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Das Lächeln des Kindes
Es war einmal in einer Zeit, in der die Winter noch sehr hart und kalt werden konnten, ein alter Mann. Er wurde von Allen Peer genannt und war bei alt und jung als der Geschichtenerzähler bekannt.
An Tagen, an denen der Wind durch die Fugen der abgenutzten Holzplanken pfiff, und den von der Kälte steif und zerbrechlich gewordenen Porzellanohren der Alten seine unentrinnbare Melodie einflößte, an Tagen an denen der Himmel so dunkel und grau war, dass man ihn trösten musste, waren seine Geschichten wie eine Reise, die alles vergessen ließ.
Seit Jahren hatte Peer die Abende in Gesellschaft der anderen Dorfbewohner genossen und war von ihnen versorgt worden, wenn er das Tagesende mit seiner ruhigen, tiefen Stimme erfüllt hatte.
Doch seit diesem Winter war Peer sehr gealtert. Er merkte, dass seine Stimme kratzig geworden war und die bunten Farben seiner Bilder verblassten. So stellte er sich die Frage, ob er denn sein Dasein seinem Wesen gemäß erfüllt hatte. Hatte er seine Leben als Lückenfüller für triste Momente gefristet, oder war es ihm auch gelungen, die Menschen den Tiefsinn des Lebens spüren zu lassen?
Nun war es Sommer in dem kleinen Dorf am Berghang und es herrschten solch erdrückende Trockenheit und schweißtreibende Hitze, dass die Menschen noch niedergeschlagener von der Arbeit auf den Feldern, als gewöhnlich waren.
Viele der jungen Dorfbewohner hatten das Dorf verlassen, weil das Wetter eine miserable Ernte vorhersagte und waren in die Stadt gegangen, um dort Arbeit in einer der Fabriken zu finden. Dies bereitete Peer Kummer, denn seit Generationen war die Gemeinschaft des Dorfes nur dadurch erhalten geblieben, dass die Jungen und die Alten gemeinsam Arbeit und Feierabend verbracht hatten.
Der weise Mann ahnte, dass es nicht bei dieser einen Veränderung bleiben würde – und er sah die Möglichkeit sich zu beweisen, dass seine Geschichten doch mehr konnten als nur Langeweile kurzweiliger zu machen und so eine Antwort auf seine quälende Frage nach der Erfüllung seines Wesens zu finden.
Es war Zeit, eine Geschichte zu erzählen, die die Alten spüren lassen sollte, dass das Rad der Zeit nicht anzuhalten war. Den Jungen aber galt es zu vermitteln, dass das Glück in der Einfachheit der Dinge liegt.
Alt und Jung vereinte - trotz der schlechten Einflüsse, die das Stadtleben so mit sich bringen konnte - sonntags der Gottesdienst in der kleinen Kirche. Anschließend traf man sich auf ein Glas unter der großen Linde, wo der Wirt Stühle aufgestellt hatte und kalte Limonade servierte.
Dies sollte der Anlass für den Geschichtenerzähler sein, seine Weisheit kund zu tun.
Nachdem alle einen Platz gefunden hatten und das kühle Getränk sich auf Geist und Leib auswirkte, räusperte er sich, strich sich durch den Bart und schloss die Augen, um kurz inne zu halten.
„Seit ruhig! Peer möchte etwas erzählen!“ …ging es durch die Reihen. Die Kinder setzten sich aufgeregt zu seinen Füßen auf den Boden und schauten ihn erwartungsvoll an und die Erwachsenen rückten ihre Stühle mit lautem Quietschen etwas näher.
„Es war einmal…“ begann Peer und erzählte eine Geschichte, die mehr Fragen aufwarf als sie zu beantworten, denn es kam kein Held und keine Handlung in dieser Geschichte vor. Sie erzählte von Weisheiten, die über Jahrhunderte ihre Kreise gezogen hatten.
Als die Geschichte vorbei war, ging zwar ein bewegtes Murmeln und ein unruhiges Flüstern durch die Menge, man klatschte, einige Gesichter sahen etwas verwirrt drein, weil die Geschichte doch etwas ungewöhnlich war. Es wurden einige Worte über das Alter des Geschichtenerzählers gewechselt und langsam ging das Gespräch zu den gewöhnlichen Dingen, dem Tratsch und anderem über.
Ohne dass es jemand bemerkte, zog sich der Geschichtenerzähler aus der Gesellschaft zurück.
„Gerade mal gegen die Langeweile und zum Amüsement wollen die Leute meine Geschichten hören“, grämte es ihn. „Aber zuhören und sich in Frage stellen lassen ist eine Kunst, die die Menschen verloren haben. Es fehlt ihnen an Feinsinn, den Alten, wie den Jungen! Habe ich ihnen nicht gelehrt, dass das Wesentliche unvergänglich ist und dass die Sorgen der Welt verfliegen können, wenn man sich dem Duft einer Blume jeden Tag von neuem hinzugeben vermag? Oder liegt es an ihrer Dummheit? Vielleicht auch doch an meinem Unvermögen?“
Wut und ein Gefühl der Machtlosigkeit breiteten sich in seiner Brust aus. Er erinnerte sich an die etlichen Abende, an denen er die müden Gesichter zum Lachen und die traurigen Gestalten zum Tanzen gebracht hatte und sah jetzt ganz klar, dass sich die Menschen nur zur Abwechslung und Kurzweile auf Reisen in abgelegene Welten führen lassen hatten.
Hatte er sein Ziel verfehlt?
Gedanke um Gedanke wälzend versuchte er an diesem Abend einzuschlafen, warf sich vor, nicht auch einfach Landwirt geworden zu sein und verfluchte die Einfältigkeit der Menschen.
In dieser Nacht hatte der Geschichtenerzähler einen Traum:
Auf einem magischen Teppich sitzend, überflog er etliche Länder, blauweiße Meere und spitze Gebirge, sah Städte und Dörfer, Menschen bei der Arbeit auf dem Feld und begleitete einen Falken bei der Jagd nach Mäusen und Hasen.
Schließlich bewegte er sich auf eine Stadt zu, deren Pracht sich ihm schon von weitem durch ihre vielen Türme und spitzgiebeligen Dächer ankündete.
Als er direkt über der Stadt war, sah er die Menschen geschäftig in den Gassen umherirrend ihrer Arbeit nachgehen. Sah sie in ihrem Alltagstrott, der ihnen illusorische Wichtigkeit verlieh. Und: er sah die Kälte und Bitterkeit in ihren Herzen.
Da bemerkte er, dass seine Anwesenheit einem Kind nicht verborgen geblieben war. Dieses reckte seinen Hals nach ihm und lachte ihm zu. Es winkte ihm, wollte allen mitteilen, was es gesehen hatte, doch keiner hörte ihm zu und es wurde von seiner Mutter ruckartig weiter gezogen.
Das Bild des Traumes verblasste mit dem in der Menge der Menschen verschwindenden lachenden Gesicht des Kindes.
Am nächsten Morgen, als Peer erwachte, war er traurig, aber das lachende Gesicht des Kindes hatte etwas ihn ihm klar werden lassen: dass er das Rad der Zeit nicht anhalten konnte und die Menschen nicht zu der Erkenntnis, dass das Glück in jedem winzigen Moment steckt, zu zwingen vermochte.
Doch er wusste auf einmal, dass er sein Ziel nicht verfehlt hatte, sondern sein blauäugiges Interesse, die Menschen zum Nachdenken zu bringen, ihn selbst von der Einfachheit der Dinge abgebracht hatte. Er hatte versucht der Magie der Geschichte, die an sich schon schön und tiefsinnig war, einen aufgesetzten Sinn zu verpassen.
Denn was konnte eine sinnvollere Aufgabe sein, als jenen Menschen, die nicht vermochten, sich dem Augenblick zu widmen, die Möglichkeit zu geben, mit den Augen eines Kindes zu sehen, dem ein fliegender alter Mann über den Dächern der Stadt nicht entgehen konnte?