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Das kleine Hochhaus
Wechselnde Sehnsucht
„Nein, warte doch mal kurz!“, rief Max, als er das Dach betrat.
Sybille drehte sich um und sah einen Mann, der mitten im Winter mit einem grünen T-Shirt und Jeans bekleidet auf dem Dach des kleinsten Hochhauses von Michelstadt stand.
„Warum sollte ich warten? Wenn Sie mir zu nahe kommen, dann werde ich springen, egal was sie mir jetzt noch sagen wollen.“
„Na, was du nicht sagst!“
Max lief langsam, schon ein bisschen von der zwar nicht so hohen, jedoch schon ordentlichen Höhe, beeindruckt, auf einen Lüftungsschacht zu, auf dem er sich nieder lies.
„Sag mal, hast du eine Ahnung, was deine Familie am heutigen Abend so macht?“
„Wie kommen Sie überhaupt auf die Idee, dass ich eine Familie habe? Und wenn ich eine hätte, dann wüsste ich sicherlich, was sie tut.“ Sybille drehte sich um und setzte sich auf den Vorsprung, auf dem sie gerade noch stand. Max sah nun, dass sie eine junge Frau war, der die Gründe für ihren Versuch vom Hochhaus zu springen deutlich ins Gesicht geschrieben standen. „Ich habe eine Familie“, sagte sie, „,wenn man das so nennen kann. Mein Sohn ist 13, doch davon merke ich nicht viel.“ „Warum?“, fragte Max, währenddessen er sich langsam wieder aufrichtete und einen Schritt auf Sybille zu ging. „Er ist behindert. Schon seit seiner Geburt. Er braucht mich täglich, stündlich... selbst jede Minute, seid über 13 Jahren verbringe ich mit ihm.“ „Dein Mann?“ „Ha, mein Mann. Ich habe keinen Mann.“ „So wie du keine Familie hast?“ „Regen Sie mich nicht auf!“, rief Sybille und drohte sich wieder zu erheben. „Warte bitte“, rief Max. Sybille sah plötzlich tief in die Augen des Mannes, den sie noch nie gesehen hatte. Er war groß, hatte einen Vollbart und zarte, liebe, braune Augen. Sie setzte sich, von einem warmen Gefühl gepackt, wieder auf die Anhöhe.
„Dein Sohn, er liebt dich. Wie soll er dir deine Gefühle zeigen, wenn du ihn schuldig machst?“ „Ich mache ihn schuldig?“ „Ja, das tust du. Du siehst in seinen Augen deinen Mann. Er hat dich verlassen und dir diese Last zurückgelassen. Als Strafe, weil du nicht genug für ihn warst. Das denkst du. Doch dein Sohn ist tief in deinem Herzen das wunderbarste Geschenk der Welt!“ Sybille war geschockt. Dieser Mensch sprach Gefühle aus, die sie in sich hatte, jedoch niemals jemanden etwas davon erzählt hätte. „Schau deinem Sohn in die Augen. Du bist seine Mutter. Er hat nichts anderes als dich. Er braucht deine Hilfe, damit er genau so werden kann, wie du.“ „Wie ich?“ „Ja, wie du. Das möchte er, es ist sein Wunsch, seitdem er deine Tränen in den Augen gesehen hat.“ „Woher wissen Sie das?“ „Ich weiß nichts. Ich fühle.“ Sybille blickte auf, verwirrter als sie es sowieso schon war an diesem Abend. Sie blickte erneut auf Max, der nun von ihr gewand war. „Ich danke Ihnen, dass Sie mit mir so offen reden.“ „Du musst mir nicht danken. Gehe nach Hause und danke dir selbst. Danke dir selbst für deinen Sohn.“ Sybille wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie schaute ein letztes Mal auf Max und rannte nun an ihm vorbei, die Treppe, die sie leichten Schrittes gekommen war, hinunter. Der Weg ins Leben hinab schien ihr aufeinmal so einfach, der Aufstieg war viel mühsamer.
Unten angekommen hörte sie einen Schrei. Max war gesprungen. Er verlor David, seinen Sohn, der das ausführte, was Sybille zum Glück nicht machte.