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Das Messie-Syndrom
Zeit seines Lebens war Martin ein unscheinbarer Mitbürger, nett und zuvorkommend, höflich und hilfsbereit. Die anderen Mieter in seinem Haus, einem grauen Plattenbau aus der untergegangenen DDR, beachteten ihn kaum, wenn sie ihm begegneten. Seit dem Tod seiner Mutter lebte er allein in der 72-Quadratmeter-Wohnung, die einem Schlachtfeld glich.
Überall lagen die unterschiedlichsten Sachen auf dem Fußboden verstreut oder stapelten sich bis unter die Zimmerdecke. Verborgen unter Tischen und Stühlen häufte sich Trödel aller Art, Bücher lehnten an überquellenden Wäschekörben, in denen zusätzlich Geschirr zu bewundern war. Sein verbauter Lebensraum glich einem größenwahnsinnigen Gesamtkunstwerk.
Hatte er ein Problem? Waren ihm seine Sorgen über den Kopf gewachsen?
Nein, natürlich nicht, was für ein absurder Gedanke. Er war vielleicht etwas faul oder hatte wichtigere Dinge zu tun als aufzuräumen. Ja genau, das ständige Zeitproblem … und überhaupt, er wüsste nicht einmal, womit er beginnen sollte. Seine Besitztümer waren ihm heilig und es brach ihm jedes Mal das Herz, wenn etwas davon in den Müll wanderte. Schließlich konnte man ja nie wissen, was man in Zukunft noch so alles gebrauchen konnte. Dann doch lieber sammeln, horten und sich einreden, eine Ordnung im Chaos zu besitzen.
Mittlerweile verblieben nur noch enge „Fußwege“ zwischen großen Haufen, Kisten und Säcken. Über den unbenutzten Gegenständen bildete sich ein Staubschleier und die Zimmerpflanzen welkten ungegossen in ihren Töpfen vor sich hin.
Martins Wohnung war über die Jahre unbewohnbar geworden, selbst ihm fiel es zunehmend schwer, von der Wohnstube in die Küche oder ins Bad zu gelangen. Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal den Abwasch gemacht geschweige denn die Fenster geputzt hatte.
Insgeheim fühlte er sich unwohl in seiner Haut, aber auch dieses unterschwellige Gefühl wurde von seinem Wesen verdrängt, das mit aller Macht den Anschein von Selbstständigkeit und innerer Ruhe bewahren wollte.
Martin war Perfektionist. Wenn er etwas anging, brachte er es selten auch zu Ende. Seine Ansprüche an sich selbst waren einfach zu hoch. Das Leben draußen, in der freien Wildbahn war ihm schon kompliziert und nervenaufreibend genug. Seine Mutter, die er über alles liebte, hatte ihm nie beibringen können Ordnung zu halten. Trotz unzähliger Versuche war sie selbst nie dazu imstande gewesen. Letztendlich hatte sie ihr Verhalten an ihren Sohn vererbt.
Irgendwann einmal würde alles anders werden, ganz sicher. Er würde endlich aufräumen und sein Leben radikal ändern. Er würde einen Job finden und nicht länger als Hartz 4-Opfer oder Messie-Martin verachtet werden, irgendwann einmal.
Plötzlich hörte er etwas.
Etwas, das er nicht einordnen konnte. Etwas, das ihm vollkommen fremd war.
Ein Geräusch wie …mahlende Zähne. Rarch … Raftz … Reiss.
Das Fressgeräusch wurde immer intensiver und schwoll zu einer bedrohlichen Lautstärke an. Kein Zweifel, er war nicht länger allein in seiner Wohnung. Jemand, oder besser gesagt, etwas hatte sich zwischen den aufgetürmten Müllbergen eingenistet und fühlte sich dort anscheinend pudelwohl. Panik ergriff von ihm Besitz und eiskalter Angstschweiß verdampfte auf seiner glühend heißen Stirn. Die Gegenwart anderer Menschen machte ihn nervös aber ein Wesen, das in seinem selbst geschaffenen Chaos auf ihn lauerte, konfrontierte ihn mit seinen schlimmsten Albtraum-Fantasien. Ein einzelner Gedanke schoss ihm instinktiv ins Hirn: Raus hier!
Mit einem Mal schien es keinen Grund mehr für ihn zu geben, noch länger in seiner Wohnung auszuharren. Er würde verschwinden, diese verfluchte Umgebung verlassen und nie wieder hierher zurückkehren. Hoffnung keimte in ihm auf und er schlich mit erhöhter Wachsamkeit langsam in Richtung Wohnungstür.
Während er sich seinen Weg durch den Müll bahnte, erstarb das unheimliche Fressgeräusch von einer Sekunde auf die andere. Sein Herz pumpte jetzt wild in seiner Brust und seine Knie zitterten.
Nur noch ein paar Meter bis zur Tür, dann habe ich es geschafft!
Vorsichtig setzte er einen Schritt vor den anderen, dann streckte er den Arm aus um die Türklinke zu ergreifen, als sich sein rechter Fuß in einer Plastiktüte verhedderte. Mit einem dumpfen Knall fiel er zu Boden und landete inmitten von schimmeligen Essensresten, Zeitungsbeilagen und leeren Bierflaschen.
Nichts, nicht das geringste Geräusch.
Martin atmete auf und wollte sich gerade wieder aufrichten als ein unförmiger Schatten aus der Dunkelheit hervorschnellte. Martins Verstand wurde von seiner Angst überflutet und er kackte sich in die Hose, kurz bevor sich ein unmenschliches Maul mit gezackten Reißzähnen geifernd vor ihm öffnete und ihn mit Haut und Haaren verschlang. Sein letztes verzweifeltes Schreien war von niemandem mehr zu hören.
***
Monate später wurde die Wohnungstür vom Hausmeister aufgebrochen, nachdem die ausstehende Miete trotz mehrfacher Mahnung nicht bezahlt worden war. Als er die Tür leicht öffnete, wich er überrascht zurück. Der unbändige Gestank aus dem Inneren raubte ihm fast die Sinne, nur widerwillig trat er über die Schwelle.
Beim Anblick der immensen Müllberge stockte dem Hausmeister der Atem und Wut kroch in ihm hoch, anscheinend hatte sich der Mieter still und heimlich davongestohlen.
Schon wieder einer dieser Mietnomaden, verdammt.
Es würde Wochen dauern, bis das gesamte Chaos beseitigt und die Wohnung wieder bezugsfertig sein würde, von den horrenden Kosten ganz zu schweigen. Fälle dieser Art häuften sich in letzter Zeit, die Anonymität der Großstadt erlaubte es scheinbar, dass Verwahrlosung zur Normalität wurde.
Nachdenklich krempelte sich der Hausmeister die Ärmel hoch und machte sich an die Arbeit. Er erinnerte sich noch glasklar an eine Lebensweisheit seiner verstorbenen Mutter, die ihm beim Anblick der Wohnung wieder in den Sinn kam:
Besitzt du die Dinge oder besitzen die Dinge dich?