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Das Original
Auch heute weckte ihn seine innere Uhr zehn Minuten bevor der Aufseher an die Tür klopfen würde. Er setzte sich auf die Kante des quietschenden Stahlbettes, beugte sich nach vorne und rieb sich über das Gesicht. Dann schaute er auf und starrte auf das leer stehende Bett an der gegenüberliegenden grauen Wand, in dem vor einigen Wochen noch zu dieser Zeit Simons blonder Strubbelkopf unter der Bettdecke hervorgeragt hatte.
Seine Augen verloren etwas von dem sonst so aufmerksamen Glanz, als sich bei dem Anblick des Bettes ein betrübter Schleier darüber legte. Nach einigen Sekunden wandte er sich ab, um nach der Packung Taschentücher zu suchen, die er am Gitter unterm Bett befestigt hatte. Er öffnete sie und legte sich den darin enthaltenen Schmetterlingskokon vorsichtig auf die Handfläche. „Fragst du dich schon wieder nach dem Sinn?“, hätte Simon mit einem ablenkend optimistischem Ton gerufen, wenn er den nachdenklichen Blick gesehen hätte, mit dem er den Kokon betrachtete. Er hob erneut den Kopf und schaute auf das leere Bett. Seine freie Hand verkrampfte sich. „Was haben sie nur mit dir gemacht?“
„Joshua, gibst du mir bitte mal die Klöße?“
Er griff nach der Schüssel und gab sie an das junge Mädchen weiter. Die gesamte Halle war erfüllt vom Klappern des Bestecks und der Teller sowie den Gesprächen und dem Gelächter ihrer Bewohner am Mittagstisch. Mit einem freundlichen Lächeln brachten die Küchenhilfen immer wieder Nachschlag, während alle anderen Bediensteten an einem eigenen Tisch saßen und fröhlich plauderten. Der Bodybuilder zeigte gerade quer durch die Halle in Richtung des abgetrennten Bereiches, in dem sich das Fitness-Center befand, und schien dem Deutschlehrer stolz eine neue Übung zu erklären.
Joshua wandte den Blick ab und betrachtete das Gelände außerhalb der Halle durch die große Fensterfront. Zwei weitere große Hallen konnte er von hier aus erkennen, deren Fensterfronten auf der für ihn nicht sichtbaren Seite lagen. Die grauen Pflastersteine, die auf dem gesamten Gelände bis hin zu der riesigen Mauer, die es umgab und jede weiter reichende Sicht verwehrte, ausgelegt waren, erweckten in ihm die Vorfreude auf Samstag, wenn wieder ein Spaziergang durch den Park des Geländes erlaubt sein würde.
Er setzte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. „Was wohl hinter dieser Mauer liegt? Vielleicht gibt es dort etwas anderes als das, was ich aus dieser Halle kenne? Welchen Sinn hat es nur, dass ich hier sitze? Kann ich nicht etwas tun?“
Er erkannte ihn sofort. Unter all den anderen Männern, die er immer im Auge behielt, während er in der Bibliothek saß und ein Buch über Anatomie las, und die immer wieder vorbeikamen um das Geschehen in der Halle von der Galerie aus zu beobachten, erkannte er diesen einen als die Ursache allen Übels. Des Übels, das er nicht einmal genauer definieren konnte, des Übels, das ihn tagein tagaus beschäftigte.
Diese Männer, die kamen um zu beobachten, hatte er selbst nun schon lange Zeit observiert. Das einzige, was er herausgefunden hatte, war, dass sie den Aufsehern in der Halle, den Köchen, den Krankenschwestern und überhaupt allen, Befehle erteilten, die augenblicklich befolgt wurden. Selbst der rebellische Bibliothekar reagierte sofort und ohne Widerspruch. Im Stillen nannte Joshua diese Männer die „Organisatoren“.
Und dieser eine, der die Galerie gerade durch die graue Stahltür, die für alle außer für die Organisatoren und Aufseher verboten war, betrat, unterschied sich in nichts von den anderen. Er trug gleichfalls einen grauen Anzug und eine schwarze Krawatte, er gab ebenfalls Anordnungen und blieb immer oben auf der Galerie. Trotzdem spürte Joshua den entscheidenden Unterschied. Der Mann dort oben hatte einen festeren und sichereren Schritt als die anderen Organisatoren. Und was noch viel wichtiger war: Er lächelte nicht. Im Gegensatz zu den anderen schien er das nicht nötig zu haben. Sein Kopf bewegte sich kaum, als er jeden einzelnen Winkel der Halle von oben herab genau inspizierte, Joshua hatte das Gefühl, dass diesem Mann nichts entging.
Einer der Aufseher verließ gerade die Halle durch die Stahltür. Wie schon so oft sah Joshua auch auf seinem Gesicht dabei ein ihm unerklärlich vorfreudiges Lächeln. Dieser Mann dort oben; er durfte durch die stählerne Tür gehen und hinaus, vielleicht verließ er sogar das Gelände, trat hinter die riesige Mauer. „Wo nur gehen diese Menschen hin? Und gibt es dort mehr zu sehen, als ich mir vorstellen kann? Vielleicht ergäbe alles Sinn, wenn ich das wüsste?
Was kontrolliert dieser Organisator, wenn das Leben hier im Gebäude doch ein normales ist, was gibt es dann unter Kontrolle zu halten?“
Joshua trat einen Schritt vor und stand nun mitten im Blickfeld des Mannes, den er für die Antwort auf all die Fragen hielt. Dieser fixierte ihn und Joshua starrte mit einem klaren Blick zurück. Es wurde still in der riesigen Halle.
„Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten!“
Seine Stimme klang wie ein Donnerschlag in der Stille. Aus den Augenwinkeln sah er die Aufseher, die sich langsam auf ihn zu bewegten.
Totenstille. Der Mann warf einen ruhigen Blick auf einen anderen Organisator hinter ihm, der hastig eine Liste durchblätterte und dann kaum merklich nickte. Der Angesprochene schaute Joshua wieder fest in die Augen und hob die Hand. Die Aufseher hielten inne.
„Worüber möchtest du dich denn unterhalten?“
„Ich wüsste gerne den Unterschied zwischen Ihnen und mir.“
„Da gibt es keinen.“ Ganz ruhig und sachlich sagte der Graue das, nicht einmal ein Zögern. Doch direkt darauf wandte er sich ab, Richtung Stahltür, das Gespräch schien für ihn eindeutig beendet.
„Wieso können Sie dann durch diese Tür gehen und ich nicht?“
Der Mann hielt kurz inne. „Du kannst es. Zu gegebener Zeit.“ Damit schloss sich die Stahltür hinter ihm.
In dieser Nacht kam Joshuas innere Uhr nicht zum Einsatz. Stunden vorher öffnete sich die Tür zu seinem Schlafraum und die betäubende Spritze, die man ihm injizierte, wirkte schneller als er wach werden konnte.
Als er zu sich kam, lag er auf einem Bett in einem kleinen Zimmer, das seinem eigenen stark ähnelte. Jedoch befand sich in seiner Mitte ein Tisch und zwei Stühle.
Hastig griff Joshua unter das Bett, doch ins Leere. Dann eilte er Richtung Tür, die jedoch in diesem Moment geöffnet wurde und er hielt inne.
Der Organisator, den Joshua am Nachmittag angesprochen hatte, betrat den Raum, fixierte Joshua und deutete mit einer unmissverständlichen Geste auf einen der Stühle.
„Nun bist auch du durch die Tür getreten.“, sagte er ausdruckslos.
„Aber wieso nicht bei Bewusstsein? Und wo bin ich hier? Was wird jetzt geschehen?“ Joshua hatte unter dem Tisch die Fingerspitzen beider Hände aneinander gelegt und versuchte, ruhig zu klingen.
Der Organisator legte ein Foto vor Joshua auf den Tisch. Der Mann auf dem Foto sah aus wie Joshua, doch hatte er einen Bart und war um einige Jahre älter. Während Joshua das Bild anstarrte, nahm er die völlig gefühlskalte Stimme des Organisators kaum wahr.
„Das bist du im wahren Leben. Dein echter Teil, dein wichtiger Teil und gleichzeitig dein Auftraggeber und Schöpfer. Er ist das Original, für das du existierst und nun werden deine Dienste in Anspruch genommen. Er hat ein krankes Herz.“
Zwei Stunden lang verharrte Joshua in seiner Position auf dem Stuhl, die Fingerspitzen so stark aneinandergepresst, dass sie weiß wurden. Dann öffnete sich die Tür zu dem Zimmer erneut und er wurde durch mehrere Gänge geführt und kam schließlich ins Freie. Zum ersten Mal betrat er nun die Pflastersteine des Geländes um die Halle herum. Man führte ihn an einer der Hallen vorbei, die er schon vorher gesehen hatte, doch diesmal vorbei an der Fensterfront.
Ihre Blicke trafen sich nur eine Sekunde lang, und durch die Fensterscheibe wirkte Simons Gesicht eigenartig verzerrt. Das letzte Bild, das Joshua vor Augen hatte, als man ihn in den Operationssaal führte, war das von Simon im Rollstuhl mit nur einem Bein.