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Das Orthodrom
Ich traf die Frau am tiefsten Punkt der Nacht. So gegen drei Uhr, wenn ich mich wieder einmal fragte, wie lange ich noch vor dem Nachtklub als Türsteher arbeiten würde. Sie gehörte zu der Art von Nachtschwärmern, bei denen aus trunkener Fröhlichkeit längst eine Mischung aus Aggressivität und Depression geworden war. Automatisch richtete ich mich zu meiner vollen Größe auf. Paul neben mir genügte die Präsenz seiner hundertachtzig Kilo, um jede Diskussion im Keim zu ersticken. Die Jungen, keiner war älter als fünfundzwanzig, ließen sich durch uns so einschüchtern, dass sie nicht den geringsten Protest wagten, als wir sie unsanft an die Mauer stießen. Ich strich einen nach dem anderen mit dem Waffenscanner ab. Das Gerät blieb stumm. Da bemerkte ich ihren Blick.
Grüne funkelnde Augen sprachen zu mir. Sie erzählten mir von der Sinnlosigkeit, die uns an diesem Ort umgab. Dem Fehlen jeglicher Veränderung, weder zum Guten noch zum Schlechten. Ein Frösteln durchlief mich. Wir mussten uns einige Sekunden lang angestarrt haben, obwohl es mir wie Stunden vorkam. Neben ihr verschwammen die Leute zu blassen Schemen. Sie sagte etwas zu mir, dass ich nicht verstand.
Ich drehte mich zu ihr um. Sie war viel kleiner als ich.
"Lena", sagte sie. "Ich heiße Lena."
"Leon", antwortete ich. Und dann, weil mir nichts Besseres einfiel: "Ich habe dich hier noch nie gesehen." Tatsächlich kamen jeden Tag beinahe die gleichen Gäste. Sie war sicher noch nie dabei gewesen.
Paul brummte etwas und zog den Scanner flüchtig über den nächsten Kerl.
Lena machte einen Schritt von Paul weg und stellte sich so vor mich, sodass ich sie mit dem Scanner abtasten konnte. Sie strahlte etwas aus, dass in auffallendem Gegensatz zu der Oberflächlichkeit der anderen Gäste stand.
Der Scanner piepste protestierend in der Nähe ihrer Achsel. Sie zuckte mit den Schultern und hob die Arme. Unter ihrem engen, grünen Pulli zeichnete sich undeutlich ein Waffenhalter ab.
"Der Strahler ist nicht scharf", sagte sie. "Ich werde ihn dir langsam geben, wenn du willst."
Viele Leute liefen hier bewaffnet herum, doch eine Frau war bisher noch nie unter ihnen gewesen. Während sie in Zeitlupe ihre Waffe hervorholte, traf mich erneut ihr durchdringender Blick. Ich fühlte mich so leicht, als hätte sie die Schwerkraft aufgehoben und gleichzeitig schien sich mein Bewusstsein auszubreiten als hätte ich eine Überdosis Drogen genommen.
Als sie mir die Waffe reichte, berührten sich unsere Finger und ich bekam einen leichten Schlag. Sie zuckte zurück und ihr Blick intensivierte sich. Mein Herz klopfte zum Zerbersten.
Der letzte Nachtschwärmer ihrer Gruppe ging durch die Eingangstür im Foyer. Sie blieb bei mir und musterte mich, als sähe sie zum ersten Mal einen Menschen.
"Muss langweilig sein, die ganze Nacht hier zu stehen."
"Nicht langweiliger als sich da drin den Kopf zuzudröhnen. Und die Luft ist hier besser."
Sie sog die feuchte Luft prüfend ein und nickte.
"Ein Detail, dass man oft vergisst, weil es selbstverständlich ist."
"Du bist nicht so wie deine Leute drinnen?" Im nächsten Moment bereute ich den Satz. "Gehörst du überhaupt zu denen?"
"Ich gehöre niemanden." Sie schüttelte ihre glatten, brünetten Haare.
In ihrem Blick lag etwas Lauerndes.
"Bist du jede Nacht hier?"
Ich nickte langsam.
"Außer montags. Da sehe ich mir meist einen guten Film an. Obwohl es von denen immer weniger gibt. Mir kommt vor, sie produzieren in letzter Zeit nur noch Wiederholungen."
Ihr Blick fixierte mich.
"Ich gehe immer alleine. Ich bin kein sozialer Typ." Ich wusste nicht, warum ich ihr das sagte.
"Kennst du das Orthodrom?"
"Den alten Abenteuerpark?"
Sie nickte und sah mich weiter fragend an.
"Ich war noch nie dort. Ich mag nichts Außerterritoriales. Ein Teil ist zu einem Gefängnis umgebaut worden. Wird nicht so ein verrückter Sektenführer dort gefangen gehalten? Aber in letzter Zeit redet kaum jemand mehr von ihm."
"Und?"
"Mehr weiß ich nicht."
"Warum magst du keine außerterritorialen Zonen?"
"Ich bin von Natur aus misstrauisch. Und ich mag es nicht, wenn man mich in meine Atome zerlegt und in eine andere Dimension schickt. Es könnte jemand den falschen Knopf drücken. Oder ein Kurzschluss legt die Anlage lahm."
Jetzt lächelte sie.
"Es heißt, die Technik sei unfehlbar."
"Nichts ist unfehlbar. Ich mag es nicht, wenn ich für dumm verkauft werde." Die Aufregung ließ nicht von mir. Meine Finger kribbelten und mein Körper schien sich auszudehnen. Rings um sie verblasste alles, während ihr Gesicht näher zu kommen schien und kein anderer Laut mehr an meine Ohren drang, als ihre lockende Stimme. Nur mit Mühe konnte ich weitersprechen. "Warst du dort?"
Sie nickte, wobei ihre Miene ernst wurde.
"Es heißt, es gäbe dort einen unermesslichen Schatz. Etwas, dass die ganze Welt auf den Kopf stellen würde. Ich glaube, ich bin ganz nahe dran, aber ich brauche Hilfe. Wir haben dort einen Tunnel gefunden, der vermutlich zu einer Art Oberfläche führt."
"Woher willst du wissen, dass dort ein Schatz ist?", Und warum fragst du mich, fügte ich in Gedanken hinzu.
"Es gibt einen Wächter. Und wo ein Wächter ist, muss es auch etwas zu bewachen geben. Etwas, dass wir Menschen nicht sehen oder bekommen sollen."
"Und wenn uns der Wächter erwischt?“
Sie zuckte mit den Schultern und lächelte gezwungen.
"Kannst du klettern?“
„Du meinst mit Seil und Kletterschuhen? Hab ich früher öfter gemacht, ist mir aber alleine zu langweilig geworden.“
„Gut, dann wird er uns nicht erwischen. Aber der Wächter ist nicht das Problem. Ich verstehe es nicht, aber die meisten Leute, die ich gefragt habe, hatten einfach kein Interesse an dem Schatz."
"Oder sie glauben es nicht."
"Oder sie haben Angst und stehen sich jeden Tag die Füße vor einem schäbigen Nachtklub in den Bauch."
"Also schäbig ist er nicht."
Sie lachte mich an.
"Heißt das, du kommst mit?"
„Du hast mir doch nicht alles gesagt.“
„Der Rest der Geschichte wird deine erste Belohnung sein, wenn wir dort sind.“
"Dann kann ich wohl kaum nein sagen. Aber ich will die Hälfte von allem, was wir finden."
Paul starrte mich an und tippte sich auf die Stirn.
"Ist doch ein easy Job hier", brummte er. "Wozu etwas riskieren?"
Genau das war es, was ich an dieser Stadt und an dem gesamten Land hasste. Es lief jeden Tag das Gleiche ab. Das Einzige, dass sich veränderte, war der Grad meiner Depression.
Ich sah ein letztes Mal zu Paul, der sich inzwischen wieder eine Zigarette angezündet hatte. Er würde hier stehen bleiben, bis er entweder an Lungenkrebs oder an Herzverfettung starb.
Der Eingang zum Orthodrom lag in einer heruntergekommenen Fabrikhalle in einem allmählich verfallenden Viertel der Stadt. Flackernde Neonröhren erhellten halb zerrissene Werbeplakate vor dem Eingang. Ich hatte meine Klettersachen im Rucksack und Proviant für drei Tage. Lenas Rucksack war um einiges größer als meiner. Ich frage mich, was sie alles darin verstaut hatte.
Wir kauften uns Karten für zwanzig Platins. Ein lächerlich billiger Eintrittspreis.
"Die Betreiber wollen keinen Gewinn ausweisen, damit sie einen Grund haben, es dicht zu machen."
"Sind außerterritoriale Zonen nicht ohnehin aus der Mode?"
Als Antwort zuckte Lena mit ihren Schultern und strebte zur Schleuse.
Die Operatorin sah auf ihre Karte.
"Sie waren erst gestern drinnen. Ich schicke nur ihre aktuellen Gedächtnis-Daten mit."
"Schicken sie alles mit."
Lena beugte sich über den Tisch der Operatorin: "Bitte."
Ich bemerkte, dass sie auf die Finger der Frau sah, welche die Befehle ins Terminal eingaben.
Vor der Sicherheitsschleuse gaben wir unsere Waffen ab. Außer uns standen nur zwei kahlköpfige Männer vor der Transportkammer. Sie reisten ohne Gepäck.
"Du hast vorher etwas von einem Wächter gesagt. Weißt du wer er ist?"
"Die Frage lautet eher, was ist der Wächter. Ich erklärs dir, wenn wir dort sind. Vertrau mir einfach", sagte Lena nur und zerrte mich vorwärts in den weißen Kubus. Hinter uns und den zwei alten Männern schloss sich die Tür. Das weiße Licht intensivierte sich, bis es mich blendete und ich die Augen schließen musste. Ein greller Blitz zuckte durch meine Augenlider und dann wurde es dunkel. Ich öffnete die Augen wieder und sah eine offene Schiebetür, aus der ein schwaches blaues Leuchten drang.
"Deine Körperdaten und Gedächtnisdaten werden getrennt eingespielt. Wenn es jemandem gefiele, könnte er deinen Geist in einen anderen Körper übertragen", sagte sie, während sie rasch die Transportkammer verließ.
Ich blieb dicht hinter ihr. Die Luft wirkte kalt und hatte einen metallischen Stich.
"Du denkst sehr viel über solche Dinge nach", stellte ich fest.
"Was würde passieren, wenn jemand deine Gedächtnisdaten zu einem anderen Körper schickt und dessen Daten zu deinem Körper?"
"Warum sollte das jemand tun?"
"Genau das ist die Frage."
Wir standen in einer diffus erleuchteten Höhle. In den Fußboden eingelassene Markierungen wiesen uns den Weg. Es gab viele Ausgänge in unterschiedlicher Höhe, die wie fahle gelbe Augen auf uns starrten. Die glatte Fläche des Untergrundes hatte sich an vielen Stellen wellenförmig aufgeworfen und manche Markierungen waren von unzähligen Füßen abgetreten worden.
Lena strebte einem der gelben Augen zu.
"Sagst du mir jetzt alles?", fragte ich.
Lena sah sich nur kurz um.
"Etwas will verhindern, dass wir Erfolg haben. Wenn wir erwischt werden, wird dein Geist gelöscht. Mein letzter Begleiter hat sich einfach in Luft aufgelöst. Meiner anderen Freund sitzen in den Zellen und sind sabbernde Idioten."
Ich blieb stehen.
"Willst du jetzt umkehren und wieder Türsteher spielen?"
"Du weißt doch noch mehr."
"Ja", sagte sie. "Ich weiß, dass du neugierig bist. Bevor ich auf dich traf, habe ich drei Monate niemanden gefunden, der mitkommen wollte. Ich weiß nicht, wer der Feind ist, ich weiß nicht, wer die anderen erwischt hat, ich weiß, dass sie immer nur einen schicken, wenn wir eine Grenze überschreiten, und ich glaube, dass es ihnen im Prinzip egal ist, wenn wir dort etwas finden. Ich glaube, dass sie alle Gedanken von uns lesen können, nur im Orthodrom nicht. Nur Beweise kann ich dir jetzt noch keine bieten."
Sie drehte sich um und ging weiter. Ohne zu zögern lief ich ihr nach.
Vor uns erklang ein seltsames Geräusch, als platschten schwere Stiefel ins Wasser.
"Du musst doch wissen, was mit deinen Freunden passiert ist. Was ist das für ein Wächter?“
"Er ist erbarmungslos und jeder, der gegen ihn gekämpft hat, ist in den Zellen gelandet. Wir haben es immer wieder versucht, und uns sinnlos aufgerieben. Du kannst ihm nur ausweichen. Versuche nie, gegen ihn zu kämpfen. Wichtig ist nur, dass wir finden, was sie vor uns verbergen wollen. Dann haben wir vielleicht eine Chance."
Wir waren durch das gelbe Tor gegangen. Vor uns erstreckten sich mehrere dunkelgrüne Steinebenen. Wasser tropfte überall herunter und sammelte sich in einem jadefarbenen Becken. Die einzelnen Ebenen wurden durch Treppen verbunden, die ohne Geländer bis in Schwindel erregende Höhe verliefen. Durch rechteckige Öffnungen rann Wasser, und bildetet regelrechte Tropfvorhänge. Irgendwo über mir sah ich undeutlich Menschen die Stufen auf und ab wandeln. Meist waren es kleine Männer mit kahl geschorenen Köpfen.
"Der Tempel des Shativa", flüsterte ich. Das Plätschern hallte von allen Seiten. Zu meinem Entsetzen nahm Lena Kurs auf eine der glitschigen Treppen. Sie war keine zwei Meter breit und lief an die hundert Meter schräg nach oben, bis sie sich zu einem schmalen, alles umlaufenden Sims verbreiterte, von dem wiederum Treppen nach oben und unten führten.
Ich setzte langsam einen Fuß nach dem anderen auf die rutschigen Stufen.
"Müssen wir wirklich da durch?"
Lena gab keine Antwort. Ich folgte ihr und heftete meinen Blick auf die Stufen. Die Treppen glühten schwach. Die Abgründe zwischen ihnen waren zum Glück dunkel. Am Rande meines Blickfeldes sah ich drei Männer auf einer Ebene stehen und sich Wasser aus Kübeln über die Köpfe gießen. Wir erreichten den Sims, der viel schmaler war als erwartet, und nahmen eine weitere Treppe nach oben, die wie schwerelos mitten durch den Raum ragte. Keuchend und fluchend folgte ich Lena, die ihr Tempo nicht im Mindesten drosselte. Die Treppe lief durch ein schmales Rechteck. Auf der Ebene saß ein alter Mann in einem Brunnen. Ein Dämonenkopf spie scheinbar Wasser auf seinen Rücken. In der Entfernung war es dunkel, sodass ich den Rand nicht sehen konnte, doch es sah aus, als würde die Ebene frei schwebend von keiner der Treppen berührt.
Vor uns, nicht weit unter der Decke strebte die Treppe auf ein von Dämonenfratzen umrandetes Tor zu. Faustdicke Tropfen klatschten wuchtig auf die Stufen. Jedes Mal, wenn mich einer traf, schmerzte es, als hätte mich ein Stein getroffen.
Die letzten Stufen rannte ich und dann war ich durch.
Die Umgebung änderte sich schlagartig. Einmal war es plötzlich kalt und dann sah ich, dass der Gang hier viel später und mit viel primitiveren Mitteln errichtet worden war. Die Wände waren wurden von dunklen, zerfurchten Felsen gebildet, in denen ich helle Adern erkannte.
"Warum wolltest du, dass ausgerechnet ich mitkomme?" Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme ärgerlich klang.
"Wie lange wärst du vor deinem Nachtklub als Türsteher gestanden?"
"Weiß nicht. Solange, bis ich keine Lust mehr dazu gehabt hätte."
"Wann wäre das gewesen?"
"Warum ist das so wichtig?"
"Weil all die anderen nicht von dort weggegangen wären."
Der Gang weitete sich aus. Die Luft war hier wärmer, hatte aber einen modrigen Geruch.
"Ist die Filteranlage ausgefallen, oder gehört das dazu?"
Sie zog die Luft ein und grinste.
"Hier gibt es gar keine Filteranlagen mehr. Wir sind gleich da."
Im trüben Licht zu unserer Rechten tauchten armdicke Gitterstäbe auf. Aus der dahinter liegenden düsteren Höhle starrte mich ein Mann mit langen, verfilzte Haare und einem genauso langen und verfilzten Bart an.
"Gefangenenlager."
Jetzt wurde mir erst bewusst, was dieses Wort bedeutete, und dass es nichts Abstraktes war, sondern etwas, wo Leute ihr Leben lang eingepfercht wurden.
Der Alte starrte ausdruckslos durch mich hindurch.
"Was hat er getan?", flüsterte ich.
"Versucht gegen den Wächter zu kämpfen. Er stiehlt ihnen den Verstand und lässt sie hier wie die Tiere vegetieren."
Hunderte Zellen erstreckten sich entlang des Ganges. Die meisten waren leer. Ich zählte etwa dreißig Gefangene. Lena wurde immer schneller und rannte am Ende beinahe.
Die Reihe der verschmutzten Glühbirnen spendete kaum Licht. Lena sah kein einziges Mal zu den traurigen Gestalten hinter den Gitterstäben. Am Ende der Zellenreihe sah ich einige Gestalten in dunklen Roben kauern.
Vor ihnen, getrennt durch dicke Gitterstäbe, sprach ein alter Greis mit schriller Stimme.
Er verschluckte die meisten Silben oder sprach sie falsch aus, sodass ich kaum mitbekam, warum es ging. Er schien sich über ein Tier mit sieben Köpfen aufzuregen, das über die Welt herrschte. Mehr bekam ich nicht mit.
"Der verrückte Prediger." Ich flüsterte, weil ich Angst hatte, den Mann noch mehr aufzuregen. Einer seiner Jünger winkte Lena zu.
"Er heißt Ibn Mathmud. Er kam von einer Oberfläche ins Orthodrom. Er hat uns alle auf die Spur gebracht. Das hier ist keine außerterritoriale Zone. Das ist eine ganze Welt, nur das der Großteil vor uns Versteckt wird."
"Er ist doch verrückt?"
"Ja, aber er sagt die Wahrheit."
Einer der Jünger verneigte sich vor ihr und faltete dabei die Hände vor seiner Brust.
Wir ließen die Zellen hinter uns und bogen in einen sich verengenden, roh aus dem Felsen gehauenen Gang ein. Es schien eine Sackgasse zu sein, doch am Ende war ein kleines Loch, durch das wir uns mühsam zwängten. Der Gang dahinter lag in Dunkelheit getaucht.
Lena nahm zwei Taschenlampen aus ihrem Rucksack und reichte mir eine.
Wir wanderten durch ein stillgelegtes Bergwerk. Die Tunnel waren grob behauen und an mehreren Stellen eingestürzt. An den Abzweigungen standen Nummern, an denen sich Lena orientierte. Um uns herrschte völlige Stille. Alleine würde ich nie wieder zurückfinden. Am Boden lag eine dicke Staubschicht, in der mehrere Fußspuren verliefen. Mich überkam eine irrationale Furcht.
"Was verheimlichst du mir noch?"
"Sie haben es auch gespürt. An der gleichen Stelle wie du. Dabei war ich mir so sicher", flüsterte Lena zu sich selbst.
"Ich habe aber keine Zeit, lange mit dir zu diskutieren. Entweder folgst du mir, oder du kehrst um", sagte sie barsch. Sie sah aus, als würde sie gleich weinen.
Ohne ein weiteres Wort ging sie den Gang entlang. Ich richtete den Strahl meiner Lampe auf die Staubschicht am Boden. Deutlich konnte ich die Spuren von Lenas kleinen Schuhen von schweren Stiefeln unterscheiden. Lena war zurück gegangen, doch die Träger der schweren Stiefel nicht.
Gespannt folgte ich ihr. Sie vergrößerte den Abstand zu mir, schien fast davonlaufen zu wollen. Dann hörten die Stiefelandrücke einfach auf. Zuerst glaubte ich, mich zu täuschen. Ich blieb stehen und untersuchte den Boden.
Vor mir war Lena ebenfalls stehen geblieben.
"Was ist passiert?", rief ich.
Sie antwortete nicht, drehte sich nur um, und leuchtete auf den Boden vor mir.
"Komm", sagte sie.
Vorsichtig setzte ich meinen Fuß in ihre Spuren. Nichts passierte.
"Sagst du mir jetzt alles?"
"Ja. Aber du wirst es nicht glauben."
"Versuch es."
"Meine letzten Begleiter haben sich tatsächlich aufgelöst. Die Reichweite irgendwelcher Sender geht nur bis hierher. Sie waren nicht mehr als eine perfekte Illusion."
Ich schüttelte den Kopf und leuchtete dann mit der Lampe auf die Spuren.
"Wenn du recht hättest." Ich ließ den Satz in der Luft hängen, da ich nicht wusste, was es bedeutete.
"Den meisten Leuten, macht es nichts aus, jeden Tag das Gleiche zu tun. Es macht ihnen nichts aus, weil sie leere Hüllen sind. Ich weiß nicht, wie es passiert und wer es macht, aber die Welt in der wir leben ist teilweise unecht. Das meiste, oder vielleicht sogar alles, was wir hören, wird uns nur vorgespielt. Von jemand, der uns technisch weit überlegen ist. Aber es gibt noch eine andere Welt und der Zugang liegt hier im Orthodrom. Ich glaube, es ist unsere Heimat. Ibn Mathmud kam von dort, doch bevor er mit jemand von uns sprechen konnte, hat ihn der Wächter erwischt. Sie haben ihn gelöscht, doch er konnte sich noch an Bruchstücke erinnern. Wir müssen nach oben und dort die Wahrheit herausfinden."
"Das Orthodrom ist doch nur eine künstliche Welt. Wir haben sie als erstes außerterritoriales Vergnügungsgebiet gebaut." Ich hielt inne, da mir bewusst wurde, dass ich nur Lehrbücher wiederholte.
"Ich habe dich mitgenommen, weil du selber denken kannst. Du findest doch auch, dass man hier etwas reichlich Seltsames für einen Vergnügungspark ausgibt. Ein Tempel, in dem die letzten Götter verehrt werden und ein Gefängnis, mit Häftlingen deren Geist gelöscht wurde."
Ich ging langsam zu ihr. Sie reichte mir die Hand und zog mich dann überraschend zu sich, um mir einen kurzen Kuss auf die Lippen zu geben.
"Ich bin froh, dass du bei mir bist. Aber jetzt müssen wir uns beeilen. Durch das Überschreiten der Grenze haben wir einen Alarm ausgelöst. Wenn uns der Wächter erwischt, enden wir als sabbernde Idioten in einer Zelle."
"Was ist mit dem Wächter?"
"Ich habe dir die Wahrheit gesagt. Jeder, der ihn gesehen hat, sitzt mit gelöschtem Geist in einer Zelle. Anfangs haben wir versucht, seine Basis hier anzugreifen. Wir waren Narren. Alle Angreifer wurden getötet oder gelöscht. Ich habe nur überlebt, weil ich zu denen gehört habe, die am Eingang Wache gestanden sind. Ich konnte meine überlebenden Freunde nicht davon abhalten, dem Wächter neue Fallen zu stellen. Sie sind nacheinander in ihr Verderben gegangen. Und dann erkannte ich, dass jemand auf uns reagierte. Das Orthodrom, das damals voller Besucher war, wurde plötzlich immer spärlicher besucht. Aus irgendeinem Grund wollten oder konnten sie die Verbindung nicht einfach abdrehen. Sie wollten, dass es wie eine natürliche Entwicklung aussah. Darum müssen wir uns beeilen, sonst gibt es überhaupt keinen Weg mehr nach draußen.“
Um uns weitete sich der Gang auf. Ich sah einen Schienenstrang, der halb in den Felsen eingesunken war.
"Warum sollte sich jemand solche Mühe machen, uns zu täuschen?"
"Ich glaube, es geht gar nicht mehr um uns. Wir sind so etwas wie ein Museum. Sie haben uns eingefangen wie die Tiere und dorthin gebracht. Das Orthodrom war der Eingang und es war nicht notwendig, es zu verschließen."
Sie zog einen Höhenmesser aus ihrem Rucksack. Er zeigte minus hundertzehn Meter.
"Eine Oberfläche?"
"Ich war in jedem Teil der Welt. Überall leben diese antriebslosen Menschen. Ich denke, sie haben keine Seele. Wer uns beherrscht, kann keine Seelen erschaffen. Aber hier lösen sie sich auf. Das muss unser Heimatplanet sein. Dort wird es Menschen, geben, die sich weiterentwickelt haben. Menschen, die uns gegen den Wächter helfen können. Der Rest ist Illusion."
"Unsere Welt, eine Illusion?"
"Vielleicht war es anfangs ein Gefängnis. Unsere Welt existiert ja schon seit mehreren tausend Jahren so und ich fand es schon immer komisch, dass es nur eine Stadt gibt. Irgendwann oder auch gleich am Anfang fand man eine Methode, uns durch Kopien zu ersetzen. Die Kopien stellten sich wohl bald als besser heraus, als die Originale. Sie taten jeden Tag das Gleiche. Ohne zu murren und ohne zu denken.“
Lena begann zu laufen.
Wir bogen in einen noch größeren Gang ein. In der Mitte verliefen zwei Schienenstränge, die sich wellten, als spiegelten sich Linien auf einer Wasseroberfläche.
Ab und zu sah ich eingestürzte Nebengänge. Die Lichtkegel unserer Taschenlampen zeichnete hastige Muster und ich musste mich konzentrieren, um nicht über herabgefallene Felsbrocken zu stolpern.
Lena blieb erst stehen, als wir den Schacht erreichten. Er maß etwa zehn Meter im Durchmesser und verlief sowohl nach unten als auch nach oben.
Sie verlor keine Sekunde, riss ihren Rucksack herunter und stieg in das Klettergeschirr. Hastig tat ich es ihr nach.
„Nimm das.“ Sie zog zwei Helmlampen aus ihrem Rucksack und reichte mir eine.
„Wenn der Wächter jetzt auftaucht, sitzen wir in der Falle.“
„Letztes Mal sind wir bis auf dreißig Meter an die Oberfläche gekommen. Dieses Mal müssen wir es schaffen.“
„Und wenn nicht?“
Sie hängte sich Kletterhammer und Steighaken in den Gürtel, zog das Seil durch den Sicherungsachter, warf es mir zu und begann mit dem Aufstieg.
Überrascht stellte ich fest, dass die Wände des Schachtes rau waren und mit einer Reihe von Haken versehen. Sie kletterte unglaublich schnell von einem zum nächsten. Zögernd folgte ich ihr.
„Wenn du ein Klicken hörst, wie eine Maschine mit einem scheppernden Schwungrad, haben wir noch zehn Minuten, bis der Wächter uns erreicht.“
„Du hast nicht vor umzukehren?“
„Nein.“
Ich benötigte alle meine Konzentration, um ihr nachzukommen. Wir erreichten den Eingang zur nächsten Ebene. Der Tunnel sah genauso aus, wie der aus dem wir gekommen waren. Ein verblichenes, weißes Zeichen stand an der Wand. Ich konnte es nicht entziffern.
„Und wenn ich nicht sterben will?“
„Du kannst versuchen, dich zu dieser Ebene abzuseilen und ihn hier abschütteln. Das Bergwerk ist ein großes rechtwinkeliges Netz. Er wird dich nicht eher in Ruhe lassen, bis du aus dem Orthodrom verschwunden bist."
Sie hielt inne und sah zu mir herunter. Inzwischen hatte ich meinen Rhythmus gefunden und zog mich rasch von einem Haken zum nächsten. Sie war bereits am Ende der Linie aus Kletterhaken angelangt und begann weitere zu setzen. Präzise schlug sie einen Haken nach dem anderen. Ich sah ihr mit offenem Mund zu. Sie war eine Meisterin.
Einige Meter über uns sah ich bereits die Decke. Sie war aus massivem Stein.
„Die Decke liegt etwa zehn Meter unter der Oberfläche. Vermutlich führt von da ein Gang zu einer Bergflanke.“
Plötzlich hielt sie inne.
„Er kommt.“
Ich hörte ein weit entferntes Klicken. Es wirkte mechanisch, wie eine laute Uhr. Lena hämmerte wie verrückt den nächsten Haken in das poröse Gestein. Ihre Kletterausrüstung war viel besser als meine. Sie kletterte zwei Meter nach oben, um dort den nächsten Haken zu schlagen, rutschte kurz aus, erfing sich jedoch wieder. Die nächsten Meter kletterte sie ohne Sicherung weiter. Sie zog sich in den obersten Tunnel und half mir dann ebenfalls nach oben zu kommen. Kaum lag ich neben ihr, hörte das Klicken auf und ging in ein leises Scharren über.
„Er ist unter uns.“
Das Ende des Ganges wurde durch eine verrostete Tür versperrt. Ich schlug verzweifelt dagegen, doch sie ließ sich nicht öffnen.
Lena reichte mir ihren Kletterhammer und ein Stemmeisen. Damit lockerte ich die Angeln und beim nächsten Tritt fiel die Tür scheppernd nach innen. Ich erblickte einen großen Raum voller verrosteter Bettgestelle in denen halb zerfallene Matratzen hingen. Am Boden lag ein Skelett, das beinahe zu Staub zerfallen war. Wir stiegen vorsichtig darüber hinweg und gelangten an eine weitere Tür, welche sich knirschend öffnen ließ.
Hinter uns begann es wieder zu klicken.
Spinnweben und Staub bedeckten zentimeterdick den Boden. Aus einer Nische reflektierte etwas wie Glas das Licht. Ich trat hinzu und wischte über das völlig verdreckte Fensterglas. Draußen war kaum etwas zu erkenne, es mußte Nacht sein.
„Jetzt sehen wir zum ersten Mal unsere wirkliche Welt.“
Ich schlug das Glas ein und starrte nach draußen. Allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich sah in der Ferne eine Bergekette, die von einem blutroten Vollmund erhellt wurden. Die Bäume auf der Ebene davor wuchsen verkrüppelt. Eine Tierherde stampfte zwischen den Bäumen. Ihre Köpfe hatten zwei Rüssel. Sie mussten sechs oder mehr Meter hoch sein. Dort wo der Mund sein sollte, sah ich Mandibeln aufblitzen.
Ein spinnenförmiges Flugobjekt zog träge über das Tal. Es war völlig schwarz. Wer immer diesen Planeten beherrschte.
Es waren keine Menschen mehr.