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Das Omelett seines Lebens
Das Omelett seines Lebens
In der U-Bahn merkte Bernd, dass er auf der Unterlippe herumnagte. Es war ärgerlich, dass es immer wieder passierte. Warum tat er das nur? Er fühlte die glatte, harte Oberfläche des Buchs in der Stofftasche, die auf seinen Knien lag. Wenn er zuhause war, würde er sich damit an den Esstisch setzen, das Buch auf die dicke blaue Wachstuchtischdecke legen, darin blättern, eine halbe Stunde, eine Stunde vielleicht.
Er würde die Überschriften lesen: Rotbarsch-Filets in asiatischer Karamellsauce, Rogan-josh mit grünen Gujarati-Bohnen. Hmmm. Er würde sich die Fotos der Gerichte ansehen, ihm würde das Wasser im Munde zusammenlaufen. Aber dann würde irgendwann der Moment kommen. Der Augenblick, wo er merkte, dass wieder einmal ... Bernd versuchte, weiterzudenken, aber der Gedanke tat weh.
Als er noch bei seinen Eltern wohnte, hatte er nie selber gekocht. Das kam mit seiner ersten Wohnung. Er erinnerte sich an die Ravioli mit Kirschsoße, sein erstes Gericht ohne Rezept. Obwohl er hart im Nehmen war, hatte er das Zeug nach drei Bissen in die Toilettenschüssel klatschen lassen. Du musst das Rad nicht neu erfinden, hatte er sich damals gesagt. Erst mal das Handwerkszeug lernen, das Einmaleins. Kochen – Die große Schule hatte das erste Buch geheißen.
Das Anfängerbuch stellte ihn nicht lange zufrieden. Es ging weiter mit Italienisch kochen leicht gemacht, Cuisine française und Kochen mit dem Wok. Immer, wenn er in der Stadt war, zog es ihn in die Ratgeberecke der Buchläden. Er blätterte und suchte Sachen, die er noch nicht ausprobiert hatte. Es machte ihm Spaß. Warum?
Bernd wusste, wie man ein Omelett briet. Er wusste, mit was man die Dinger füllen konnte, mit Himbeeren und Minzblättern zum Beispiel oder herzhaft mit einer Champignon-Sahne-Soße. Er konnte einen vernünftigen Coq au vin zubereiten, seine Spinatknödel waren eine Legende in seinem Freundeskreis und die Ex-Kollegen von BMW schwärmten immer noch von der Lachsterrine, die er vor Jahren zum Ausstand zubereitet hatte.
Arabisch kochen, Schmackhaftes aus den Ländern der Seidenstraße, Alles Gute aus Rosinen, Zen in der Kunst des Kochens – so ging es weiter. Hast du schon einen Stern, fragten ihn manchmal im Scherz seine Gäste. Er lachte darüber, aber er forschte weiter in den Tiefen der kulinarischen Literatur. Immer seltener fand er Neues, und meistens waren es eher Abwandlungen bekannter Gerichte.
Das wurde ihm immer erst in diesem schrecklichen Augenblick klar. Nach der U-Bahn, nach dem Türaufschließen, wenn er in dem Kochbuch blätterte. Wenn sich das exotische Jambalaya als simple Gemüsepfanne mit Garnelen und Hähnchenbrust entpuppte, oder wenn sich herausstellte, dass das einzig Besondere an dem Grusinischen Huhn der Liebstöckel war. Auf solche Varianten hätte er auch selber kommen können!
Schon einmal, vor einem Jahr oder so, hatte er sich geschworen, nie wieder ein Kochbuch zu kaufen. Er hatte sich gedacht: Jetzt weiß ich so viel, jetzt kann ich den Rest auch selber rausfinden, einfach durch Probieren. Er würde keine süßen Tortellini mehr kochen. Er würde ein Küchenbuch führen, hineinschreiben, was er tat, und beim Essen Notizen machen, wie es gelungen war. Wie ein geduldiger Forscher.
Aber heute war er rückfällig geworden. Der Schwächebeweis steckte in der Stofftasche auf seinen Knien. Er würde wieder und wieder Bücher kaufen, er kam einfach nicht davon los. Bernd fuhr sich mit der Hand über die Augen. Egal, jetzt war das Buch gekauft, es ließ sich nicht mehr ändern.
Aber was – was, wenn ich es nun gar nicht angucke, dachte er. Er würde die Haustür aufsperren und so wie er war, mit Mantel und Straßenschuhen hineingehen in sein Schlafzimmer. Er würde das belastende Buch aus der Tasche nehmen und es in den Bücherschrank sperren, zu den anderen. Ohne auch nur einen Blick auf den Titel zu werfen. Er würde sich mit dem Rücken gegen die verschlossenen Schranktüren stemmen, damit die Bücherflut nicht mehr herauskonnte. Und dann würde er in die Küche gehen und sich ein Omelett braten. Vielleicht an der Kräuterei-Füllung mit Erbsen weiterfeilen. Er würde einfach seinen momentanen Eingebungen folgen. Das Omelett seines Lebens zubereiten. Ganz ohne Rezepte.