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Das letzte Hemd
Seit über fünf Jahren schon arbeitete Felix in diesem tristen Versicherungsbüro, seit über fünf Jahren kam er an jedem Arbeitstag an diesem edlen Herrenausstatter vorbei, seit über fünf Jahren hatte er ihn übersehen.
Auch heute wäre Felix weitergegangen, hätte er nicht aus den Augenwinkeln ein dunkelgraues Oberhemd bemerkt, mit feinen weinroten Streifen. Ein traumhaftes Stück zu einem albtraumhaften Preis. Minutenlang hatte er ins Schaufenster gestarrt; ansehen kostete schließlich nichts. So ein teures Hemd brauchte wirklich kein Mensch!
Die Verkäuferin, eine blondgelockte Fee von Mitte zwanzig mit Schmollmund und blauen Augen von hypnotischer Kraft, hatte ihn angelächelt und mit schräg gelegtem Kopf bedauert, dass das graue Hemd mit Kragenweite 40 leider nicht mehr vorrätig sei.
„Wir bekommen nächste Woche eine Nachlieferung“, hatte sie gegurrt, „soll ich eines für Sie zurücklegen?“
Felix war halbwegs überzeugt, mit Ja geantwortet zu haben, konnte sich aber am Abendbrottisch neben Frau und Kindern nur noch an einen atemberaubend blonden Engel erinnern. Er stellte sich vor, wie ihre Haare im Sturm zerzausten, wie er die Kleine mit dem Puppengesicht an sich zog, wie sie es geschehen ließ, wie sie erwartungsvoll die feucht schimmernden Lippen öffnete, wie ...
„Woran denkst du?“
Irritiert sah Felix seine Frau an, ihre braunen Augen, die knöchrige Nase und die schwarzen, etwas dünnen Haare. „An nichts.“
„Das ist alles?“ Stille. Sophie wickelte sich eine Strähne um den Zeigefinger. „Wirklich an nichts?“, bohrte sie weiter.
„Ich überlege die ganze Zeit, ob ich einen Laserdrucker oder einen Tintenstrahldrucker kaufen soll.“
In der Nacht fiel er über Sophie her, wie er es zuletzt lange vor ihrer Heirat getan hatte, lange, bevor die Kinder gekommen waren. Ausgeschaltetes Licht im Zimmer, Sophie hatte jetzt ein Puppengesicht mit Schmollmund, blauen Augen und blonden Locken. Erschöpft drehte er sich zur Seite.
Sie trug eine knapp sitzende Edeljeans und eine enge schwarze Bluse, als Felix das graue Hemd abholte. Sie wirkte schmaler an diesem Tag. Beim Bezahlen zitterten seine Hände und er ließ das Portemonnaie fallen.
„Sind Sie dünner geworden?“, fragte er beim Aufstehen und las auf dem Schildchen an ihrer Bluse, dass sie Tanja Weidemann hieß.
„Leider nicht“, lachte sie, „und ich habe immer noch Appetit.“
Felix zögerte und verstaute das Portemonnaie umständlich in der Gesäßtasche, knöpfte sie zu.
„Dann sollte ich Sie wohl gelegentlich zum Essen einladen.“
Jetzt machte sie ein gespielt ernstes Gesicht. „Bis dahin bin ich bestimmt verhungert.“
Felix starrte sie an. Lange. Er atmete tausendmal schneller als sonst, tausend gierige Gedanken durchzuckten sein Hirn, tausend Liter Blut schossen in seine Lenden.
„Das will ich nicht hoffen“, sagte er schließlich, schnappte sich die Einkaufstüte und stolperte aus dem Laden.
Sophie strahlte, als er ihr den üppigen Rosenstrauß in die Hand drückte. Sie strahlte nicht mehr, als er das Designerhemd anzog. Zu teuer!
„Wer mehr will im Leben, muss gepflegt auftreten“, erwiderte er, während seine Gedanken bei der Verkäuferin verweilten. Bei ihr bleiben diese Gedanken immerzu; wenn er im Büro arbeitete, wenn er im Bus saß, wenn er ein blondgelocktes Mädchen sah und feststellte, dass es nicht sie war.
Wartete im Leben vielleicht doch noch mehr als langweiliges Glück auf ihn, mehr als eine brave Ehefrau und wohlgeratene Kinder, von denen die Nachbarn beeindruckt schwärmten?
Felix kaufte ein zweites Luxushemd, ein hellgraues, und wieder konnte er sich Tanjas flirrender Anziehungskraft kaum entziehen. Sophie bekam keine Rosen.
Ein paar Tage später zog ihn nach Feierabend das Rotlichtviertel magisch an. Obdachlose bettelten um ein paar Cent, schmuddelige Neonleuchten lockten in Spielhöllen. Wie aus dem Nichts tauchte eine Blondine vor ihm auf, lächelnd. Sie hätte seine Hemdenfee sein können.
„Wollen wir etwas Schönes machen“?, fragte sie.
Felix war wie vom Donner gerührt. Noch niemals hatte er sich Sex gekauft, genauso wenig wie teure Hemden. Zögernd folgte er ihr in eine düstere Absteige.
„Tolles Hemd“, sagte sie, „zieh dich aus.“ Er gehorchte. Sie roch nach Whisky und Zigarettenrauch. Ein mechanisch vollzogener Akt. Es war nicht sie.
Felix bedankte sich höflich und die Hure lachte. Sophie bekam Rosen, die Kinder ein Computerspiel.
Felix kaufte in den folgenden Wochen noch vier Hemden in unterschiedlichen Grautönen, nahm sich jedes Mal vor, seine Traumfrau endlich einzuladen, der Qual ein Ende zu bereiten. Er konnte es nicht. Das Paradies schien so nah. Als er das fünfte Hemd kaufen wollte, war Tanja Weidemann fort.
Am Donnerstag kam er früh nach Hause. Auf dem Sofa lag ein durchsichtig verpacktes Designerhemd, ein tiefes Dunkelrot sprang ihn an. Das Hemd stammte vom selben Hersteller wie die, die er in den letzten Wochen gekauft hatte. Ein Werbeaufkleber des Herrenausstatters beseitigte letzte Zweifel. Felix ließ sich in den Sessel fallen und starrte ausdruckslos vor sich hin.
„Denkst du gerade darüber nach, welchen Drucker du kaufen willst?“ Sophie war hinter ihm unhörbar ins Zimmer getreten. Er drehte sich nicht um.
„Ja“, sagte er tonlos.