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Das Plaid
Sie machen einen Bummel durch die Stadt. Die spärliche Nachmittagssonne wärmt nur mäßig. Es ist fast noch Winter. Plötzlich kommen sie an einem Reisebüro vorbei und bleiben wie gebannt stehen. In der Auslage ein Plaid! Welch ein Anblick: farbenprächtig, flauschig weich, einfach ein Traum ...
„Liebster“, flüstert sie ihm leise ins Ohr, „ich will jetzt und sofort und auf der Stelle dieses Plaid!“.
Der Laden hat geschlossen; einer Eingebung folgend macht er eine Bewegung mit dem Arm, als würde er nach etwas in der Luft greifen. Er schnippt mit den Fingern ... und reicht ihr die traumhafte Decke. Nicht zum ersten Mal hat er solche Flausen im Kopf, die zu Flusen werden ...
Während sie sich verwundert die Augen reibt und meint, es seien Fusseln vom Plaid hinein gekommen, ruft sie voller Entzücken:
„Oh, wie kommst du denn hierher?! Du kleiner Bär mit dem weichen Wuschelfell aus lauter Flusis.“ Sie fasst ihn bei den Händen und macht ein paar tänzelnde Schritte.
„Hallo Flusette“, sagt der Bär zu der Fee, „endlich treffe ich dich. Wie lange habe ich nach dir gesucht“.
Wie von Zauberhand verwandelt sich die Umgebung in einen Wald. Ein Eber blickt grimmig zu ihnen und rümpft seinen Rüssel. Lautstark entrüstet sich eine Elster.
„Lass uns von hier verschwinden“, brummt der Bär mit lachenden Augen, „ich fürchte, die Tiere rundum teilen nicht unsere Freude“.
“Sie sind alle so furchtbar ernst und gereizt“, kichert Flusette albern.
So ziehen sich Flusette und der Flusi-Bär die Decke über den Kopf und beschließen zu verreisen. Schon hört der Bär eine Stimme. Es ist das Fernweh, das zu ihm spricht. Das Plaid soll sie nach Kanada bringen, weit weg vom urbanen Leben, der Hektik.
Am Great Bear River nahe seiner Mündung in den Mackenzie machen sie Halt. Wild schäumen die Wasser des Flusses, brechen die Wellen sich gischtend am felsigen Ufer. In weitem Bogen färbt glitzernder Tröpfchennebel die Luft bunt bis zur Sonne hinauf.
Hungrig schauen sie umher, als Flusi-Bär lauschend verharrt. „Der Geist meiner Brüder spricht zu mir“, flüstert er. „Lass uns ein Stück weiter gehen“. In der Ferne sehen sie eine Gruppe Grizzly’s beim Lachsfang. Bereitwillig teilen diese ihre Beute, nachdem Flusette einen großen Topf Honig als Nachtisch bereit stellt. Es kostete sie nur ein Fingerschnipsen.
Kaum haben sie ihren Hunger gestillt, da schwebt ein trotz der Einförmigkeit seltsam erregender Sound zu ihnen herüber. „Tam, tam tam tam, tam, tam tam tam ...“. Der Flusi-Bär wird von einer inneren Unruhe erfasst.
„Ich werde gerufen“, sagt er zur Fee, „es ist der Sachem des Stammes der Satudene. Die Indianer sind in Not und bieten viel Wampum, wenn ihnen geholfen wird“.
Sie folgen dem fordernden Tam-Tam, dem Ruf der toten Gegenstände, die einmal gelebt haben, als Baum und als Tier. Bald erreichen sie eine Ansiedlung aus Rindenhütten mit doppeltem Pultdach.
Vermutlich haben die ’Baer Lakes’, wie sie genannt werden, nach ihrer letzten Jagd dem Geist ihrer Beute nicht genügend Respekt gezollt und kein Fleisch in das Feuer gelegt, um den Geist zu sättigen. Nun ruft der Schamane den Geist des Großen Bären und bittet, dass er eine Karibu- oder eine Elchherde durch das Territorium ziehen lässt. Der Lachs der Flüsse ist nur Zubrot und reicht nicht aus.
Als die Indianer den kleinen Bären sehen, nähern sie sich ihm mit aller Ehrfurcht und zeigen Gesten der Verehrung. „Ich werde von einer weisen Frau begleitet“, brummt der Flusi-Bär zum Schamanen. „Sie verfügt über einen Zauber, der euch helfen kann“.
Flusette zeigt sich als ebenbürtige Zauberin. Zum Klang der Trommel beginnt sie einen Tanz, den die Indianer noch nie gesehen haben. Aus ihrem Bauchtanz spricht der Geist des Orients. Die Fee bittet den Geist des Großen Bären um Jagdglück. Es dauert gar nicht lange, da zieht eine Elchherde am Lager vorbei.
Reich mit Muschelgeld beschenkt, nehmen Flusette und Flusi Abschied von ihren neuen Freunden. „Ich sehe an meinem ’Dach, das sich auf Rädern bewegt’ einen bösen Geist“, begründet die Fee ihren Aufbruch.
Das Plaid bringt die Beiden wieder zurück in die Gegenwart. Sie kommen einen Moment zu spät, denn der ’Böse Geist’ ist schon weiter gezogen. Doch er hat als Zeichen seines Wirkens ein Papier hinterlassen, unter dem ’ Gummi, der die Scheibe reinigt’. So wussten sie, dass die Reise länger als zwei Stunden gedauert hatte.