Retter mit den starken Armen und den weisen Gedanken hättest du anfüttern können, damit wir ihn besser packen könnten.

Etwas zum Schreibstil:
Aber es nahm Besitz von ihr. Schüttelte sie. Am schlimmsten am Nacken. Dann an den Schultern. Krämpfe.
Solche Satzfragmente finden sich zuhauf in deinem Text.
Es scheint bei jungen Leuten neuerdings normal zu sein, keine vollständigen Sätze mehr zu bauen.
Kommt sicher vom WhatsAppen. Da muss man kurz. Und alle verstehen.
Läuft! Als Stilmittel. Als Ausruf. So ab und zu.
Aber bitte nicht ständig!
Dass ich von der alten Schule bin, merkst du daran, dass ich jetzt wieder sage: „Früher …, ja früher wurde uns eingetrichtert: Ein Satz ist eine vollständige Aussage.
Sie besteht mindestens aus Subjekt und Prädikat, (Matthias schläft.)
Und alles andere wurde uns als dreifach zählender Grammatikfehler angestrichen.

Dazu sollte ich noch erwähnen, dass du in den vollständigen Sätzen häufig das Hilfsverb „war“ verwendest.
Beispiel:
Sie setzte sich in den Schnee. Es war kalt gewesen auf dem Weg dorthin.
Sie war in einer Atemwolke gegangen.
Die alte Winterjacke wärmte wenig. In den zu großen Stiefeln versuchte sie, ihre Füße zu bewegen. Aber jetzt waren ihre Zehen trotzdem gefühllos geworden. Sie spürte nicht, ob sie sich überhaupt noch krümmen ließen. Ihre Hände froren in den löchrigen Taschen. Trotzdem! Es war eine schöne Nacht, sogar schöner als im Sommer.
Sie war sehr müde geworden.

Es wäre schön, wenn du deinen Text einmal daraufhin untersuchen würdest und gleichzeitig den Versuch unternähmst, Hilfsverben durch starke Verben zu ersetzen.

Inhaltliches:
Rechtlich gesehen halte ich die Begebenheit in dem Bankenvorraum für nicht akzeptabel.
Ein Mann, der dort abends oder nachts ein verwahrlostes minderjähriges Mädchen sieht, macht sich ja (fast?) strafbar, wenn er das nicht dem Jugendamt meldet.
Dem gesamten Text meine ich anzumerken, dass das Thema für dich selbst noch nicht ganz durchdrungen ist.
Offensichtlich ist dir in der Realität ein Leben auf der Straße nicht präsent.
Die Angst, Gewalt, Hunger. Gestank, Exkremente, Kälte, Drogen, Prostitution und die Ablehnung durch Mitmenschen kommt so für mich noch nicht rüber. Da reicht es nicht, wenn man in einem Satz von alkoholvernebelten Komunikations-Misserfolgen spricht.
Da fehlt noch etwas, bis sich mir als Wohlstandsbürgerin der Magen umdreht.


Du stellst du den Text in die Krümel-Challenge?
Gut, grundsätzlich würde das nach einer strammen Überarbeitung gehen.
Viel Glück dazu!

Und: Ich habe mich gerne mit deinem Text auseinandergesetzt und finde das Thema “Straßenkinder“ sehr wichtig.

Ich grüße dich
kathso60

 

Vielen Dank fürs Kommentieren, @kathso60 ,
ich habe noch selten einen Text hier hochgeladen, bei dem ich unsicherer war. Ich habe bei deinen Kommentaren gleich gemerkt, dass wir uns nicht recht verstanden haben. Ich wollte hauptsächlich aus der Gedankenwelt des Mädchens heraus schreiben. Und die vollzieht sich beim Erfrieren bestimmt nicht in kompletten Sätzen mit Subjekt und Prädikat zwischen zwei Punkten. Daher das Fragmentarische. Für mich ist diese Sprache eine Möglichkeit, Gedankenfetzen und Gefühle einzufangen. Und die verschieden Zeitebenen beim Erinnern bedingen manchmal den Gebrauch des Plusquamperfekts, und da komme ich nicht gut an "war" und "hatte" vorbei. Ich habe mich trotzdem bemüht, Wiederholungen, die den Text holprig machen, zu vermeiden.
Aber alles in allem kann und will der Text nicht das erfüllen, was du an Ansprüchen an ihn stellst. Z.B. an die Komplexität der Figuren. Die "anderen" sind einfach die "anderen", gerade weil sie nicht allzu viel Bedeutung haben. Wenn es ums Überleben und um die nackte Existenz geht, stelle ich mir vor, dass jeder hauptsächlich bei sich ist und Beziehungen nur schwer geknüpft werden können. Ich erkläre das auch mit der "dicken ledernen Haut" um die Seele. Darum lassen sie das Mädchen auch einfach gehen. Die Szene in der Sparkasse habe ich nicht juristisch betrachtet. Unter solchen Blickwinkeln ist manches eher unglaubwürdig. Auch, dass das Mädchen nicht konsequenter von den Behörden gesucht wurde.
Du schreibst am Ende, du fändest das Thema "Straßenkinder" interessant. Aber viel näher als bei diesem Thema war mir das Märchen von H.C. Andersen: "Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern". Ein Märchen, das mich als Kind sehr berührt hat. Vielleicht kann man den Text eher unter diesem Gesichtspunkt sehen. Deshalb habe ich auch den Tag "Märchen" gesetzt. Und vielleicht hätte ich mir wirklich das Happy End verkneifen sollen. Da hat mich wohl der Mut verlassen. Oder ich ändere das noch.
Ich bin trotzdem alles andere als sicher, ob das "Wie" adäquat ist für das, was ich versuchen wollte.
Vielen Dank nochmal. Und ob der Text in die Challenge passt.
wander

 

Und ob der Text in die Challenge passt.
Auf jeden Fall. Wehe, du nimmst ihn wieder raus. Ich finde das Thema und auch deine Herangehensweise ausgesprochen mutig und würde im Nachhinein was vermissen. Ich finde auch, dass es eine Kindergeschichte ist. Nicht nur, natürlich, aber ich meine, dass auch Kinder sie verstehen können. Etwas ältere vielleicht. Ich bin mir fast sicher, dass es auch viele Kinder geben wird, die sie nicht mögen, aber ich weiß nicht, manchmal ist das eben so, dass Geschichten nicht alle ansprechen können.
So ... und jetzt komm ich zu ein paar Überlegungen.

1. Der Titel hat mich sehr angesprochen. Er klingt wie das Märchen "Das kalte Herz". Und dann hast du auch noch Märchen getaggt. Aber dafür hat die Geschichte dann irgendwie doch zu wenig Märchenhaftes. Da fühl ich mich grad sehr unsicher, ob ich persönlich den Tag rausnehmen würde und die Geschichte an ein paar Punkten realistisch angleichen würde. Oder ob man sie eher in die Richtung des Märchenhaften wendet. Im Moment kommts mir noch etwas unentschlossen vor.

2. Die Gesichts- und Gestaltlosigkeit der sie umgebenden Menschen ist natürlich auch mir aufgefallen. Ich fand das aber eigentlich ganz gut, weil das für mich so sehr die Starre zeigt, in der das Mädchen lebt. Sie lebt, schon bevor sie am Erfrieren ist, wie hinter einer Glasschicht, so unglücklich und allein und erstarrt ist sie in dieser mitleidlosen Welt. Ich finde das hast du oft sprachlich sehr schön gezeigt. Die Stelle mit der ledernen Haut um die Seelen zum Beispiel. Aber auch sonst fließt das Erzählte. Mit den Satzfragmenten hatte ich allerdings auch keine Probleme. Vielleicht bin ich das mittlerweile gewöhnt, ich weiß es nicht. Ich denke mir auch, wenn Menschen innerlich reden, dann denken sie nicht in vollständigen Sätze, sondern eher fragmentarisch.
Nur manchmal, da gebe ich @kathso60 Recht, da könntest du die Armee von Hilfsverben noch mal durchforsten.
Ich mach mal wenige Beispiele:
Zum Bsp. brauchst du das PQP ja nicht immer ausdehnen.

Der alte Matthias war aufgestanden und ihr ein paar Schritte nachgegangen. Vielleicht war er gar nicht so alt. Aber er war schon immer hier gewesen.
Der Geschichte täts keinen Abbruch, wenn du einfach schreibst: Der alte Matthias stand auf und ging ihr ein paar Schritte nach. Ich hab die Sätze vorher nicht mehr im Kopf, aber es dürfte ein Klacks sein, das anzugleichen. Dann hast du jedenfalls schon mal ein "war" weniger.
Das "war schon immer hier gewesen ..." könnte man im Prinzip auch ersetzen. Vielleicht so: ... war er gar nicht so alt, aber er gehörte zu der Brücke wie die grauen Stützpfeiler.

Eine seltsame Leichtigkeit war in ihr, als sie aufbrach.
Auch dieses "war" ist ersetzbar. "keimte in ihr" irgendwie sowas. Du findest bestimmt was Besseres als ich auf die Schnelle.

Durch eine Lücke in den Ästen über ihr konnte sie ein paar Sterne sehen.
Oder hier "konnte" streichen: Durch eine Lücke ... sah sie ein paar Sterne.

3. Die Szene in der Sparkasse. Hmm, ich hab sowas Ähnliches schon mal selbst gesehen, erlebt, wie auch immer. Das Problem dabei war aber eher, dass der Obdachlose, der sich wärmen wollte, gar nicht lange in den Sparkassenvorraum reinkam. Die Angestellten haben den sowas von schnell rausgeschmissen, so schnell konntest du gar nicht gucken. Vielleicht wäre das bei einem Kind anders. Aber irgendwie denke ich mir, die Kunden würden die Angestellten informieren, die würden die Kleine auch rausschmeißen und die Polizei anrufen. Vielleicht denkst du dir einen anderen Ort aus, der weniger überwacht ist als eine Sparkasse. Bei uns in Frankfurt liegen die Obdachlosen oft in den Eingängen zu den Kaufhäusern. Nachts natürlich. Die Polizei kümmert sich nicht darum. Jedenfalls habe ich das noch nie gesehen. Und die Vorbeigehenden sind natürlich entsetzt, geekelt, all das in sämtlichen Schattierungen. Außerdem gibt es da unsichtbare Regeln, wer wohin gehen und übernachten darf, das weiß ich von einem Bettler aus Italien, der immer vor DM sitzt, dem ich regelmäßig was gebe und der mit mir immer ein paar Brocken Italienisch spricht. Sie würde also nicht nur die Blicke der Vorbeigehenden ertragen müssen, sondern könnte auch mit bösen Worten von den anderen Obdachlosen vertrieben werden. Aber du wirst da schon eine Lösung finden.

3. Zum Ende. Ich persönlich würde sie nicht sterben lassen. Das widerstrebt mir irgendwie. Ich würde den Matthias sie retten lassen. Der macht doch den netten Witz mit den Füßen und den Blasen. Der kümmert sich um die Kleine. Vielleicht kannst du ihm noch ein bisschen mehr Platz gewähren, wie kathso60 das vorschlägt, damit er konturenreicher wird.
Die andere Möglichkeit wäre, du schreibst mehr von ihren Fantasien während des Erfrierens, dann wird das wirklich zu einer Hommage an das Märchen. Und ginge dann wieder, weil das Mädchen am Ende ihres Lebens zumindest voller schöner Bilder gehen kann. Und diese schönen Bilder sind bei dir sehr verhalten momentan noch.

So, das waren meine fünfzig fennje, ich habe deine Geschichte supergerne gelesen und darüber nachgedacht, weil ich den ganzen Ansatz für sehr mutig halte und sehr interessant. Er ist auf jeden Fall eine Bereicherung dieser Challenge.
Viele Grüße von Novak

 

hallo @Novak, du gibst mir viel auf zum Nachdenken und das werde ich auch gern tun. Ich freu mich, dass dir der Ansatz m Grunde gefällt. Ich melde mich nach dem Grübeln und dem Überarbeiten. nochmal. Jetzt fürs Erste nur mal schnell Danke.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @wander,
ich noch einmal.
Aufgrund deiner Kommentarantwort und des Kommentars von @Novak habe ich den Eindruck, dass du doch sehr angefressen bist von meiner Ausführung zu deiner Geschichte.
Das möchte ich so nicht stehen lassen, weil es meiner Intention nicht entspricht.
Ich wollte den Text nicht heruntermachen sondern runder machen.
Dass du deinen Text einzig auf das Mädchen hin konzipiert hast, das an diesem Abend beschlossen hat, dem elenden und nach dem Tod der Mutter für es sinnlosen Leben ein sanftes Kälteende zu setzen, habe ich leider nicht als vorrangig erkannt.
Beim Lesen wurde mir leider nicht klar, dass das Mädchen völlig am Ende ist und für sich keine Hoffnung auf Besserung der Lebensumstände sieht.

Ich rätsele jetzt, woran es liegt, dass ich das nicht so stark erkennen konnte.

Ich habe den Text aus dem Blickwinkel von Jugendlichen durchforstet, und da dachte ich, die bräuchten ein bisschen mehr Speck, um die scheinbar ausweglose Situation des Mädchens nachzuspüren.

Manchmal kamen Leute, dann versteckte sie sich. Sah zu, wie sie herumfragten und alle den Kopf schüttelten.
Sie wollte nicht weggeholt werden. Nicht in ein Heim. Nicht zu fremden Menschen. Sie wollte hier bleiben bei den anderen.

Ich habe die Textstelle so aufgefasst, dass alles zwar trostlos ist, sie aber doch eingebettet ist in den Kreis der anderen.
Dass die anderen unter der Brücke sie doch schützten, zumindest, wenn Leute nach ihr fragten, die sie wegholen wollten.
Weg von denen wollte sie ja nicht, sie wollte nicht zu fremden Menschen.
Ergo sind die Brückenmenschen doch so etwas wie eine Ersatzfamilie für sie.

Ich habe mich in meinem Erstkommentar leider auch nicht zu deiner brennenden Frage geäußert, ob das Ende = das Mädchen wird gerettet so stehenbleiben soll.

Jawoll! Soll! Warum?

1. Deine Geschichte soll ja märchenhaften Charakter haben, und Märchen gehen für die Guten immer gut aus … (obgleich ich dich jetzt unverletzend anmerken will, dass die Gestaltungspunkte eines Märchens hier weniger zu finden sind) , und weil Märchen gut ausgehen, soll dieses auch gut ausgehen.
Mir gefällt es auch sehr, dass es Matthias ist, der die Rettung in letzter Minute vornimmt und nicht der Rettungsdienst.

2. Du richtest deinen Text an junge Leser, vermutlich im Pubertätsalter.
Alleine deshalb sollte die Geschichte ein gutes Ende nehmen, damit die Empathie, die diese Lesergruppe für deine Prota entwickelt, nicht in der Verzweiflung stecken bleibt.
Junge Menschen brauchen Hoffnung, dass vertrackte Situationen eine gute Lösung finden.
Auch habe ich im Hinterkopf, dass vor vielen Jahren es eine Welle von Todessehnsüchten Jugendlicher gab, einzig weil sie sich mit einer Filmfigur identifizierten und der dann alle in den Tod folgen wollten. Die haben sich da so reingesteigert, dass das Ganze zu ausgeführten Selbstmorden führte.

Wenn nun dein Mädchen mit den schönen und friedlichen Bildern im Kopf während des Kälterauschs stürbe, könnte das einen nicht wünschenswerten Einfluss auf Jugendliche haben, die sich gerade in einer „Ich-will-nicht-mehr-Situation“ befinden.

Also lass das Mädchen leben!
Eigentlich besitzt die Kleine neben Ihrer Cleverness ja auch eine große charakterliche Stärke.
Sie kifft und trinkt nicht und hat sich die Sehnsucht nicht nur nach ihrer Mutter, sondern auch nach besseren Lebensumständen ohne Gestank, etc. bewahrt. Das sind doch gute Voraussetzungen.

Ich hatte mir zum Erstkommentar auch die Stelle markiert und schon schön daruntergeschrieben, dann aber vergessen, dir das zu übermitteln:

Ihre Sorgen um das kleine Mädchen drangen nicht durch diese dicke lederne Haut, die das Leben unter der Brücke den Seelen wachsen ließ.

Schön!

Ne, ne, irgendetwas ist schiefgelaufen, mit der Kommunikation zwischen uns.
Vielleicht stimme ich dich mit meinem zweiten Einlass etwas weniger grimmig.

Bleib dabei und dran!

Lieben Gruß
kathso60

 

Liebe @kathso60
Es tut mir leid, wenn meine Replik auf deinen ersten Kommentar vielleicht ein wenig zu schroff daherkam. Das war bestimmt nicht meine Absicht. Ich geb zu, es fühlt sich nicht so gut an, wenn man das Gefühl hat, dass seine Geschichte einen Leser nicht abholen und mitnehmen kann. Ich hatte den Eindruck, dass du mit deinen Anmerkungen eigentlich eine andere Geschichte von mir willst. Eine mehr erzählerische mit mehr Handlungssequenzen, die im Straßenkindermilieu angesiedelt ist.

Darum ging es mir aber nie wirklich. Zumindest nicht in der Hauptsache. Sie sollte mehr eine Stimmung aufbauen. Ich habe recherchiert für diese Geschichte. Aber nicht zum Thema „Leben von Straßenkindern“, sondern über den Tod durch Erfrieren. Vom Kältegefühl über das Zittern, die Muskelschmerzen, die Steifheit, die Verlangsamung des Denkens bis zu gefühlten Hitzewallungen und zum Ruhegefühl . Und ich wollte die Nähe zum Märchen von Andersen haben.

Di häufige Erwähnung der „anderen“ habe ich etwas zurückgenommen. Ich dachte eigentlich, allein der Begriff würde der Wichtigkeit der Personen schon genug widersprechen, ebenso wie die Wiederholung. Aber vielleicht hast du da Recht. Es darf nicht der Gedanke aufkommen, diese „anderen“ würden dem Kind so etwas wie eine Familie bieten. Das tun sie nicht.

Es ist natürlich irgendwie ein Zwischending zwischen Geschichte und Märchen geworden und geblieben. Das kann ich jetzt nicht mehr ändern.

Liebe @Novak

Ich hab mich intensiv über die Plusquamperfekte hergemacht. Einige musste und wollte ich behalten, weil mir die Klärung der Zeitebenen schon wichtig ist. Aber man kann ja nach dem Eingangssatz zum Erzähltempus Imperfekt wechseln und das habe ich jetzt häufiger gemacht. Aber es bleibt ja die Verwendung von „war“ und „hatte“ als Vollverben und anderer simpler Verben wie kam, ging, wollte, sagte etc…

Versuchsweise habe ich viele von ihnen durch lebendigere Verben ersetzt. Aber das hat für mich den Text nicht besser gemacht. Oder nicht passender für das, was ich wollte. Er ist für mich zu bunt geworden. Ich wollte unbedingt die Einfachheit der Sprache für das Kind und für diese Grundstimmung der Einsamkeit behalten. Deshalb hat das Kind ja auch keinen Namen, ist nur „die Kleine“

Mathias ist ein Kompromiss, hoffentlich kein fauler. Es ist nach den Änderungen wichtiger geworden, hat mehr Platz eingenommen. Aber nicht zu viel. Das Mädchen ist in ihrem Leben dort nicht geborgen.

Und bei der Sparkasse habe ich es belassen. Einfach weil ich das schon mehrmals gesehen habe. Nachts sind keine Angestellten da, die die Polizei rufen könnten und die Passanten schauen, dass sie möglichst schnell wieder wegkommen. Ich habe schon öfter Obdachlose hinter den Geldautomaten oder den Kontoauszugdruckern rumliegen sehen und die Gefühle von mir selbst hinterfragt und versucht, mir vorzustellen, wie es ist, wenn die gefundene Wärme für die Existenz wichtiger ist als die Würde und die Menschen Schamgefühle wegblenden müssen. In der Szene konnte ich auch darstellen, dass das Mädchen ihre Scham noch hat.

Ich hoffe trotzdem, die Geschichte ist so etwas runder geworden.

Danke euch beiden nochmal für eure Auseinandersetzung mit dem Text.

 

Hallo wander, ich wollte dir auch noch mal schreiben. Ich hab nämlich auch noch einmal über das Thema, die "wars" durch stärkere Verben zu ersetzen, nachgedacht. Immer wieder sogar hab ich nachgedacht und überlegt und tatsächlich sogar ausprobiert wie du, ob es wirklich passt, wenn man das tut.

Versuchsweise habe ich viele von ihnen durch lebendigere Verben ersetzt. Aber das hat für mich den Text nicht besser gemacht. Oder nicht passender für das, was ich wollte. Er ist für mich zu bunt geworden. Ich wollte unbedingt die Einfachheit der Sprache für das Kind und für diese Grundstimmung der Einsamkeit behalten.
Zu bunt. Ja. Mir ging das ähnlich. Etwas von dem Sog und dem Gefühl des Verlorenseins ging verloren, wenn man es zu sehr austauschte. Auch mit dem Märchen von H.V. Andersen hab ich verglichen. Du würdest dich wundern, wieviele "war" und "hatte" es da gibt.
Von daher, gut, dass du dich auf das besinnst, was du eigentlich wolltest und nicht meinem Ratschlag gefolgt bist. Manchmal sind die üblichen Schreib-Ratschläge, so wichtig und fundiert sie sind, doch nicht immer die richtigen.
Viele Grüße an dich von Novak

 

Danke @Novak . Ich finde es richtig toll und überhaupt nicht selbstverständlich, wie du dich mit mir um den Text bemüht hast. Ich weiß das echt zu schätzen.
wander

 

Hey @wander,

ich habe ja sofort an Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern denken müssen und fand die Idee und damit das Thema deiner Geschichte sehr rührend. Und ich bin ganz bei Dir, auch solche Geschichten gehören zum Erwachsenwerden dazu. Denn auch Kinder sehen die Obdachlosen auf den Straßen und es ist nur wünschenswert, wenn ihnen nicht beigebracht wird, guck mal lieber weg.
Inhaltlich bin ich ganz bei Dir und ich mag die Geschichte. Sprachlich fand ich es oft nicht ganz so gelungen. Ich gebe Dir mal paar Beispiele mit. Vorschläge - und die sind voll subjektiv Fliege gefärbt, ist klar.

Sie stand auf, verabschiedete sich, verscheuchte ein dunkles Gefühl. Vor einer Stunde hatte sie sich zusammen mit all den anderen aus den alten verschlissenen Decken gewühlt, ...
Schätze, ich würde den ersten Satz später in den Text nehmen, damit nicht ein Satz und dann schon ein Zeitsprung rückwärts. Und gleich darauf noch ein Sprung nach hinten, der dann aber größtenteils im Präteritum verhandelt wird. Das ist sehr verwirrend irgendwie.
Ist nur ein Vorschlag, und auch wenn das PQP keinen Kultstatus in der dt. Grammatik je erlangen wird, hier sorgt es doch für die Orientierung im Raum-Zeitgefüge.

Vor einer Stunde hatte sie sich aus den alten verschlissenen Decken gewühlt, die längst feucht und muffig geworden waren. Eine rollte sie zusammen und steckte sie in die große blaue Ikeatasche, in der sie ihre Habseligkeiten von Ort zu Ort schleppte.
„Deine Mutter würde das nicht wollen“, sagte einer.
Mama. Mama hatten sie ins Krankenhaus gebracht. Ihr böses Bein. Oder der Husten. Oder beides. Wie lange war das her?
„Ich bin morgen zurück, Kleines“, hatte Mama gesagt.
„Wann kommt Mama wieder?“, hatte sie wieder und wieder gefragt.
Zuerst sagten sie „bald“. Später antwortete keiner mehr. Irgendwann hatte sie aufgehört zu fragen. Mama war nicht wiedergekommen.

Sie blieb stehenKomma blickte sich um.

„Glaubst du an das Drüben?“
Die Frage fällt bisschen aus dem Dialog. Von Aschenputtel zu "Drüben" zurück zu Aschenputtel. Hier würde ich auch eine Verschiebung an eine andere Stelle erwägen.

„Du hast nicht geantwortet.“
Das wäre doch ein guter Platz ...

„Weil ich Angst habe, dass du an irgendeinem Morgen nicht mehr zurückkommen wirst.“

Es war zu kalt geworden unter der Brücke. Kopfschütteln. Zu müde, um sich Gedanken zu machen, zu kalt zum Stehenbleiben. Ihre Sorgen um das kleine Mädchen drangen nicht durch diese dicke lederne Haut, die das Leben unter der Brücke den Seelen wachsen ließ.
Weiß nicht, ich bin kein großer Fan von diesem Satz. Das ist so ... Autor. Ich finde müde und kalt gute, für sich allein aussagekräftige Gründe - auch ganz ohne nachgereichte Erklärung.

Die Bewegung tat ihren kalten Beinen gut.
Und jetzt springst du von den anderen zum Mädchen. Man, hier muss man aber aufpassen wie Spitzlumpi. Wenn Du die Blickrichtung änderst, geb mir doch Bescheid ;).
Mal wieder bisschen umgestellt:

Mond und Schnee erhellten die Wiesen am Isarufer. Kahle Bäume mit knorrigen Armen und gespreizten Fingern. Das Ziel des Mädchen war nah am Weg. Noch ein paar Schritte bis zu dem Gebüsch, das im Inneren Platz für sie bot. Es versteckte sie, behütete sie. Die Bewegung tat ihren kalten Beinen gut.

Dort war sie nicht weit weg und doch allein. So wollte sie es. Die anderen taugten nicht zum Reden oder Ankuscheln an kühlen Abenden.
Wir reden hier aber schon von kalt, wenn nicht sogar eisig.

Da war keiner, der ihr mal eine Geschichte erzählte.
Und so manche Füllwörter ... sind eben was sie sind :).

Keine wahre und keine erfundene. Alle waren allein. Viele tranken Wein oder Schnaps, damit sie besser schlafen konnten und dann redeten sie entweder nichts mehr oder dummes Zeug.
Das gehört da auch nicht hin. Es geht noch ums Geschichtenerzählen. Ist eh auch eher so ein Autording, als das es der Text brauchen würde.

Über Mama. Über ihr Leben davor, an das sie sich immer weniger erinnern konnte. Wenn sie nicht mehr davon erzählte, würde sie jeden Tag ein Stück mehr verlieren.
So traurig wie wahr :cry:

setzte sich in den Schnee. Es war kalt auf dem Weg dorthin. Sie war in einer Atemwolke gegangen. Die alte Winterjacke wärmte wenig. In den zu großen Stiefeln versuchte sie, ihre Füße zu bewegen. Aber jetzt waren ihre Zehen steif und gefühllos geworden. Sie spürte nicht, ob sie sich überhaupt noch krümmen ließen. Ihre Hände froren in den löchrigen Taschen. Trotzdem! Es war eine schöne Nacht, sogar schöner als im Sommer.
Sie war sehr müde.
Ich sehe ja ein, dass Du eine gewisse Monotonie auch durch die Sprache transportieren willst, aber ... nein. In diesem Fall bin ich dagegen.

Ihre Sinne meldeten Dinge, die nicht sein konnten. Die Füße schmolzen. Ihre Hände, Kälte wie Verbrennen. Wie Feuer. Sie verstand nichts. Nicht, warum das jetzt so wehtat. Auch nicht mehr, warum sie dort war, wo sie war. Die Kälte machte alles langsam. Auch ihr Denken. Vorhin noch wusste sie es.
Toll!

Aber auch dieser Gedanke verschwandKOMMA als die Schmerzen in ihren Gliedern nachließen.

Sie wusste ihre Namen noch.
Der Satz drückt einen echt fies in die Magengrube.

Endlich war das Zittern weg. Eine wunderbare Stille kehrte in ihr ein.

Sie betrachtete den Mond über ihr.
Sie betrachtete den Mond. Oder Sie betrachtete den Mond über sich.

Durch eine Lücke in den Ästen über ihr sah sie ein paar Sterne.
Dito.

Ja, schön diesen Text in der Challenge zu haben. Ich überlege gerade, ob ich die Märchenvorlage nicht sogar direkt irgendwo in den Text mit einfließen lassen würde - kann mich aber auch nicht entscheiden, ob ich das jetzt gut oder als zu dick empfinde ... Na ja, ist eh dein Text, muss ich mich ja auch gar nicht entscheiden :D.

Gibt mehr Straßenkinder in Deutschland als man wahr haben will. Ist gut, wenn das Thema mehr Öffentlichkeit bekommt.
In diesem Sinne, Danke und Grüße, Fliege

 

Vielen Dank, @Fliege , da seh ich schon beim ersten Drüberfliegen, dass da viele wichtige Anregungen sind. Ich werde mich drüber hermachen. Aber das Aufpassen wie Spitzlumpi werd ich dir nicht ersparen. ;-)

 

Nochmal danke,@Fliege , ich habe vieles brauchen können. Von einigen Stellen, an denen der Autor durchkam, habe ich mich getrennt. Und den ersten Dialog zwischen dem Mädchen und Mathias geordnet.

 

Hej @wander ,

diese bewegende Geschichte ist wohl eher was für die Kekse unter den Krümeln, aber das macht ja nichts. Ich habe während des Lesens gefroren und Hunger verspürt, Mitgefühl, Sorge, Angst und Hoffnung gehabt. Aber ich bin auch irritiert, weil ich nicht weiß, ob es durchgeht, dass Kinder, kleine Mädchen, obdachlos und allein sind, sein sollten, ob sich niemand verantwortlich fühlt. Ich weiß, dass es immer mehr obdachlose Jugendliche in Deutschland gibt, aber kleine Mädchen?

Manchmal tauchten Leute auf, dann versteckte sie sich.

Das ist der Beginn und tritt während des Lesens eine ganze Menge Fragen los. Mir wäre es weniger nebulös lieber. Ein offenes Problem unserer Gesellschaft, ich vermute in diesem Fall in München, ist eben nicht unklar und undeutlich.

blaue Ikeatasche
Oder ich geh in die Sparkasse oben an der Straße.

Und hier dachte ich, weil ich ja immer noch davon ausgehe, dass Kinder in Aschenputtels Alter nicht allein und obdachlos sind, es wäre besser, wenn diese Geschichte so gehalten wäre, dass sie überall auf der Welt sich abspielen könnte.

„Weil du so hübsch bist wie das Aschenputtel. Meinst du, das können nur Prinzen sehen?“
Jetzt musste sie lachen.
„Und weil du so kleine Füße hast. Und trotzdem Blasen.“

So liest es sich für mich noch liebevoller und lustiger.

„Glaubst du an das Drüben?“
Mama war schon so lange fort. Wo sollte sie sonst sein, wenn sie nicht zurückkommen konnte. Sie war Drüben. Und von da gab es keinen Weg zurück. Man konnte nur hin.

Anfangs denkt Aschenputtel, die Mutter würde wiederkommen und sie dort unter der Brücke suchen, deswegen irritiert mich diese Stelle, ahnt sie doch, dass die Mutter tot ist.


„Aber wenn alles verschwindet, vergesse ich doch auch, dass das Hier und Jetzt nicht für immer bleiben soll?“

Hier habe ich länger innegehalten und darüber nachgedacht, ob ich für den Inhalt der Aussage nicht ein paar Sätze mehr bräuchte :hmm: Dass Aschenputtel äußert, was es sich stattdessen wünscht, obwohl sie weiß, dass sie allein und ohne Mutter ist.

als wäre sie nicht nur ein müdes Mädchen, das draußen fror.
Der Blick von einem Mann saß ihr tief im Gedächtnis. Der Schrecken darin, als er sie hinter dem Geldautomaten liegen sah. Sein Ekel.

Aber das interpretiert sie sicher falsch, denn erstens ist sie mehr als ein frierendes Kind - sie ist jung, sie wird schmutzig sein und übel riechen, und dennoch wird es eher Verwirrung und Mitgefühl gewesen sein. :(

Dann kam das Zittern. Überall. Sie versuchte es abzustellen. Einfach aufhören. Halt still. Entspann dich! Aber es nahm Besitz von ihr. Schüttelte sie. Am schlimmsten am Nacken. Dann an den Schultern. Krämpfe. Die Muskeln wollten nicht mehr. Wollten endlich Ruhe.
Das bisschen Wärme, das sie vom Gehen noch im Körper hatte, war längst verflogen. Sie sollte jetzt bei den anderen sein. Aber auch dieser Gedanke verschwand, als die Schmerzen in ihren Gliedern nachließen.

Da lief es mir auch eiskalt den Rücken hinunter.

Nach ihrer Lieblingssuppe mit Kartoffeln und Lauch und Würstchen.

Und das koche ich heute auch. Danke. Es ist nämlich ein kalter Sommertag im Norden.

Sie sah Mama, die abends an ihrem Bett saß und ihr vorlas oder fragte, wie ihr Tag gewesen war. Wie gut es tat, ihr Dinge zu erzählen, die sie bedrückten! Sie fühlte das sanfte Streicheln über ihr Gesicht, bevor sie aufstand und das Licht löschte. Sie spürte den Kuss an ihrer Wange, wenn sie sich morgens auf den Weg in die Schule machte. Hörte das fröhliche Geplapper ihrer Freundinnen, die sie an der Ampel über die Hauptstraße traf.

Ich weiß schon, dass du nah an Aschenputtel bleiben willst, aber weil du hier ihre Vergangenheit erwähnst, wäre es für den Leser, gerade für den jugendlichen nicht ganz unerheblich, wie sie in die jetzige Situation geraten konnte. Für den Fall, dass jetzt einer Angst oder Sorge haben sollte, dass es ihnen selbst ganz schnell passieren könnte, wenn sie mit ihrer Mutter zum Beispiel auch alleine leben. :confused:

Endlich kam die Wärme zurück. Zu viel jetzt. Zu viel und zu schnell. Sie riss sich die Jacke vom Körper. Die Stiefel von den Füßen.
Endlich war das Zittern weg und eine wunderbare Stille kehrte ein.

Das klingt beängstigend absurd. Gibt es denn so etwas Schreckliches wie ein Kältedelirium?

Ein kleines Glück, für das kleine Kind, das sie gewesen war. Später erst kam die Ahnung, dass es ein großes verlorenes war.

:( Ach, man weiß es eben oft erst hinterher und gerade Kinder sollten so unbedarft sein dürfen

„Hab ich’s mir doch gedacht, Aschenputtel.“
Zwei starke Arme ergriffen sie, hoben sie hoch, wickelten sie in Decken. Kräftige Hände rubbelten ihren Rücken, ihre Schultern und Arme.
„Es ist doch noch viel zu früh für Drüben.“
„Matthias“, murmelte sie.

Natürlich kommt Matthias - das Geschenk Gottes - und rettet sein Aschenputtel. Gerade hier als Krümelgeschichte darf es gar nicht anders sein.

Der Text hätte auch einen Absatz früher enden können. Mit "zu friedlich".

Ach wander, das war keine warme Sommer-Challenge-Krümelgeschichte und ihretwegen bin ich so früh am Schreibgerät. Aber es ist eine wichtige Geschichte und ich danke dir dafür.

Lieber Gruß. Kanji

 

Hallo @Kanji
Vielen Dank fürs Kommentieren. Ich darf mich natürlich nicht wundern, dass ich mit den Fragen konfrontiert werde, die ich mir selbst gestellt habe. Eigentlich führt es zu einer Hauptfrage: Darf man zu so einem großen brisanten Thema einen so kleinen Text schreiben und so vieles offen lassen? Ich bin mir von Anfang an unsicher gewesen.
Andersen durfte das in seinem Märchen über das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Aber wenn es aus dem Märchenkontext draußen ist, stellt sich die Frage natürlich anders. Dann spürt man vielleicht anders als bei einem Märchen, was dem Text alles fehlt.
Wie ist das Mädchen in die Situation geraten? Wieso gibt es keinen Vater? Lebt die Mutter noch? Warum lässt man das Kind dort am Fluss bei den Obdachlosen und sucht nicht konsequenter nach ihm? Warum kümmert sich keiner um das Kind in der Bank?....
Und ich kann diese Fragen alle nicht beantworten.
Ich habe jetzt noch ein paar Begriffe rausgenommen, so dass die Geschichte in jeder Stadt spielen kann, in der es einen Fluss und Brücken gibt.
Und Kanji, das mit den Hitzewallungen vor dem Erfrieren stimmt.
Nochmal Danke und lieben Gruß
wander

 

Hallo @wander,

ein sehr relevantes Thema hast Du gewählt, wenngleich ich mich frage, ob das so wirklich krümelfähig ist.
Meine erste Frage an Dich: Warum ist das Kind auf der Straße? Mama wurde ins Krankenhaus gebracht und die Personen, die das veranlasst haben (Notarzt?), lassen das minderjährige Kind alleine in der Wohnung zurück und fragen dann irgendwann später mal nach ihr? Das würde so nicht laufen, da greifen andere Mechanismen.
Die meisten Straßenkids haben im sogenannten häuslichen Umfeld massive Probleme, prekäre Verhältnisse, Gewaltexzesse, Missbrauch, Alkoholismus, etc. und die Straße ist die scheinbar einzige Fluchtmöglichkeit, dem zu entkommen. Da spielt auch verlorengegangenes Vertrauen eine Rolle, weshalb die Instanzen gemieden werden. Das Motiv "Mama ist im Krankenhaus" ist mir persönlich zu schwach.

Nur nicht in diese grausige Unterkunft! Wo alles hässlich war und es manchmal nach abgestandener Pisse stank und nach schmutziger Kleidung. Wo sie zusammen mit fremden Frauen in einen Raum musste.
Wie alt ist sie denn? Als Kind oder Jugendliche würde sie nicht mit erwachsenen Frauen in eine Einrichtung kommen, für Jugendliche ab frühestens 14 Jahre gibt es spezielle Notschlafstellen, für Kinder unter 14 Jahre gibt es meines Wissens nach außer stationärer Betreuung gar nichts.

War freundlich zu Mama und ihr. Zeigte ihnen einen Platz, wo der Wind weniger heftig wehte.
Ah, jetzt raffe ich erst, dass Mama auch schon obdachlos war.

„Wie soll ich das wissen? Ich war noch nie Drüben(Punkt)“

Nur mit Mathias konnte sie sich manchmal unterhalten. Über Mama. Über ihr Leben davor, an das sie sich immer weniger erinnern konnte. Wenn sie nicht mehr davon erzählte, würde sie jeden Tag ein Stück mehr verlieren.
Schöne, treffende Stelle.

„Weißt du“, erklärte er, „Das mit dem Erinnern ist so eine Sache.
Entweder Punkt hinter er, oder klein weiter mit das.

Es kann schön sein, wenn es schöne Dinge sind, die man behalten will. Es kann ein Schatz sein, der einem immer gehören wird. Es kann aber auch sehr traurig machen. Wenn man fühlt, was man verloren hat, dann hält man das Hier und Jetzt noch viel schwerer aus
Das hat mir sehr gut gefallen. Ich mag das Melancholische daran. Aber ich frage mich auch, inwieweit das Kinder aus persönlicher Erfahrung nachvollziehen können.

Aber sie hielt sich nicht für etwas Besseres. Hielt niemanden für schlechter.
Klingt für mich nach Erwachsenen-Kategorie. Auch hier:
Mit dem klaren Himmel, der guten Luft, dem Blätterrauschen im Sommer, wenn ein milder Wind durch die Zweige fuhr.
Ist das wirklich etwas, das Kinder/ Jugendliche schätzen?

Der Rücken schmerzte da, wo sie an einem Stamm lehnte.
Ich denke, sie ist in einem Gebüsch?

Aber sie würde nicht in die Bank gehen. Nicht ein zweites Mal. Es war warm dort. Aber die Menschen, die reinkamen und sie dort liegen sahen und dann so taten, als wäre sie unsichtbar! Sich abwendeten voller Abscheu, als hätte sie eine ansteckende Krankheit mit hässlichen Pusteln im Gesicht, als wäre sie nicht nur ein müdes Mädchen, das draußen fror. Vielleicht wollten sie auch nicht daran denken, dass nicht alle Menschen ein paar Zahlen in eine Maschine tippen konnten und dann das Geld mitnehmen, das sie für einen Einkaufsbummel brauchten oder ein leckeres warmes Essen. Der Blick von einem Mann saß ihr tief im Gedächtnis. Der Schrecken darin, als er sie hinter dem Geldautomaten liegen sah. Sein Ekel. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so geschämt. Für alles. Dafür, dass sie so war, wie sie war. Dafür dass sie da war, wo sie nicht sein durfte. Dafür, dass es sie gab.
Das gibt es, die Berichte von dem Mann, die im Vorraum eine Bank starb, weil niemand Hilfe leistete, ist mir noch gut im Gedächtnis. Auch die Stellungnahme eines Besuchers, der meinte, er hätte den Mann für einen Obdachlosen gehalten. So als wäre das eine Begründung dafür, nicht zu helfen.
Dennoch melde ich leise Zweifel an, ob das bei einem Kind auch so laufen würde, ob da wirklich nur Ekel oder Ignoranz denkbar sind und niemand, wirklich niemand helfen würde. Auch das mit dem Geld für den Einkaufsbummel kratzt am Klischee.

Sie sah Mama, die abends an ihrem Bett saß und ihr vorlas oder fragte, wie ihr Tag gewesen war. Wie gut es tat, ihr Dinge zu erzählen, die sie bedrückten! Sie fühlte das sanfte Streicheln über ihr Gesicht, bevor sie aufstand und das Licht löschte. Sie spürte den Kuss an ihrer Wange, wenn sie sich morgens auf den Weg in die Schule machte. Hörte das fröhliche Geplapper ihrer Freundinnen, die sie an der Ampel über die Hauptstraße traf.
Sie saßen in benachbarten Bänken in der Klasse, tuschelten und lachten, bis manchmal eine Lehrerin sie versetzte, weil sie zu viel schwätzten und zu wenig zuhörten. Sie trafen sich an den Nachmittagen. Manchmal durften sie beieinander schlafen. Dann unterhielten sie sich die halbe Nacht. Sie wusste ihre Namen noch.
Sie entstammt einer heilen Welt, in der Normalität regiert. Die Mutter ist liebevoll zu ihr, streichelt sie sanft, sie übernachtet bei Freundinnen, mit denen sie die halbe Nacht quasselt. Wieder meine Frage: Wie kommt es bei der heilen Ausgangslage zu der großen Not, zu dem brutalen Absturz vorbei an sämtlichen sozialen Auffangnetzen? Für den Schritt auf die Straße müssten die Konflikte für mich quälender, unerträglicher sein, damit sie so aus der Welt fällt.

Lieber wander, ich würde mir mehr Fleisch und auch Recherche am Anfang wünschen, damit ich die Ausgangslage und die Prämisse kaufen kann. Das ist gut geschrieben, die drohende Gefahr durch Erfrieren geht mir nahe, doch wenn ich die ganze Zeit beim Lesen dieses große Fragezeichen mitschleppe, warum sie sich das antut, wird das erheblich geschwächt.
Wie beschrieben fehlt mir die große Not, der Vertrauensverlust, die Dringlichkeit, die Menschen auf die Straße treibt. Da würde ich an deiner Stelle nachlegen. Nur so als meine Lesart.

Peace, linktofink

 

Vielen Dank, @linktofink
(vielleicht auch nochmal zur Klärung für @Kanji , @Fliege , @Novak , @kathso60 )
wenn du das Märchen vom "Kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern" liest, dann erfährst du nur etwas vom Erfrieren eines Kindes, das mit Blick auf das Weihnachtsessen wohlhabender Leute draußen vor dem Fenster erfriert. Da gibt es keine Vorgeschichte.
Mein Zugang war dieses Märchen, ich habe über den Tod durch Erfrieren recherchiert, die verschiedenen Phasen, die man dabei durchläuft. Ich wollte versuchen, dieses berührende Märchen in eine Aktualität zu bringen. Aber ich wollte niemals eine wirklich realistische Geschichte über Straßenkinder schreiben.
Leider stellt sich heraus, dass es nicht funktioniert. Vielleicht geht diese thematische Einfachheit oder Vereinfachung nur zusammen mit der klar erkennbaren Form des Märchens. Vielleicht braucht die Aktualität des Themas auch ein Mehr an Realitätsnähe. Fast alle wortkriegerischen Leser fordern "Fleisch". Recherche, Information, Realitätssinn.... Eine ganz andere Geschichte, zu der ich diese nicht mehr machen kann. Ob kindliche Leser das auch bräuchten, weiß ich nicht. Ich glaube eigentlich nicht. Ich denke, für ein Kind könnte es auch genug sein, dass ein sehr trauriges armes Mädchen, das in großer Gefahr schwebt, gerade noch gerettet wird, weil es bei aller Verlassenheit doch noch jemanden gibt, der sich kümmert und sorgt und es gern hat.

 

Was spräche dagegen, den Text vom aktuellen Bezug zu befreien, der ja keine Vorteile, nur Fallstricke mit sich bringt?

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @wander
quote "Ich denke, für ein Kind könnte es auch genug sein, dass ein sehr trauriges armes Mädchen, das in großer Gefahr schwebt, gerade noch gerettet wird [...] "
Ich denke, dass Du Dich irrst. Gerade Kinder stellen Fragen und erwarten eine in sich schlüssige Geschichte. Hänsel und Gretel wurden in den Wald geschickt, weil die Eltern zu arm sind, um sie durchzufüttern. Die Hexe will Hänsel fressen, weil sie böse ist.
Harry P. kann zaubern, weil diese Fähigkeit weitervererbt wurde.
Jesus kann Wunder bewirken, weil der Allmächtige sein Vater ist.
Das sind zwar einfache und zuweilen absurde Erklärungen, aber es sind welche. Ein Kind, das Deine Geschichte liest, wird eventuell sogar eher als Erwachsene fragen, wie das Kind auf der Straße gelandet ist. Kinder fragen auch noch, wieso Erwachsene auf der Straße leben, da dieser Widerspruch zwischen der eigenen, zumeist abgesicherten Lebenswelt und der offensichtlichen Verelendung der Mitmenschen sie in einen Konflikt bringt. Erst im Laufe des Lebens eignen Menschen sich das zynische sozialdarwinistische Weltbild an, dass zwingend mit dem vorherrschenden ökonomischen Prinzip verbunden ist und das ihnen eine Erklärung liefert, die sie von eigener moralischer Verantwortung befreit. Alkoholismus und selbstverschuldeter Bildungsmangel wurden schon zu Andersens Zeiten als passende Erklärungen genutzt.
Da Du Dich mehrmals auf Andersens Märchen berufst, möchte ich anmerken, dass der Vergleich nicht passt. In seinem Märchen wird nicht das Erfrieren eines Mädchens thematisiert, sondern das extreme Armutsgefälle in der hochkapitalistischen Gesellschaft. Durch die drastische Schilderung eines Einzelschicksals soll das Bewusstsein bei den Lesern aus der bürgerlichen Schicht für die menschliche Tragik der Unterschicht geweckt werden, durch die der eigene Wohlstand erkauft wird.
In Deiner Geschichte ist so ein Ansatz nicht zu erkennen und selbst wenn die Absicht vorhanden wäre, würde es nicht funktionieren, weil die Ausgangslage sehr unglaubwürdig ist.
Die Mädchen mit den Schwefelhölzern leben heute in Indien und Afrika.

Schönen Gruß!
Kellerkind

 
Zuletzt bearbeitet:

Hej @wander , vielleicht wäre es eine Möglichkeit das Kind völlig ohne Erwachsenenbezug durch eine Stadt frieren zu lassen. Du könntest es außer Acht lassen, warum sie allein ist. Ich denke mir dann, sie wäre abgehauen oder ausgesetzt. :eek: Wie das @Kellerkind schon meinte, in Indien zum Beispiel stromern die Kinder schon mal allein und auch nackt durch Delhi. Dort ist es laut und auch mal kalt. Aber das muss ja gar nicht erwähnt werden. Du kannst das Mädchen ja auch so erfrieren lassen. Es denkt dann an die Armut und den Hunger zu Hause, wie man es wegschickte deswegen ... ohje, den Bogen zu Matthias weiß ich dann auch nicht. Streetworker oder Auslandsjahrpraktikanten? :confused:

ich denke weiter mit, okay und melde mich wieder. Bis dahin lieber Gruß. Kanji

 

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