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Das Opfer
„Was ist mit mir geschehen? Ich befinde mich in einem Raum mit glänzenden Wänden. Groteske Figuren sind auf ihnen zu sehen. Der Boden ist völlig eben und makellos weiß, in der Ferne begrenzt von dem Rund der Wände, die sich über mir in der Höhe zu einer Kuppel wölben. Ich bin noch benommen. Deshalb torkele ich mehr, als dass ich laufe, zu der Wand hin. Sie ist vollkommen glatt und lässt keine Schwachstellen für einen Durchbruchsversuch erkennen. Ich laufe an der Wand entlang. Überall dasselbe. Ratlos lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Er ist völlig leer. Moment! Nicht ganz.
Ungefähr in der Mitte, dort wo ich mich vorhin noch befunden habe, liegt ein Weib. Seine üppigen Formen heben sich in provozierender Weise vom Weiß des Bodens ab. Dass es geköpft ist, tut seiner Schönheit keinen Abbruch. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen bewegen sich meine Glieder und ich tapse Schritt für Schritt auf die Schöne zu.
Was ist das? Plötzlich versperrt mir jemand den Weg! Ein Nebenbuhler! Sofort bin ich außer mir. Die Müdigkeit ist wie weggeblasen und mein ganzer Körper bebt vor Wut. Wie kann er es wagen? Ich richte mich zu meiner vollen Größe auf und gehe langsam auf meinen Gegner zu. Voller Hass starre ich ihn an. Ich möchte diesen widerwärtigen Kerl zerquetschen. Doch dieser lässt sich von meiner drohenden Haltung nicht beeindrucken. Seine Körperhaltung drückt sogar Angriffsbereitschaft aus. Er duckt sich und dann – ein Sprung, und unsere Körper prallen zusammen. Durch die Plötzlichkeit des Angriffs überrascht verliere ich das Gleichgewicht und stürze zu Boden. Sofort ist mein Gegner über mir und das Trommelfeuer seiner Schläge trifft schmerzhaft meinen Körper. Ich versuche mich aus seiner Umklammerung zu befreien. Während wir über den Boden rollen, trete und schlage ich auf meinen Gegner ein. Die Wut mobilisiert alle meine Kraftreserven. Und meine Treffer zeigen Wirkung. Schnaufend lässt mein Gegner von mir ab und flieht. Sieg! Aber meine Wut ist noch nicht besänftigt. Ich verfolge ihn noch eine Weile, bis sich mein Gegner hakenschlagend bis ganz an den Rand des Kampfplatzes zurückzieht. So ist es gut. Nun aber zu meinem Lohn, der in all seiner weiblichen Pracht in der Mitte des Raumes liegt. Ich will gerade dorthin laufen, da scheint die Luft um mich herum immer dicker zu werden. Es wird wieder so unerträglich warm. Meine Beine sind so schwach, dass sie unter mir nachgeben. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Hilflos auf dem Rücken liegend sehe ich, dass es meinem Nebenbuhler nicht besser ergeht. Im Gegenteil. Etwas Langes, Glänzendes senkt sich auf ihn herab. In dem vergeblichen Bemühen zu entkommen zappelt er noch etwas, aber da ist es schon passiert. Sein Kopf wird vom Rumpf getrennt. Entsetzt beobachte ich, wie sich das glänzende Ding nun in meine Richtung bewegt. Neiiiin! Mit letzter Kraft werfe ich mich hin und her, komme aber nicht mehr auf die Beine. Das Ding ist jetzt direkt über mir und sinkt langsam herunter. Mein Puls schlägt jetzt rasend schnell. Trotzdem ist mein Körper vollständig gelähmt. Arrgh! Ein Druck auf meinen Hals, ein Ruck und ein Schmerz rast wie ein Blitz durch mein Gehirn. Ich sehe, wie ein kopfloser Körper neben mir zuckt, dann wird es dunkel.“
Zufrieden stöpselte Petersen die Phiole zu, in der sich die beiden Köpfe befanden. Ab damit zur Analyse. Was für ein Kampf. Erstaunlich, was so eine winzige Genveränderung bei der sonst so friedlichen Fruchtfliege bewirken konnte. Gut möglich, dass sich bei den weiteren Experimenten noch andere Überraschungen ergaben. Irgendwie wirkte das Verhalten der beiden komplexer als das der Exemplare der Kontrollgruppe. Eine wahre Fundgrube für die Aggressionsforschung. Mit welcher Wucht die Duellanten aufeinander geprallt waren. Fast wie ein antiker Gladiatorenkampf in der Arena. Nur mit dem Unterschied, dass hier nicht nur der Verlierer sondern auch der Sieger sein Leben lassen musste. Was wohl die Fliegen dabei empfanden? Achselzuckend schob Petersen diesen Gedanken beiseite. Was soll's. Für die Wissenschaft mussten eben Opfer gebracht werden.
Er überprüfte gewissenhaft, ob das Band mit der Videoaufzeichnung in Ordnung war. In diesem Moment zerbarst mit einem lauten Knall die Fensterscheibe des Labors. Erschrocken wandte sich Petersen um und sah, wie ein greller, blau schimmernder Lichtstrahl durch das Labor waberte. Gleichzeitig erfüllte ein hohes Sirren den Raum. Wie in einem Alptraum war Petersen starr vor Schreck. Das ziellose Wandern des Lichtstrahls hörte auf und als ob er Witterung aufgenommen hätte, bewegte er sich nun rasch auf Petersen zu. Petersen erwachte aus seiner Erstarrung und wandte sich zur Flucht, doch es war zu spät. Der Strahl erfasste ihn und hob ihn mühelos in die Höhe. Das hohe Sirren füllte Petersens ganzes Denken aus und er verlor das Bewusstsein. Jetzt war er nur noch ein Staubteilchen in einem Lichtstrahl, das schnell zu dessen Quelle gezogen wurde.
Als Petersen erwachte, befand er sich in einem in sanften Beige-Tönen gehaltenen Raum auf einer Liege, Arme und Beine festgeschnallt. In scharfem Kontrast zum Beige der Wände ragten lustig bunte Schläuche aus seinem nackten Körper, die mit einer seltsamen Konstruktion verbunden waren. Sie schien aus lauter willkürlich zusammengefügten Halbkugeln zu bestehen. Petersen sah, wie Flüssigkeiten in den Schläuchen pulsierten. Aus einer der Halbkugeln wurde ein Manipulator ausgefahren, der in einer fingerdicken unten zugespitzten Kanüle endete. Die Kanüle näherte sich Petersens Brust. Petersens Kopf mit den vor Angst geweiteten Augen warf sich hin und her und dabei fiel sein Blick auf eine kleine menschenähnliche Gestalt mit riesigen schwarzen Facettenaugen, die hinter der Apparatur hervortrat und sich der Liege näherte.
„Insektenaugen“, schoss es Petersen durch den Kopf. Gemächlich senkte sich die Kanüle und bohrte sich in Petersens Brust. Ein nie gekannter Schmerz durchzuckte ihn. Arm- und Beinmuskeln spannten sich unter seiner schweißglänzenden Haut in dem vergeblichen Versuch die Fesseln zu sprengen, und der Körper geriet in konvulsivisches Zucken. Das Wesen namens Petersen löste sich in einem Schrei auf.