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Das Mandala meines Seins
Das Mandala meines Seins
Mit großen Augen starren die Kinder mich an. Ich sehe ihre ausgemergelten Körper, die mir das Elend, in dem sie leben, brutal vor Augen führen. Flehende Augen verfolgen mich. Es bringt mich schier um, ihnen nichts von meinen Nahrungsvorräten zu überlassen.
Vor mir liegt die Hochebene von Wadis. Am Horizont kann ich einige Tafelberge ausmachen. Sie sind mein Ziel. Riesige Sanddünen muss ich überwinden, um dorthin zu gelangen.
Die Kinder plappern etwas in der eigentümlichen Sprache der Berber. Ich verstehe es nicht. Doch ihre Finger deuten auf meinen Wassersack. Sie sind durstig.
Ihre rissigen Lippen, werden nicht ein Mal mehr vom Speichel befeuchtet, wenn sie mit ihrer Zunge darüber fahren.
Ich weiß, es ist sinnlos, ihnen mein Wasser zu geben. Sie werden sterben. Es ist ihr Schicksal. Die Wüste ist gespickt mit ausgetrockneten Menschenkadavern. Ihre ausgeblichenen Knochen säumen die ehemalige Piste, die zum Versorgungslager nach Chinguetti führt. Manche der Kinder haben sich aus den gelblichen Knochen Spielzeuge gemacht. Sie spielen Krieg.
Die Luft flimmert vor Hitze und ich spüre meinen Wasserbeutel als unerträgliche Last. Meine Füße versinken mit jedem Schritt in dem feinen Sand. Die Kinder sind zu entkräftet, um mir zu folgen. Der Sand glitzert. Bis zum Abend werde ich das Farbspiel der Sonne bewundern können. Von Rosa bis Violett erscheinen die Schattierungen und prägen diese seltsame Landschaft.
Ich spüre, wie die Faszination der Wüste auf mich übergreift. Obwohl ich mich in Gefahr befinde, lullt mich eine trügerische Sicherheit ein. Die Farben durchdringen mein Innerstes, mein Herzschlag verlangsamt sich. Es sind die Vorboten. Wenn ich mich jetzt nicht dagegen wehre, werde ich einschlafen und nie wieder erwachen.
Bislang haben die überlebenden Wissenschaftler noch keine geeignete Prophylaxe gegen diese Erscheinung entwickeln können. Man weiß nicht, ob sie eine Folge der eingesetzten Biowaffen ist. Die Mitarbeiter der Forschungsstation in Atar haben auf die üblichen Psychopharmaka zurückgegriffen. Meistens Substanzen, die den Gehirnstoffwechsel verändern.
Ich brauche diese Medikamente nicht. Ein angeborener Gen-Defekt hat meinen Gehirnstoffwechsel so verändert, dass der Halluzinationseffekt der Farben mir nichts anhaben kann. Ich schlafe selten. Mein Gehirn erholt sich bei vollem Bewusstsein im Tagtraum.
So sehe ich jetzt die Skyline von New York vor mir. Da die Doppeltürme des World Trade Centers silbern schimmern, weiß ich: es ist ein Bild aus meiner Erinnerung.
Der Himmel ist tiefblau. Kurz bevor es Nacht wird. Die ersten Lichter gehen an. Manhattan im Zwielicht. Zehn Jahre bevor der große Krieg um das Öl ausgebrochen ist.
Ich fühle wie ein warmer Luftstrom über mein Gesicht streichelt. Es wird Nacht.
Nicht nur über Manhattan, sondern auch in der Wüste. Die ersten Sterne funkeln am schwarzen Himmel. Der Mond, eine schmale Sichel nur, steigt auf. Die sanften, abgeflachten Spitzen der Tafelberge glühen im Abendrot der untergehenden Sonne.
Ich hoffe, es ist nicht nur ein Gerücht, dass in Chinguetti noch Menschen leben.
Es käme einem Wunder gleich.
Entlang der Demarkationslinie in der Sahel-Zone habe ich noch vereinzelte Soldaten angetroffen. Sie schieben ihren Dienst für ein Land, das nicht mehr existiert. Die Lautsprecher funktionieren noch und aus ihnen brüllt Tag und Nacht: „ Das Leben im Westen ist besser. Tötet die, die uns töten wollen und lebt mit uns!“
Es gibt nur noch Niemandsland.
Mein Marsch ist anstrengend, meine Kräfte werden weniger. Ab und zu strauchle ich über ein Hindernis. Abgestorbenes Holz oder auch Knochen. Ich trinke einen Schluck Wasser. Nicht viel, nur ein wenig nippe ich, spüle meinen Mund, bevor ich es herunterschlucke.
Der Krieg hat alles zerstört. Nicht nur meine Heimat, meine Familie.
Auch mein Feind wurde getötet.
Jetzt, da mein Feind gestorben ist, fehlt er mir. Ich sehe den Sinn nicht mehr, warum wir uns gegenseitig getötet haben. Meine Erinnerung an den Krieg ist wie ein Erwachen aus einem rauschenden Fest mit einem mächtigen Kater danach.
Ich sehe die Ruinen der Weltstädte vor mir. Würfelartige Gebäude, die unter Feuer zusammengeschmolzen sind. Schwarze Wolkenwände erheben sich. Entladen sich in Blitz und Donner über die Toten. Dankbar saugt die verbrannte Erde den Regen auf, der beim Auftreffen nicht unmittelbar verdampft.
Einige Städte sind im Meer versunken, als das Polareis geschmolzen ist und eine riesige Flutwelle Land und Leben verschlungen hat. Über dem Wasser ist die Luft Nebel verhangen. Kein Laut ist zu hören.
Ich frage mich, ob es mein Glück gewesen sei, direkt an der Front zu kämpfen. Hier in der Wüste, wo verträumte Sonnenuntergänge die Unwirklichkeit des Krieges geprägt haben.
Meine Kameraden und ich sind die Demarkationslinie entlang gefahren. Der Fahrtwind hat wie heiße Föhnluft den Staub der Piste in die Wagen gewirbelt.
Staub, der sich in alle Ritzen festsetzt, unsere Poren verstopft, sich auf die Stimmbänder gelegt hat. Dann und wann haben wir von einem kühlen Bier geträumt, von einer prickelnden Dusche oder auch von einem Bach, der uns sanft in den Schlaf murmelt.
Die Schlaglöcher haben uns aus den Träumen geholt.
Ich habe gehört, Chinguetti ist wiederauferstanden. Im Mittelalter ist die Stadt ein heiliges Zentrum des Islams in Afrika gewesen. Die Wüste hat diese Stadt überrollt.
Ein Versorgungslager der Vereinten Nationen ist während des Krieges dort entstanden, weil die Stadt einst über eine eigene Wasserversorgung verfügt hat.
Schnell hat man eine erträgliche Wasserader gefunden.
Es ist nicht verseucht.
Lebendiges Wasser schmeckt unvergleichlich. Kleine Perlen benetzen die Zunge mit jedem Schluck. Diese Vorstellung treibt mich weiter.
Schritt für Schritt stapfe ich vorwärts. Ich bin kein Ungläubiger mehr.
Große Entfernungen sind mir selbstverständlich geworden. Auch wenn mein Auge nicht sehen kann, dass die Berge immer näher kommen, fühle ich, der Weg ist nicht mehr weit.