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Das Leben am Empfang
Das Leben am Empfang
Elise ist der Punkt, wo alles anfängt und alles aufhört. Hier kommen die Menschen an und hier verschwinden sie auch wieder, hinaus in ein Leben, welches so anders ist als das von Elise. Jeder Mensch hat Träume und Elise träumt meistens davon, zu sein wie alle diese Menschen, die bei ihr vorbei gehen. Sie wünscht sich, gebraucht zu werden und unersetzbar zu sein.
Meist wird Elise unsanft aus diesen Tagträumen gerissen, wie heute. Dr. Klein kommt vorbei, zischt kurz „Kaffee“ und verschwindet wieder ohne ein weiteres Wort. Elise sieht ihm nach, erhebt sich dann schwerfällig von ihrem Drehstuhl und geht in die Küche. Das Telefon kann sie ruhig einen Moment aus den Augen lassen, es klingelt nur äußerst selten und wenn, dann ist es meist ihre Freundin Lilly, die sie noch aus der Schulzeit kennt. Diese Anrufe bringen immer ein wenig Abwechslung in den langweiligen Alltag und die Uhr dreht sich dann für ein paar Minuten schneller.
Mit einem leisen Klirren stellt sie Tasse und Untertasse neben dem Computer von Dr. Klein ab. Elise wartet noch kurz, obwohl sie weiß, dass es umsonst ist. Als keine Reaktion kommt, schleicht sie langsam zurück zu ihrem Platz. Noch vier Stunden.
Es klingelt. Elise zuckt kurz zusammen, drückt dann auf den Türöffner und wartet. Zwei gut gekleidete Herren betreten den Vorraum: „Zu Frau Liebke“, sagt der eine im Befehlston. „Sehr gerne“, antwortet Elise freundlich wie immer. Dann wählt sie die Nummer: „Frau Liebke, hier sind zwei Herren, die sie…“, weiter kommt sie nicht. „Schicken Sie sie her“, tönt es ungeduldig aus dem Hörer, gefolgt von dem vorwurfsvollen Tuten. „Wenn Sie bitte zur ersten Tür vorne rechts gehen würden, Frau Liebke erwartet sie“. Ohne sich noch einmal umzusehen, gehen die Herren davon. Elise sieht ihnen traurig hinterher. Ist sie wirklich so unscheinbar? Ist sie es nicht wert, dass man ihr und ihrer Arbeit Respekte zollt, indem man ihr mal ein nettes Wort sagt? 34 Jahre arbeitet sie jetzt für diese Firma, 34 Jahre voller Ignoranz und Respektlosigkeit. Sie starrt vor sich hin, beobachtet die Zeiger der Uhr an der Wand gegenüber. Endlich Feierabend, Zeit nach Hause zu gehen.
Elise zieht sich ihren grauen Mantel an und geht auf den Ausgang zu. Keiner wartet zu Hause auf sie, deshalb beeilt sie sich nicht. Langsam läuft sie die schmale Straße entlang, bleibt kurz an den Schaufenstern stehen. Als sie das kleine Mehrfamilienhaus endlich erreicht, schließt sie Tür auf und schlurft seufzend in die Küche. Heute nimmt Elise ein paar mehr von den kleinen Tabletten, die ihr einen erholsamen Schlaf versprechen. Sie legt sich auf ihr Bett, schließt die Augen, ihre Hand rutscht von der Bettkante und Elise lässt sich fallen in die Arme ihres kleinen Sohnes, der viel zu früh von einem betrunkenen Autofahrer aus dem Leben gerissen wurde.
Fluchend macht Dr. Klein am nächsten Morgen selbst die Kaffeemaschine an. Er lässt seine Bürotür den ganzen Tag offen, obwohl er von der Zugluft einen steifen Hals bekommt, doch er kann es sich nicht leisten, die Klingel zu überhören und er fragt sich immer und immer wieder: „Wo ist bloß diese unnütze Frau vom Empfang?“.