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Das Rauschen des Stillstands

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16.03.2015
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Anmerkungen zum Text

Diese Kurzgeschichte soll die vor drei Jahren erstellte Flash Fiction "Billy Never Idles" ersetzen, welche zunächst gesperrt wird, aber noch zur Ansicht vorhanden ist (Vielleicht möchte jemand in den bisherigen Text reinschauen).
Die Geschichte ist erweitert, nun etwa dreimal so lang und ... lest einfach selbst. ;-)

Das Rauschen des Stillstands

Die Kälte biss immer schärfer in ihre Gesichter. Der Wind trieb Papierfetzen über den leeren Parkplatz und verfing sie in den abgenutzten Reifenstapeln. Über allem hing ein dumpfes Brummen: der gleichmäßige, vibrierende Bass des Truckmotors.
Timmy fröstelte, schob die Hände tief in die Jackentaschen. »Der hört einfach nicht auf zu laufen«, murmelte er.
John nickte. »Genau darum geht’s. Verboten. Und viele machen’s trotzdem. Bei jedem verdammten Halt am Truckstop.« Seine Stimme klang, als müsse er sich selbst Mut zusprechen und den Sinn ihres riskanten Vorhabens neu beweisen.
Timmy blickte zu seinem Bruder auf. »Und dafür zahlen die Strafen? Nur weil sie den Motor laufen lassen?«
John beugte sich zu ihm. »Nur, wenn länger als drei Minuten. Jede Aufnahme zählt. Und wenn wir genug haben, reißt es uns raus. Nicht nur Mom, sondern auch uns.«
Ein Lächeln huschte kurz über Timmys Gesicht. Hoffnung. Doch gleich darauf kehrte die Angst zurück. »Und wenn sie uns erwischen?«
»Los, halt drauf!«, sagte John knapp und sah auf seine Uhr. »Hoffentlich kommt er nicht so schnell zurück.«
»Mein Akku ist leer. Kein Wunder, bei der Kälte …«
»Egal. Bald hast du ein neues Handy. Hier, nimm meins. Kein Zoom. Sonst wackelt’s. Sei leise. Hörst du den Motor? Der Ton muss auch mit drauf.«
Graue Wolkenfetzen rasten über das Gelände, die Leuchtreklame flackerte im aufziehenden Wind, während sich der Himmel immer mehr verdunkelte.
»Wie viele Aufnahmen hast du schon?«, fragte Timmy.
»Über hundert.«
»Und was bringt das?«
»Ein Viertel der Strafe, die sie zahlen müssen. Sobald wir’s bei der Umweltbehörde eingereicht haben. Manche verdienen Zehntausende damit. Hab ich gelesen.«
Timmys Blick verlor sich in der Nacht. Vor seinem inneren Auge tauchte das Krankenhaus auf.
Er sah das Desinfektionsmittel, die surrenden Geräte und seine blasse Mutter im Bett. Sie hatte schwach gelächelt. »Du bist stärker als du denkst«, flüsterte sie. Er hatte geschwiegen.
»Du schaust so ernst, Timmy«, sagte sie, während er einen Comic auf dem Schoß hielt. »Was ist los?«
»Nichts«, log er und blätterte schneller um, nur damit sie nicht merkte, wie seine Augen brannten. Er erinnerte sich an das, was man ihm gesagt hatte: Nasse Fahrbahn, falscher Augenblick, ein Reifen blockierte – das Auto war ins Schleudern geraten und wie ein Stück Blech im Regen über den Asphalt gerutscht. Sie hatten sie halb bewusstlos aus den eingedellten Türen geschnitten.
Dann streckte sie die Hand aus. Ihre Finger waren kalt gewesen, aber sie drückten fest. »Du bist stärker als du denkst.«
Er konnte nichts erwidern. Er saß nur in dem viel zu hohen Besucherstuhl und hatte das Gefühl, für all das viel zu klein zu sein. Als die Schwester hereinkam, um das Tropfgerät zu kontrollieren, stand er hastig auf. Der Geruch nach Gummihandschuhen, die grellen Lampen, das Piepen – er wollte nur raus, nur weg, aber gleichzeitig musste er bleiben.
Das Bild verschwand, als John ihm sanft an die Schulter stieß. »Eine Minute! Ab morgen bist du nach der Schule hier, okay? Solange, bis wir erstmal genug haben. Sag niemandem etwas. Wir können keine Konkurrenz gebrauchen. Erzähl auch Mom nichts! Ich will es ihr erst sagen, wenn wir das Geld haben.«
»Nach der Schule? Nur ich? Und wo bist du?«
»In Brooklyn. Bei einem anderen Truckstop. Wenn wir es beide machen, springt mehr dabei heraus – eine Minute fünfunddreißig! Deshalb bist du heute dabei, damit du weißt, wie es geht.«
»Woher wusstest du davon?«
»Im Fernsehen. Es gibt eine Umweltschutzkampagne mit diesem Rockstar. Billy, Billy …«
»Billie Eilish?«
»Nein, so ähnlich. Der Blonde. Oder blondgefärbt. Der aus den Achtzigern. – Zwei Minuten zehn! – Anschließend hältst du aufs Nummernschild drauf, okay? Mach auch Fotos. Auch vom Logo. Das ist wichtig!«
»Ja, ja. Verstanden.«
Die Sekunden verstrichen langsam. Dann ging die Tür des Truckstops auf, an dem aller Fortschritt spurlos vorübergegangen war.
»Er kommt zurück. Zwei einundzwanzig«, las Timmy vom Display ab. »Das reicht nicht!«
»Nicht schlimm«, sagte John und legte einen Arm um Timmys Schulter. »Und hör auf zu fluchen. Wir warten auf den nächsten.«
Eine steife Brise blähte Timmys Jacke. Er überkreuzte die Arme vor der Brust und sagte: »Hier, dein Handy.« Dann drehte er sich zum Truckstop.
»Was hast du vor?«

»Hallo! Zweimal heiße Schokolade, bitte!«, sagte Timmy.
Der hagere Angestellte warf den beiden Jungen einen Blick zu, der länger hielt, als angenehm war, und schüttete zwei Becher aus einer Thermoskanne ein.
Während er wortlos die Heißgetränke hinstellte, rauschte das alte Transistorradio auf der Ablage. Dann setzte Musik ein – schrille Gitarrenriffs aus den Achtzigern, kratzig und verzerrt, als kämen sie durch ein Echo aus einer anderen Zeit.
John zuckte zusammen, als eine markante Männerstimme aus dem Lautsprecher sang, drängend, herausfordernd.
Timmy hob überrascht den Kopf. »Was ist?«
»Billy … Billy Idol!«
Draußen prasselten die ersten Regentropfen gegen die Scheiben, liefen in dünnen Adern hinab, als hätten die Wolken gerade erst aufgerissen. Der Song im Radio jaulte weiter, voller Energie, während die Jungs da standen, aufgewühlt, mit den dampfenden Bechern in der Hand.
Der Angestellte stellte das Radio leise und knurrte: »Verdammtes Wetter.«
Der Regen zog Schleier durch die Scheinwerfer der parkenden Trucks. Die Neonröhre über der Theke summte nervös, als würde auch sie sich sträuben, in diesem vergessenen Ort weiterzuleuchten.
Timmy fröstelte, jedes Mal, wenn die Tür aufging und ein Zug aus feuchter Luft hereindrang. Bald war das rhythmische Trommeln des Regens lauter als das Surren der Neonröhre. Timmy hatte den Eindruck, dass jeder, der durch die Tür käme, sofort wüsste, dass sie nicht hierhergehörten. Kinder unter Männern. Fremde auf fremdem Terrain.
John spielte gelassen, stützte den Ellenbogen neben dem Becher ab, nippte kaum daran. Timmy dagegen trank hastig, so als könnte der Kakao ihm Mut geben. Doch er verzog nur das Gesicht und spürte das Zittern in den Beinen stärker. Nervös ließ er den Blick schweifen, fixierte die Warmhalteplatten mit den Kaffeekannen und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf den Angestellten. »Ähm, können Sie uns … Können Sie uns einen Gefallen tun?«
»Vier Dollar.«
»Was?«
»Eure Kakaos.«
Die Heißgetränke die bereitstanden, kaum dass sie bestellt waren, dachte Timmy, während er sein letztes Geld aus der Hosentasche kramte, es auf den Tresen legte und abzählte. »Sieben Dollar und 65 Cent. Sie können den Rest behalten. Es … es geht um eine Wette.« Dann beugte er sich vor und flüsterte.

John schützte seinen Becher mit einer Hand vor dem Regen und nahm vorsichtig einen Schluck. »Tut gut. Hier, das Handy. Da kommt einer!« Kakao schwappte über. »Motor läuft. Er steigt aus. Fang an!«
Timmy nahm das Handy und filmte.
»Jetzt fällt’s mir wieder ein: Billy Never Idles.«
»Wie?«, fragte Timmy. »Was soll das bedeuten?«
»Es ist doppeldeutig gemeint. Billy steht nicht im Leerlauf. Car Idling bedeutet den Motor laufen lassen. Also: Motor aus, wenn du nicht fährst! So ungefähr ist das gemeint. – Er kommt zurück!«
»Sehe ich selbst!«
Als der muskulöse, kahlgeschorene Fahrer auf sie zustürmte, schrie John: »Los, abhauen!«
Jeder Muskel gespannt, ließen John und Timmy alles hinter sich und flohen. Ihre Schuhe spritzten Wasser auf, das in die Ritzen der Pflastersteine rann. Die Schatten überschlugen sich. Der Regen setzte nun stark ein, peitschte quer über den Parkplatz, prasselte auf den Asphalt, der wie eine schwarze Spiegelplatte glänzte.
Timmy schlitterte über den nassen Boden und ließ das Handy fallen. »Das Handy!«
»Holen wir uns später! Schnell weg! Der macht uns beide fertig!«, schrie John und zog seinen Bruder am Arm weg.
Der Fahrer krempelte die Ärmel hoch, ballte die Fäuste. »Na, wartet! Euch Schweine krieg ich! Ich weiß, was für ein dreckiges Ding ihr hier abzieht.«

Keuchend blieben sie hinter einer Hauswand stehen. Der Regen war inzwischen zu einem wütenden Sturzbach angeschwollen. Tropfen peitschten ihnen ins Gesicht, mischten sich mit Schweiß, ließen die Luft noch schwerer wirken. Überall rann Wasser, sammelte sich in Pfützen und riss Zigarettenstummel mit sich.
Jeder Atemzug schmeckte nach Metall und nassem Asphalt. Am Himmel, pechschwarz von Wolken, blitzte für Sekunden grelles Licht, das den Truckfahrer wie eine Silhouette aus einem Fiebertraum erscheinen ließ.
Mit brennenden Lungen spürten die beiden Brüder, wie sie beide denselben Gedanken teilten, ohne ihn auszusprechen: So knapp. Zu knapp.
Die Gestalt des Truckers, muskulös und breit wie eine Mauer, war mehr Tier als Mensch. Er war kein Erwachsener, der bloß böse schimpft. Er war eine Gefahr. Eine Gefahr, die die Hände in die Hüften stützte und sich umsah.
»Puh«, sagte Timmy, »Glück gehabt.«
Doch seine Worte gingen unter im Rauschen des Regens. Und in seinem Kopf flackerte wieder der Krankenhausflur auf.
Er hörte das leise Surren des Aufzugs, roch die Mischung aus Bohnerwachs und dem süßlich-fremden Geruch von Medikamenten. Er saß im Stuhl vor der Tür, die Knie angezogen, und lauschte den Stimmen der Ärzte. Viele Wörter verstand er nicht – aber ihre Stimmen klangen wie Donner, unheilvoll und schwer. Und er fühlte sich schuldig, schließlich saß er hinten im Auto und kam nur leicht verletzt davon.
Seine Mutter lächelte ihn an, als er endlich zu ihr durfte, und er hatte gefragt, ob alles gut werde. Sie nickte rasch, zu rasch – und ihr Blick ging ins Leere. Dieses Schweigen war schlimmer gewesen als eine direkte Antwort.
Timmy blinzelte stark, als wolle er die Erinnerung fortscheuchen. Der Wind riss an seiner Jacke, brachte ihn zurück ins Jetzt. Der Trucker war noch immer da, nur zwanzig Meter entfernt, und John stieß ihn an: »Wenn er weg ist, müssen wir das Handy zurückholen.«
Timmy nickte heftig, obwohl sein Herz gerade an einem anderen Ort war.
Fester als nötig packte John seinen Bruder am Arm. »Immer bist du schuld! Nie wieder gehst du so nah ran«, zischte er, gehetzt und wütend.
Timmy riss sich los. »Ich, schuld? Das ist doch unfair!« Er biss sich auf die Zunge, während ihm heiße Tränen über die Wangen liefen. »Du wolltest doch, dass ich filme!« Seine Stimme überschlug sich. Er hob die Schultern, schob John weg. »Immer soll ich schuld sein!«
In diesem Moment blitzte die Wirklichkeit auf. Das glühende Schreckgespenst wurde Realität – der Trucker hielt etwas in der Hand.
»Er hat das Handy gefunden!«, sagte John.
Timmy atmete schwer. »Tut mir leid, John. Du bekommst meins. Komm, lass uns zu ihr gehen.« Vielleicht war er wirklich schuld. War es nicht genauso gewesen, als Mama den Unfall hatte? Hatte er da nicht auch etwas falsch gemacht? Ein Loch der Unsicherheit breitete sich in seinem Bauch aus.
»Die Aufnahmen!« John lief dem Fahrer hinterher, der zum Truck zurückging.
»Die kannst du aus der Cloud runterladen!«, schrie Timmy und lief seinem Bruder nach.
»Ich habe weder Cloud noch Datensicherung«, sagte John. »Das sind fast neuntausend Dollar! Alles umsonst! Die OP!«
Timmy holte seinen Bruder ein und ließ ihn hinter sich. »Ich hol es!«
»Warten Sie! Bitte!«, rief John. »Bitte!«
Der Fahrer hielt hinter dem Truck an, schaute in ihre Richtung, hielt grinsend das Handy hoch. Dann legte er das Telefon vor dem Hinterreifen und hastete in die Fahrerkabine.
»Heh, Sie Scheißkerl!«, rief Timmy, der noch einige Meter entfernt war.
Der Boden vibrierte bedrohlich unter ihren Füßen, als der Motor des Trucks aufheulte und heißen Dampf aus den wie schwarze Kamine aufragenden Schloten stieß. Das Rauschen des Stillstands erfüllte die Luft, ein monotoner Klang zwischen Gefahr und Verheißung. Der Auspuffqualm zwängte sich trotz des Regens empor, während die Pfützen unruhig zitterten und das Licht der Scheinwerfer in nervösen, zuckenden Reflexen über den Asphalt jagte.
Timmy warf sich vornüber. Der Regen klatschte ihm kalt auf den Nacken; der Boden wirkte wie ein feindlicher, lebendiger Körper. Als hätte er jedes Vertrauen in Logik oder Vorsicht verloren, kroch er unter das ratternde Ungetüm. Nur ein Gedanke trieb ihn an: das Handy – oder nichts.
Für einen winzigen Moment verschwand das Trommeln des Regens, war da kein Motorenlärm, kein kalter Boden unter den Händen. Stattdessen das monotone Piepen eines Monitors, das leise Rascheln eines Krankenhaushemds. Er sah seine Mutter, wie sie ihn ansah – müde, aber lächelnd –, und hörte ihr Flüstern von damals wieder: »Du bist stärker als du denkst.«
Dann brachen das Donnern des Diesels und das Schlagen der Tropfen mit voller Wucht zurück, so laut, dass er kaum atmen konnte. Der Gestank der Abgase schnitt ihm in die Kehle.
»Komm da weg! Der ist wahnsinnig! Timmy!«, schrie John verzweifelt und hämmerte gegen die Fahrertür.
»Es ist eingeklemmt!« Timmy war nicht hier, sondern wieder dort, wo es damals geschehen war: nasse Fahrbahn, quietschende Reifen, das Kreischen von Metall. Der beißende Geruch nach verbranntem Gummi. Er sah das Auto seiner Mutter über den Asphalt schlittern, klein, wehrlos, ausgeliefert – ganz wie er sich jetzt fühlte. Dann kam das Rauschen des Stillstands, das sich tief in sein Gedächtnis brannte.
Das Bild des Aufpralls zerriss, als ein greller Blitz die Dunkelheit durchbrach. Donner rollte über das Gelände, und der Regen trommelte wie Peitschenhiebe auf die Fahrbahn, während der Dieselgroll zurückkehrte und alle Stimmen verschlang.
»Komm da weg!«, schrie John, patschnass, während seine Finger krampfhaft am Griff der Fahrertür klebten. »Timmy!«
»Ich hab’s gleich!«, presste Timmy hervor, die Finger nach dem eingeklemmten Handy tastend, als müsse er nicht nur das Handy, sondern auch diesen einen Tag zurückholen, an dem alles zerbrochen war.
John beugte sich tiefer, zerrte am Arm des Bruders, doch Timmys Körper stemmte sich verzweifelt dagegen wie in einem stummen Trotz. Der Regen hämmerte auf sie nieder, übertönte fast Johns Aufschrei: »Lass es! Lass es los, Timmy! Weg! Weg, hörst du?!« Seine Worte zerfielen im Sturm. Es war kein Befehl mehr, keine Warnung. Es war nacktes Flehen.

 

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