- Anmerkungen zum Text
Der erste Teil meiner Kurzgeschichtentrilogie "Das eine Gesetz". Die beiden Fortsetzungen sind thematisch mit der ersten Geschichte verknüpft, stehen jedoch, wie die erste auch, genauso für sich selbst. Bei allen dreien handelt es sich um Dystopien der nahen und fernen Zukunft, in denen jeweils ein bestimmtes Gesetz das Leben aller Wesen bestimmt, auch wenn sich dieses eine Gesetz womöglich erst auf den zweiten Blick offenbart.
Das Kind ohne Namen (Trilogie "Das eine Gesetz")
Das Kind ohne Namen ist ein Individuum wie jedes andere. Es sucht nicht, es findet. Es zweifelt nicht, es will. Es fragt nicht, es nimmt. Es glaubt nicht, es weiß. Es irrt nicht, es versucht es aufs Neue. Es fühlt nicht, es tut. Es benötigt keinen Sinn, keine Wärme, keine Liebe, sondern nur: Sauerstoff. Nahrung. Bewegung.
Das Kind ohne Namen, es läuft schnell durch einen Korridor, wie es viele hier gibt, und alle sehen gleich aus. Nirgends gibt es Fenster, denn es gibt längst keine Sonne mehr. Grelles Licht lässt keine Schatten zu, außer dem der eigenen Gestalt. Das Kind ohne Namen registriert die anderen Geschöpfe, Kinder, Hunde, Ratten, die auf beiden Seiten in seine Richtung starren, doch es braucht nicht in ihre Gesichter zu sehen, um zu wissen: Hier gibt es nichts zu holen. Ihre Körper sind nichts mehr als Hüllen, die letzten Fetzen Fleisch an ihren metallenen Knochen ungenießbar. Will es wirklich Nahrung, weiß das Kind, so muss es weiter, sehr viel weiter. Dorthin, wo die meisten wieder umkehren, weil ihr schwächlicher Körper zu streiken beginnt.
Natürlich weiß das Kind ohne Namen, dass es einst eine Sonne gab, ein Meer, Jahreszeiten, echte Tiere, Menschen mit etwas, das sie ‚Emotionen‘ nannten. Doch all das war nur Ablenkung vom Wesentlichen, hat das Kind gelernt. All diese Dinge haben die Menschen von damals zugrunde gerichtet, weil sie sich um sie gestritten und bekriegt haben, und sie sich wegen all der widersprüchlichen Emotionen niemals auf eine Lösung einigen konnten. Letzteres vor allem wegen etwas, das sie ‚Stolz‘ nannten. Für das Kind ohne Namen, ebenso wie für alle anderen im Hier und Jetzt, gibt es keinen Grund, diese Lehren zu hinterfragen. Die Menschen von damals waren Bettler, wollten umsonst bekommen, wofür die Menschen von heute in jeder Situation bereit sind, mit ihrem Leben zu zahlen. Nur einer der ehemaligen Menschen wusste schon vor vielen Jahrhunderten, dass die Menschen im Hier und Jetzt aus genau diesem Grund überlegen sein würden, und dass die Menschen von damals von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen waren, weil sie in ihrer Schwäche dachten, sie hätten einen Wert. Weil sie glaubten, sie hätten ein naturgegebenes Recht zum Leben. Die Menschen im Hier und Jetzt wissen es besser. Sie sind sich in jeder Sekunde ihres Daseins bewusst, dass man sich dieses Recht mit jedem Atemzug verdienen muss. Sie kennen keinen Richter oder Retter, kein Schicksal, keinen Zufall. Für sie gibt es nur Aktion und Reaktion, Leben und Tod.
Das Kind ohne Namen, es kommt am Ende des Korridors an, der nach draußen mündet. Auch draußen gibt es nur grelles Licht, denn der Himmel ist eine einzige, schwarze Wolke. Am Fuß des anthrazitfarbenen Monolithen X01, der bis zum Saum der schwarzen Wolke hochragt, findet es einen Vogel. Der Vogel erinnert es an ein Bild, das es einmal auf einer der großen, bewegten Tafeln gesehen hat – es war das Bild eines Adlers. Dieser Vogel aber ist kein Adler, das weiß das Kind ohne Namen ohne Zweifel. Langsam pickt der Vogel in die Augen eines Fisches. Der Fisch lebt noch, wehrt sich, also wartet das Kind ohne Namen, bis der Vogel ihn zum Stillstand bringt. Dann packt es den Vogel am Hals, und bricht ihm mit einer kurzen, schnellen Bewegung das metallene Genick. Der Fisch und der Vogel, weiß es aus Erfahrung, werden ihn für eine Woche am Leben halten.
Das Kind ohne Namen hält inne. Es blickt die tausenden Stufen des Monolithen empor, wo sich Dinge winden und regen, wo hohe Schreie ertönen und verklingen, wo tief dröhnende Klänge in Endlosschleife laufen, wo Geschöpfe sich auf den glatten, schwarzen Flächen des Gesteins spiegeln. Das Kind blickt mit wachen Augen um sich, denn es weiß: Wo ein Vogel einen Fisch fängt, ist das Wasser ganz nah, und wo das Wasser nah ist, sucht ein jedes Geschöpf das gleiche wie es selbst: Nahrung, um sich Zeit zu kaufen; Zeit, um sich selbst zu erhalten; Selbsterhaltung, nicht um sich fortzupflanzen, sondern um weiter nach Nahrung zu suchen, denn die Bilder auf den Tafeln haben sie gelehrt, dass es nichts Individuelleres gibt als lebendige Geschöpfe, und je mehr von ihnen man durch Verzehren verinnerlicht, desto mehr wird man selbst Individuum – und das ist das einzige, was zählt.
Das Wasser, es ist dem Kind ohne Namen lange nicht mehr erschienen. Die Flüssigkeit, die es zum Überleben braucht, holt es sich meist aus anderen Geschöpfen, denn das Wasser ist rar und versteckt, tief unter dem steinernen Boden, nur an den Stellen erreichbar, wo es von selbst durch die Oberfläche bricht. Die letzten Menschen von damals haben es gehortet und gestaut, eingesperrt und mit Gift ungenießbar gemacht, sodass es nach ihrem Niedergang lange dauerte, bis die Menschen im Hier und Jetzt es trinken konnten. Somit bannten die individuellsten Individuen es so tief unter das Gestein, dass nur sie es noch erreichen könnten, und niemand anderes. Das Wasser, durch die Kälte der Tiefe in der Lage, sich selbst vor allem neuem Gift zu schützen, barg irgendwann tatsächlich neues Leben. Keiner weiß, wie, oder warum, keiner kennt das wahre Ausmaß der neuen Arten, doch seither ist das Wasser selbst mehr Individuum als viele Menschen, und so ist es genauso begehrt, wie gefürchtet. Obwohl sich das Kind ohne Namen an den letzten Kontakt mit dem Wasser nur dunkel erinnern kann, sagt ein Instinkt in ihm mit großer Dringlichkeit, dass es, um die nahe gelegene Quelle zu finden, zuerst den Monolith besteigen muss, oder zumindest eine unbestimmte Anzahl an Stufen. Bisher hat das Kind das Wasser immer vom steinernen Boden aus gefunden, doch es kennt die Bilder an den Tafeln, die Fontänen zeigen, welche von Monolithen-Gipfeln wie diesem in die Höhe schießen. All die Geschöpfe, die jetzt auf dem Monolithen sind, haben die Bilder ebenfalls gesehen. Auch sie sind auf der Suche nach der Quelle, doch das Kind ohne Namen ist ohne Zweifel, dass es sie vor ihnen allen erreichen wird.
Das erste Geschöpf, dem es auf den Stufen des Monolithen begegnet, ist eine Kreuzung aus Mensch und Affe, mit kleinen Augen, weißem Fell, und vier unruhigen Pranken. Das Kind ohne Namen kennt die Geschichten, wie der Mensch und der Affe vor Jahrmillionen eins waren, und wie der Mensch sich vom Affen abnabelte, weil er dachte, er sei etwas Besseres. Die Menschen im Hier und Jetzt wissen es besser: Die Tafeln erinnern sie daran, dass die Affen die letzten echten Tiere waren, die überlebten, und nur weil der Mensch zu diesem Zeitpunkt der Geschichte in erdrückender Überzahl war, konnte er den Affen wie schon einst zuvor knechten und in Zaum halten, sich ein weiteres Mal über ihn stellen, über sein einstiges Ebenbild, das so viel individueller war, als er selbst. Der Affe starrt das Kind ohne Namen an und fletscht seine spitzen Zähne. Das Kind ohne Namen ist bereit zum Angriff, gewillt, dem Affen das Genick zu brechen, doch eine riesige Wildkatze kommt ihm zuvor: Von ein paar Stufen über ihnen springt sie zwischen das Kind und den Affen, und verschlingt Letzteren mit einem Bissen. Das Metall zwischen den steinharten Zähnen der Wildkatze knirscht, und mit seinen stechenden Augen nimmt es das Kind ohne Namen ins Visier, welches weiß: es muss jetzt ganz ruhig bleiben, darf nicht atmen, dann wird ihm nichts passieren. Die Wildkatze kommt näher, schnuppert ein wenig, berührt mit seinem rostigen Atem das Gesicht des Kindes, doch dieses hält ihrem Blick stand, und die Wildkatze wendet sich ab. Alte, grauhaarige Kinder zu beiden Seiten des Kindes ohne Namen blicken der Wildkatze hinterher, und begutachten ihren Meister. Das Kind ohne Namen, im Gegensatz zu den meisten anderen nicht an faulem Menschenfleisch interessiert, beachtet sie nicht, und nimmt die nächsten fünf Stufen nach oben, ohne zu bemerken, ob sie weitere Geschöpfe beherbergen, oder nur das grelle Licht, das von den entfernt in der Höhe surrenden Drohnen auf den glatten Stein herab fällt.
Nach und nach trifft das Kind ohne Namen auf viele weitere, lauernde, gierige Geschöpfe: Auf mehr alte Kinder und junge Greise, die nach seinem Fleisch lechzen, das im Gegensatz zu ihrem unversehrt ist, auf Kreuzungen von Krähen und Gottesanbeterinnen, die es nur auf seine Augen abgesehen haben, weil das Licht in ihren längst erloschen ist, auf Skorpione mit Schmetterlingsflügeln, deren Gift das Kind ohne Namen aus der Entfernung riechen kann, auf Schlangen ohne Haut und Krabben ohne Panzer, die vor Kälte zittern; und immer wieder auf kleine graue Haufen Elend, die wohl einmal Menschen waren, und klägliche, schmerzverzerrte Laute von sich geben, wobei sie ihre von Lepra zersetzten Finger flehend nach dem Kind ohne Namen ausstrecken. Für dieses aber sind all diese Gesichter und Gesichtslosen nichts Neues, und mit dem Vogel und dem Fisch noch immer fest in beiden Händen, ist es nicht nötig, sich um ihr Fleisch und ihre kümmerlichen Auswüchse von Individualität zu bemühen. Die wahre Beute, weiß das Kind, die wahren Individuen warten weiter oben, von wo aus auch die Raubkatze hinab gesprungen kam. Trotz maßlosen Gelüsts wagt es keiner der Geschöpfe auf diesem Teil der Treppe, das Kind ohne Namen zu attackieren, denn sie fürchten seinen festen Blick, seinen aufrechten Gang, seine sicheren Schritte. Ernstzunehmender Gefahr, sagt dem Kind die Gewohnheit, wird es also frühestens auf halber Höhe des Monolithen ausgesetzt sein.
Nach tausenden Stufen endlich im Bereich der Gefahr, beißt das Kind ohne Namen ein einziges Mal in den rohen Fisch, und schluckt das Stück ohne zu Kauen hinunter. Es ist auf alles gefasst, was nun kommen mag. Wie üblich in solcher Situation, stellt es fest, dass Körper und Sinne sich zu schärfen beginnen, und seine Sicht ist jetzt so klar, dass es nicht nur alles vor sich sieht, sondern jeden kleinste Regung in allen erdenklichen Richtungen. Ohne diese Schärfung, da ist es sich sicher, hätte es nicht das andere Kind bemerkt, dass sich beim Betreten der nächsten Stufe hinter ihm anschleicht. Das Kind ohne Namen fährt herum, bereit, ein weiteres Genick zu brechen, doch stattdessen hält es inne: Nicht weil es will, sondern weil sein Körper es befiehlt. Noch nie ist es bisher geschehen, dass sein Wille und sein Körper nicht einher gegangen waren. Das Kind ohne Namen betrachtet das Gesicht des anderen Kindes, das genauso aussieht, wie sein eigenes. Viele der Menschen im Hier und Jetzt sehen sehr ähnlich aus, denn viele von ihnen sind nicht echt, und auch die Echten wurden durch ihr allzu gleiches Leben so geformt und angepasst, dass sie vor dem Generieren neuer Individualität kaum voneinander zu unterscheiden sind. Dieses andere Kind aber, da ist sich das Kind ohne Namen ganz sicher, ist ein makelloses, detailgetreues Ebenbild seiner selbst. In seinem Gesicht sieht das Kind ohne Namen, das auch das andere Kind auf der Suche nach Wasser ist. Wissend, dass die Gefahren nun mit jeder Monolithen-Stufe größer werden, und nicht bereit, den Fisch und den Vogel schon vor dem Erreichen des Gipfels zu opfern, fällt es einen Entschluss, den es zuvor nie in Betracht gezogen hätte: Es beschließt, die Quelle gemeinsam mit dem anderen Kind zu finden. Auch das andere Kind, liest es anhand dessen Augen, stimmt mit diesem Plan überein. Natürlich wird das Kind ohne Namen die Beute nicht teilen, natürlich ist das andere Kind nur ein Mittel zum Zweck der Ablenkung auf dem Weg nach oben. Das andere Kind, da ist sich das Kind ohne Namen sicher, hat haargenau dasselbe im Sinn. Am Gipfel wird also, wie immer im Hier und Jetzt, alleine ihre Individualität darüber walten, wer stirbt und wer besteht.
Während das Kind ohne Namen und das andere Kind die Treppe weiter empor schreiten, studiert das Kind ohne Namen immer wieder kurz Aussehen und Verhalten des Geschöpfs an seiner Seite. Zunächst scheint das andere Kind normal, doch als sie das erste Mal attackiert werden, von einer großen, dünnen menschenähnlichen Gestalt mit zwei Köpfen ohne Augen und Ohren, verhält es sich äußerst merkwürdig: Die Gestalt nach einem festen Schlag schon vor ihm auf dem Boden, zögert es, wenn auch nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor es langsam, fast schon vorsichtig, nach ihrem Hals greift und sie elendig ersticken lässt. Ihr Sterben dauert deutlich länger, als das Kind ohne Namen es gewohnt ist, und mit jeder Sekunde zeigt das Gesicht des anderen Kindes mehr und mehr Regung. Endlich fertig, erhebt es sich mit gebücktem Rücken, und legt die Gestalt an die Seite der Treppe. Das Kind ohne Namen, es registriert all das und merkt es sich gut. Für jetzt will es nicht eingreifen, doch es ist sich sicher: Das andere Kind hat zwar dasselbe Gesicht, doch ansonsten ist es ihm in keinster Weise ebenbürtig. Die nächste Attacke kommt von einem Schwarm mechanischer Maikäfer-Mutationen. Das Kind ohne Namen kennt die Bilder der echten Maikäfer aus der Vorzeit, die auf den Tafeln bezüglich der Jahreszeiten der Menschen von damals abgebildet sind. Der Mai war ein Monat, erinnert sich das Kind, und insgesamt gab es zwölf in einem Kalenderjahr. Den Kalender, ebenso wie die Jahreszeiten selbst, ebenso wie die Wochentage, die Uhrzeiten und ihre Umstellung, nutzten die Menschen von damals, um sich die Zeit zu bannen und zu biegen und zu brechen, damit sie Dinge aufschieben konnten, die sie so nicht in ihrem eigenen Hier und Jetzt erledigen mussten. Zu Lebzeiten noch waren sie die Menschen von früher und später, doch im Hier und Jetzt spricht man von ihnen nur noch als die Menschen von damals, denn auch ihr Denken an das, was sie Zukunft nannten, führte immer dazu, dass sie das Hier und Jetzt vergaßen. Weil das Kind ohne Namen gerade in seinem Gedächtnis die Wochentage durchgeht, und nur auf sechs kommt, obwohl es weiß, dass es sieben gab, verliert es die mechanischen Maikäfer mit ihren Hornissenstacheln und Spinnendrüsen für einen kurzen Moment aus den Augen. Bevor es reagieren kann, fängt jedoch das andere Kind den Schwarm mit beiden Händen, und zerdrückt die Käfer, sodass ihre Überreste wie Sand auf den glatten Stein prasseln. Das Kind ohne Namen registriert dies, und merkt es sich gut. Ein solches Verhalten, nämlich dass ein Mensch einen anderen Menschen als sich selbst vor einem Angriff schützt, hat es bisher nie gesehen. Es weiß, dass ein solches Verhalten eigentlich nicht möglich ist, dass es gegen die Natur geht, zumindest gegen die der Menschen im Hier und Jetzt. Während die beiden Kinder langsam aber stetig dem Gipfel des Monolithen näher kommen, ist das Kind ohne Namen in Gedanken immer wieder beim Geschöpf an seiner Seite. Es fühlt sich an die Bilder auf den Tafeln erinnert, auf denen es die Menschen von damals gesehen hat, die Menschen mit Emotionen wie Liebe, Hass, Trauer, Stolz. Natürlich weiß es, dass es solche Menschen nicht mehr geben kann, denn sie sind vor ewig langen Zeiten ausgestorben. Gleichzeitig aber weiß es um bestimmte Bilder von Menschen im Hier und Jetzt mit seltener Fehlentwicklung, die dazu geführt hat, dass ihr Körper ihnen immer wieder vorspielt, Gefühle zu empfinden – Gefühle, die Visionen in ihnen auslösen, welche sie glauben lassen, sie seien die letzten Nachfahren der Menschen von damals. Einen Menschen mit solcher Fehlentwicklung hat das Kind ohne Namen bisher noch nie gesehen. Das andere Kind im Blick, ohne es betrachten zu müssen, erkennt es in sich selbst nun zum ersten Mal im Leben etwas, dass ihn an den Zweifel erinnert, der den Menschen von damals zuletzt ihr einziger verbliebener Gott gewesen war: Zum ersten Mal im Leben weiß es etwas nicht mit absoluter Sicherheit, nämlich ob das andere Kind ein solcher Mensch mit seltener Fehlentwicklung ist, oder nicht.
Das Kind ohne Namen wendet sich also zum Geschöpf an seiner Seite und sieht mit festem Blick in dessen Augen. Das andere Kind bleibt stehen, und das Kind ohne Namen wartet darauf, dass etwas passiert – dass es einknickt, seinem Blick ausweicht, dass es weiter geht. Doch nichts geschieht. Noch bevor sie die nächste Stufe erreichen, werden sie erneut attackiert, diesmal von so vielen Gestalten auf einmal, dass das Kind ohne Namen nicht erkennt, um welche Arten von Geschöpfen es sich handelt. Alles, was es erkennt, ist die Gefahr, also die Aktion, sowie die zwingend notwendige Reaktion, die so schnell erfolgt, dass keine der Geschöpfe die Gelegenheit bekommt, ihm oder dem anderen Kind ein Haar zu krümmen. Das Kind ohne Namen betrachtet die Kadaver und weiß nun mit Sicherheit, was es schon seit dem Treffen auf das andere Kind auf halber Höhe des Monolithen registriert hat: Die anderen Geschöpfe haben längst bemerkt, dass es selbst und das andere Kind gemeinsam dabei sind, die Quelle des Wassers zu finden, und sie sich somit mit jedem Schritt weiter vom Weg des Individuums wegbewegen. Sie wissen, dass je weniger Individuum sie sind, desto leichtere Beute, also lauern den beiden auf den nächsten hundert Stufen immer mehr von ihnen auf, und greifen sie an, irgendwann selbst die Schwächsten und am wenigsten Individuellen, die hier oben noch übrig sind. Selbst sie aber würden trotzdem nie daran denken, sich mit einer anderen Seele zusammen zu tun, wie es die beiden Kinder augenscheinlich getan haben. Den Kindern jedoch gelingt es zur Ehrfurcht aller, jeden Angriff abzuwehren, nicht indem sie aktiv zusammenarbeiten, aber weil sie wissen, dass zumindest für den Moment jemand hinter ihnen steht, der dasselbe Ziel hat wie sie, und ihr Fokus sich dadurch noch klarer auf die Gefahr direkt vor ihnen Augen richten kann.
Irgendwann auf einer Stufe, auf der sich ansonsten keine weiteren Geschöpfe befinden, treffen sie auf einen weißen Schwan mit schwarzen Augen. Das Kind ohne Namen sieht die Bilder an den Tafeln vor Augen, auf denen sich zwei Menschen von damals, als Schwäne verkleidet, miteinander bewegten, begleitet von Musik, ein Mensch mit schwarzen Federn, einer mit weißen. Das Kind ohne Namen weiß, dass damals, als es Sprache gab mit Worten und Bedeutung, die Menschen solche und ähnliche Bewegungen als ‚schön‘ bezeichneten, doch natürlich weiß es auch, dass die Menschen in ihren Verkleidungen genauso wenig schön sein konnten wie der Schwan auf der Monolithen-Stufe vor ihm, denn die Worte der Menschen von damals sowie ihre Bedeutungen waren von Anfang an nichts als Ablenkung gewesen. Ablenkung von der wahren Natur der Dinge, von der wahren Individualität einer jeden Gestalt. Der weiße Schwan, er hat keine Angst vor dem Kind ohne Namen, genauso wenig wie vor dem anderen Kind. Er hat keine Angst, doch er greift nicht an, und bevor das Kind ohne Namen die Chance hat, zu handeln, schnellen die Hände des anderen Kindes zum Hals des Schwans, und brechen nicht nur sein Genick, sondern reißen gleich den Kopf ab, der die tausenden und abertausenden Stufen der Monolithen-Treppe hinunterfällt. Das Kind ohne Namen weiß nun mit Sicherheit: Das andere Kind ist doch keine der Gestalten mit seltener Fehlentwicklung. Es ist kein Ebenbild, doch immerhin ein Abbild seiner selbst, und so gibt es keinen Grund, es vor dem Erreichen des Gipfels loszuwerden. Zuvor hat das Kind ohne Namen natürlich trotzdem nicht geirrt: Auch zuvor hat es nach anfänglichem, eingebildeten Zweifel etwas mit Sicherheit gewusst, nämlich dass das andere Kind sehr wohl eine solche Fehlbildung haben muss. Jetzt aber weiß das Kind ohne Namen es besser, und altes Wissen ersetzt neues, ohne dass dadurch neuer Zweifel in ihm aufkommt. Als der Klang des fallenden Schwanenkopfes langsam zu verklingen beginnt, blickt das Kind ohne Namen nach oben, und sieht: Es sind keine hundert Stufen mehr bis zum Gipfel des Monolithen. Mit dem letzten verhallenden Laut von Fleisch auf Stein hört das Kind ohne Namen jedoch ein neues Geräusch – es ist ein Rauschen und ein Beben und Sprudeln, zugleich über ihnen und in tiefster Tiefe, welches klingt, als werde es schon lange unterdrückt, schon seit Ewigkeiten gewaltsam zurückgehalten. Auch das andere Kind bemerkt das Geräusch, und sie folgen ihm gemeinsam die letzten hundert Stufen hinauf, wo keine weiteren Geschöpfe auf sie warten, denn nichts und niemand hat sich bisher bis zu diesem Punkt gewagt, auch wegen ihnen. Endlich, nach all den unzähligen Stufen, erreichen das Kind ohne Namen und das andere Kind also den Gipfel des Monolithen, wo das Rauschen und Beben so laut ist, dass selbst das Surren der Licht-Drohnen über ihnen nicht mehr zu vernehmen ist. In der Mitte des Gipfels entdeckt das Kind ohne Namen ein tiefes Loch im glatten Stein, und blickt hinunter, doch in der Dunkelheit ist natürlich kein Wasser zu erkennen. Je länger es in das dunkle Loch blickt, desto leiser wird das Rauschen und das Beben und das Sprudeln, also entfernt es sich wieder von dem Loch, und lauscht. Das Geräusch nimmt in seiner Intensität zwar nicht zu, doch zumindest nimmt es jetzt auch nicht mehr ab, also sieht das Kind ohne Namen zum anderen Kind, und sie warten gemeinsam auf die Selbstoffenbarung des Wassers. Plötzlich aber wendet sich das andere Kind vom Loch ab, sieht das Kind ohne Namen an, schüttelt den Kopf, und setzt sich mit Blick nach unten auf die oberste Stufe des Monolithen. Das Kind ohne Namen weiß mit einem Mal ganz ohne Zweifel: Das andere Kind ist sehr wohl einer der Menschen mit seltener Fehlentwicklung, denn es ist bereit, wozu nur bereit sein kann, wer das empfindet, was die Menschen von damals ‚Empathie‘ nannten, und auch weiß, dass es solche ist: Es will dem Kind ohne Namen ganz von sich aus den ersten Schluck der Quelle überlassen. Das Kind ohne Namen erkennt dies, nimmt einen zweiten Bissen vom Fisch in seiner Hand, und stößt das andere Kind, ohne weiter zu zögern, von der obersten Stufe des Monolithen hinunter. Das andere Kind fällt, und fällt, und fällt, und landet, schon fast tot, auf einer der untersten Stufen der Treppe, wo ein Affe bereits auf es wartet. Das Kind ohne Namen erkennt, ohne es tatsächlich sehen zu müssen, wie der Affe das andere Kind empfängt, es mit seinen Pranken packt, es gnadenlos zerfetzt und sekundenschnell verschlingt. Im nächsten Augenblick stellt es fest: Das Rauschen und Beben und Sprudeln ist nun vollends verklungen.
Das Kind ohne Namen wartet danach lange am Loch auf das Wasser, und sieht nach einer Weile immer wieder Geschöpfe, die durch den Fall des anderen Kindes neuen Mut gefasst haben, und nun zum Gipfel hoch wollen, um auch das zweite Kind hinunterzustoßen. Doch jedes Mal, dass das Kind ohne Namen eines der spähenden Geschöpfe aus der Ferne mit eisernen Augen durchbohrt, weicht dieses demütig zurück auf seine Stufe, und wagt nicht, es ein weiteres Mal zu versuchen. Als Hunger und Durst des Kindes ohne Namen so groß sind, dass sie es fast von selbst zum Fallen bringen, so groß, dass es fast erneut beginnt, zu zweifeln, zeigt sich endlich, endlich das Wasser, noch bevor das Geräusch zurückkehrt, und das Kind trinkt und trinkt, so viel es kann. Irgendwann geht nichts mehr in es hinein, also legt es sich auf den glatten Gipfel des Monolithen, und schließt zum ersten Mal seit langer, viel zu langer Zeit die Augen. Für ein paar Sekunden nimmt es nicht mehr wahr als den zutiefst gestillten Durst. Mit einem Mal aber entdeckt es in sich etwas, dass ihn an ein Funkeln erinnert, welches er vor langer Zeit auf den Tafelbildern in den Augen der Menschen von damals gesehen hat, den ganz frühen Menschen von damals, bevor der Zweifel ihr einziger Gott geworden war. Das Kind ohne Namen, es entdeckt in sich: Glück. Sofort weiß es, dass dies das Ende ist. Es nimmt einen letzten Schluck vom Wasser, einen finalen, vernichtenden Tropfen, und stürzt sich damit in die kalte Tiefe unterhalb des Lochs. Es fällt, und fällt, und fällt, ohne Aktion, ohne Reaktion, und fällt weiter, bis es blind und taub ist, ohne Sinn für Zeit oder Raum oder Bewegung oder Stillstand – es fällt, bis irgendwann der Fall in seiner puren Individualität das einzige ist, was die Poren seiner innerlich geschwemmten, äußerlich verhärteten Haut noch wahrnehmen können.