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Das Rauschen des Stillstands

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16.03.2015
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Anmerkungen zum Text

Diese Kurzgeschichte soll die vor drei Jahren erstellte Flash Fiction "Billy Never Idles" ersetzen, welche zunächst gesperrt wird, aber noch zur Ansicht vorhanden ist (Vielleicht möchte jemand in den bisherigen Text reinschauen).
Die Geschichte ist erweitert, nun etwa dreimal so lang und ... lest einfach selbst. ;-)

Das Rauschen des Stillstands

Die Kälte biss immer schärfer in ihre Gesichter. Der Wind trieb Papierfetzen über den leeren Parkplatz und verfing sie in den abgenutzten Reifenstapeln. Über allem hing ein dumpfes Brummen: der gleichmäßige, vibrierende Bass des Truckmotors.
Timmy fröstelte, schob die Hände tief in die Jackentaschen. »Der hört einfach nicht auf zu laufen«, murmelte er.
John nickte. »Genau darum geht’s. Verboten. Und viele machen’s trotzdem. Bei jedem verdammten Halt am Truckstop.« Seine Stimme klang, als müsse er sich selbst Mut zusprechen und den Sinn ihres riskanten Vorhabens neu beweisen.
Timmy blickte zu seinem Bruder auf. »Und dafür zahlen die Strafen? Nur weil sie den Motor laufen lassen?«
John beugte sich zu ihm. »Nur, wenn länger als drei Minuten. Jede Aufnahme zählt. Und wenn wir genug haben, reißt es uns raus. Nicht nur Mom, sondern auch uns.«
Ein Lächeln huschte kurz über Timmys Gesicht. Hoffnung. Doch gleich darauf kehrte die Angst zurück. »Und wenn sie uns erwischen?«
»Los, halt drauf!«, sagte John knapp und sah auf seine Uhr. »Hoffentlich kommt er nicht so schnell zurück.«
»Mein Akku ist leer. Kein Wunder, bei der Kälte …«
»Egal. Bald hast du ein neues Handy. Hier, nimm meins. Kein Zoom. Sonst wackelt’s. Sei leise. Hörst du den Motor? Der Ton muss auch mit drauf.«
Graue Wolkenfetzen rasten über das Gelände, die Leuchtreklame flackerte im aufziehenden Wind, während sich der Himmel immer mehr verdunkelte.
»Wie viele Aufnahmen hast du schon?«, fragte Timmy.
»Über hundert.«
»Und was bringt das?«
»Ein Viertel der Strafe, die sie zahlen müssen. Sobald wir’s bei der Umweltbehörde eingereicht haben. Manche verdienen Zehntausende damit. Hab ich gelesen.«
Timmys Blick verlor sich in der Nacht. Vor seinem inneren Auge tauchte das Krankenhaus auf.
Er sah das Desinfektionsmittel, die surrenden Geräte und seine blasse Mutter im Bett. Sie hatte schwach gelächelt. »Du bist stärker als du denkst«, flüsterte sie. Er hatte geschwiegen.
»Du schaust so ernst, Timmy«, sagte sie, während er einen Comic auf dem Schoß hielt. »Was ist los?«
»Nichts«, log er und blätterte schneller um, nur damit sie nicht merkte, wie seine Augen brannten. Er erinnerte sich an das, was man ihm gesagt hatte: Nasse Fahrbahn, falscher Augenblick, ein Reifen blockierte – das Auto war ins Schleudern geraten und wie ein Stück Blech im Regen über den Asphalt gerutscht. Sie hatten sie halb bewusstlos aus den eingedellten Türen geschnitten.
Dann streckte sie die Hand aus. Ihre Finger waren kalt gewesen, aber sie drückten fest. »Du bist stärker als du denkst.«
Er konnte nichts erwidern. Er saß nur in dem viel zu hohen Besucherstuhl und hatte das Gefühl, für all das viel zu klein zu sein. Als die Schwester hereinkam, um das Tropfgerät zu kontrollieren, stand er hastig auf. Der Geruch nach Gummihandschuhen, die grellen Lampen, das Piepen – er wollte nur raus, nur weg, aber gleichzeitig musste er bleiben.
Das Bild verschwand, als John ihm sanft an die Schulter stieß. »Eine Minute! Ab morgen bist du nach der Schule hier, okay? Solange, bis wir erstmal genug haben. Sag niemandem etwas. Wir können keine Konkurrenz gebrauchen. Erzähl auch Mom nichts! Ich will es ihr erst sagen, wenn wir das Geld haben.«
»Nach der Schule? Nur ich? Und wo bist du?«
»In Brooklyn. Bei einem anderen Truckstop. Wenn wir es beide machen, springt mehr dabei heraus – eine Minute fünfunddreißig! Deshalb bist du heute dabei, damit du weißt, wie es geht.«
»Woher wusstest du davon?«
»Im Fernsehen. Es gibt eine Umweltschutzkampagne mit diesem Rockstar. Billy, Billy …«
»Billie Eilish?«
»Nein, so ähnlich. Der Blonde. Oder blondgefärbt. Der aus den Achtzigern. – Zwei Minuten zehn! – Anschließend hältst du aufs Nummernschild drauf, okay? Mach auch Fotos. Auch vom Logo. Das ist wichtig!«
»Ja, ja. Verstanden.«
Die Sekunden verstrichen langsam. Dann ging die Tür des Truckstops auf, an dem aller Fortschritt spurlos vorübergegangen war.
»Er kommt zurück. Zwei einundzwanzig«, las Timmy vom Display ab. »Das reicht nicht!«
»Nicht schlimm«, sagte John und legte einen Arm um Timmys Schulter. »Und hör auf zu fluchen. Wir warten auf den nächsten.«
Eine steife Brise blähte Timmys Jacke. Er überkreuzte die Arme vor der Brust und sagte: »Hier, dein Handy.« Dann drehte er sich zum Truckstop.
»Was hast du vor?«

»Hallo! Zweimal heiße Schokolade, bitte!«, sagte Timmy.
Der hagere Angestellte warf den beiden Jungen einen Blick zu, der länger hielt, als angenehm war, und schüttete zwei Becher aus einer Thermoskanne ein.
Während er wortlos die Heißgetränke hinstellte, rauschte das alte Transistorradio auf der Ablage. Dann setzte Musik ein – schrille Gitarrenriffs aus den Achtzigern, kratzig und verzerrt, als kämen sie durch ein Echo aus einer anderen Zeit.
John zuckte zusammen, als eine markante Männerstimme aus dem Lautsprecher sang, drängend, herausfordernd.
Timmy hob überrascht den Kopf. »Was ist?«
»Billy … Billy Idol!«
Draußen prasselten die ersten Regentropfen gegen die Scheiben, liefen in dünnen Adern hinab, als hätten die Wolken gerade erst aufgerissen. Der Song im Radio jaulte weiter, voller Energie, während die Jungs da standen, aufgewühlt, mit den dampfenden Bechern in der Hand.
Der Angestellte stellte das Radio leise und knurrte: »Verdammtes Wetter.«
Der Regen zog Schleier durch die Scheinwerfer der parkenden Trucks. Die Neonröhre über der Theke summte nervös, als würde auch sie sich sträuben, in diesem vergessenen Ort weiterzuleuchten.
Timmy fröstelte, jedes Mal, wenn die Tür aufging und ein Zug aus feuchter Luft hereindrang. Bald war das rhythmische Trommeln des Regens lauter als das Surren der Neonröhre. Timmy hatte den Eindruck, dass jeder, der durch die Tür käme, sofort wüsste, dass sie nicht hierhergehörten. Kinder unter Männern. Fremde auf fremdem Terrain.
John spielte gelassen, stützte den Ellenbogen neben dem Becher ab, nippte kaum daran. Timmy dagegen trank hastig, so als könnte der Kakao ihm Mut geben. Doch er verzog nur das Gesicht und spürte das Zittern in den Beinen stärker. Nervös ließ er den Blick schweifen, fixierte die Warmhalteplatten mit den Kaffeekannen und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf den Angestellten. »Ähm, können Sie uns … Können Sie uns einen Gefallen tun?«
»Vier Dollar.«
»Was?«
»Eure Kakaos.«
Die Heißgetränke die bereitstanden, kaum dass sie bestellt waren, dachte Timmy, während er sein letztes Geld aus der Hosentasche kramte, es auf den Tresen legte und abzählte. »Sieben Dollar und 65 Cent. Sie können den Rest behalten. Es … es geht um eine Wette.« Dann beugte er sich vor und flüsterte.

John schützte seinen Becher mit einer Hand vor dem Regen und nahm vorsichtig einen Schluck. »Tut gut. Hier, das Handy. Da kommt einer!« Kakao schwappte über. »Motor läuft. Er steigt aus. Fang an!«
Timmy nahm das Handy und filmte.
»Jetzt fällt’s mir wieder ein: Billy Never Idles.«
»Wie?«, fragte Timmy. »Was soll das bedeuten?«
»Es ist doppeldeutig gemeint. Billy steht nicht im Leerlauf. Car Idling bedeutet den Motor laufen lassen. Also: Motor aus, wenn du nicht fährst! So ungefähr ist das gemeint. – Er kommt zurück!«
»Sehe ich selbst!«
Als der muskulöse, kahlgeschorene Fahrer auf sie zustürmte, schrie John: »Los, abhauen!«
Jeder Muskel gespannt, ließen John und Timmy alles hinter sich und flohen. Ihre Schuhe spritzten Wasser auf, das in die Ritzen der Pflastersteine rann. Die Schatten überschlugen sich. Der Regen setzte nun stark ein, peitschte quer über den Parkplatz, prasselte auf den Asphalt, der wie eine schwarze Spiegelplatte glänzte.
Timmy schlitterte über den nassen Boden und ließ das Handy fallen. »Das Handy!«
»Holen wir uns später! Schnell weg! Der macht uns beide fertig!«, schrie John und zog seinen Bruder am Arm weg.
Der Fahrer krempelte die Ärmel hoch, ballte die Fäuste. »Na, wartet! Euch Schweine krieg ich! Ich weiß, was für ein dreckiges Ding ihr hier abzieht.«

Keuchend blieben sie hinter einer Hauswand stehen. Der Regen war inzwischen zu einem wütenden Sturzbach angeschwollen. Tropfen peitschten ihnen ins Gesicht, mischten sich mit Schweiß, ließen die Luft noch schwerer wirken. Überall rann Wasser, sammelte sich in Pfützen und riss Zigarettenstummel mit sich.
Jeder Atemzug schmeckte nach Metall und nassem Asphalt. Am Himmel, pechschwarz von Wolken, blitzte für Sekunden grelles Licht, das den Truckfahrer wie eine Silhouette aus einem Fiebertraum erscheinen ließ.
Mit brennenden Lungen spürten die beiden Brüder, wie sie beide denselben Gedanken teilten, ohne ihn auszusprechen: So knapp. Zu knapp.
Die Gestalt des Truckers, muskulös und breit wie eine Mauer, war mehr Tier als Mensch. Er war kein Erwachsener, der bloß böse schimpft. Er war eine Gefahr. Eine Gefahr, die die Hände in die Hüften stützte und sich umsah.
»Puh«, sagte Timmy, »Glück gehabt.«
Doch seine Worte gingen unter im Rauschen des Regens. Und in seinem Kopf flackerte wieder der Krankenhausflur auf.
Er hörte das leise Surren des Aufzugs, roch die Mischung aus Bohnerwachs und dem süßlich-fremden Geruch von Medikamenten. Er saß im Stuhl vor der Tür, die Knie angezogen, und lauschte den Stimmen der Ärzte. Viele Wörter verstand er nicht – aber ihre Stimmen klangen wie Donner, unheilvoll und schwer. Und er fühlte sich schuldig, schließlich saß er hinten im Auto und kam nur leicht verletzt davon.
Seine Mutter lächelte ihn an, als er endlich zu ihr durfte, und er hatte gefragt, ob alles gut werde. Sie nickte rasch, zu rasch – und ihr Blick ging ins Leere. Dieses Schweigen war schlimmer gewesen als eine direkte Antwort.
Timmy blinzelte stark, als wolle er die Erinnerung fortscheuchen. Der Wind riss an seiner Jacke, brachte ihn zurück ins Jetzt. Der Trucker war noch immer da, nur zwanzig Meter entfernt, und John stieß ihn an: »Wenn er weg ist, müssen wir das Handy zurückholen.«
Timmy nickte heftig, obwohl sein Herz gerade an einem anderen Ort war.
Fester als nötig packte John seinen Bruder am Arm. »Immer bist du schuld! Nie wieder gehst du so nah ran«, zischte er, gehetzt und wütend.
Timmy riss sich los. »Ich, schuld? Das ist doch unfair!« Er biss sich auf die Zunge, während ihm heiße Tränen über die Wangen liefen. »Du wolltest doch, dass ich filme!« Seine Stimme überschlug sich. Er hob die Schultern, schob John weg. »Immer soll ich schuld sein!«
In diesem Moment blitzte die Wirklichkeit auf. Das glühende Schreckgespenst wurde Realität – der Trucker hielt etwas in der Hand.
»Er hat das Handy gefunden!«, sagte John.
Timmy atmete schwer. »Tut mir leid, John. Du bekommst meins. Komm, lass uns zu ihr gehen.« Vielleicht war er wirklich schuld. War es nicht genauso gewesen, als Mama den Unfall hatte? Hatte er da nicht auch etwas falsch gemacht? Ein Loch der Unsicherheit breitete sich in seinem Bauch aus.
»Die Aufnahmen!« John lief dem Fahrer hinterher, der zum Truck zurückging.
»Die kannst du aus der Cloud runterladen!«, schrie Timmy und lief seinem Bruder nach.
»Ich habe weder Cloud noch Datensicherung«, sagte John. »Das sind fast neuntausend Dollar! Alles umsonst! Die OP!«
Timmy holte seinen Bruder ein und ließ ihn hinter sich. »Ich hol es!«
»Warten Sie! Bitte!«, rief John. »Bitte!«
Der Fahrer hielt hinter dem Truck an, schaute in ihre Richtung, hielt grinsend das Handy hoch. Dann legte er das Telefon vor dem Hinterreifen und hastete in die Fahrerkabine.
»Heh, Sie Scheißkerl!«, rief Timmy, der noch einige Meter entfernt war.
Der Boden vibrierte bedrohlich unter ihren Füßen, als der Motor des Trucks aufheulte und heißen Dampf aus den wie schwarze Kamine aufragenden Schloten stieß. Das Rauschen des Stillstands erfüllte die Luft, ein monotoner Klang zwischen Gefahr und Verheißung. Der Auspuffqualm zwängte sich trotz des Regens empor, während die Pfützen unruhig zitterten und das Licht der Scheinwerfer in nervösen, zuckenden Reflexen über den Asphalt jagte.
Timmy warf sich vornüber. Der Regen klatschte ihm kalt auf den Nacken; der Boden wirkte wie ein feindlicher, lebendiger Körper. Als hätte er jedes Vertrauen in Logik oder Vorsicht verloren, kroch er unter das ratternde Ungetüm. Nur ein Gedanke trieb ihn an: das Handy – oder nichts.
Für einen winzigen Moment verschwand das Trommeln des Regens, war da kein Motorenlärm, kein kalter Boden unter den Händen. Stattdessen das monotone Piepen eines Monitors, das leise Rascheln eines Krankenhaushemds. Er sah seine Mutter, wie sie ihn ansah – müde, aber lächelnd –, und hörte ihr Flüstern von damals wieder: »Du bist stärker als du denkst.«
Dann brachen das Donnern des Diesels und das Schlagen der Tropfen mit voller Wucht zurück, so laut, dass er kaum atmen konnte. Der Gestank der Abgase schnitt ihm in die Kehle.
»Komm da weg! Der ist wahnsinnig! Timmy!«, schrie John verzweifelt und hämmerte gegen die Fahrertür.
»Es ist eingeklemmt!« Timmy war nicht hier, sondern wieder dort, wo es damals geschehen war: nasse Fahrbahn, quietschende Reifen, das Kreischen von Metall. Der beißende Geruch nach verbranntem Gummi. Er sah das Auto seiner Mutter über den Asphalt schlittern, klein, wehrlos, ausgeliefert – ganz wie er sich jetzt fühlte. Dann kam das Rauschen des Stillstands, das sich tief in sein Gedächtnis brannte.
Das Bild des Aufpralls zerriss, als ein greller Blitz die Dunkelheit durchbrach. Donner rollte über das Gelände, und der Regen trommelte wie Peitschenhiebe auf die Fahrbahn, während der Dieselgroll zurückkehrte und alle Stimmen verschlang.
»Komm da weg!«, schrie John, patschnass, während seine Finger krampfhaft am Griff der Fahrertür klebten. »Timmy!«
»Ich hab’s gleich!«, presste Timmy hervor, die Finger nach dem eingeklemmten Handy tastend, als müsse er nicht nur das Handy, sondern auch diesen einen Tag zurückholen, an dem alles zerbrochen war.
John beugte sich tiefer, zerrte am Arm des Bruders, doch Timmys Körper stemmte sich verzweifelt dagegen wie in einem stummen Trotz. Der Regen hämmerte auf sie nieder, übertönte fast Johns Aufschrei: »Lass es! Lass es los, Timmy! Weg! Weg, hörst du?!« Seine Worte zerfielen im Sturm. Es war kein Befehl mehr, keine Warnung. Es war nacktes Flehen.

 
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Hallo @GoMusic

Ich mag mich noch an deine Geschichte erinnern, hatte ich sie doch damals gelesen und kommentiert. Ist das wirklich schon über 3 Jahre her? :sconf: Nun wollte ich natürlich sehen, was Du aus der Story gemacht und wie Du sie weiterentwickelt hast.

Auch wenn die Story in den USA spielt und Du den Namen der Kampagne genommen hattest, es dadurch natürlich super gepasst hat, gefällt mir der deutschsprachige Titel besser. Ich finde es immer irgendwie ungünstig, wenn man für einen in deutscher Sprache verfassten Text einen englischen Titel wählt. Aber das ist nebensächlich. Ich finde die gewählte Thematik interessant, im alten wie im neuen Text, diese Kampagne zusammen mit einem bekannten Rockstar, 'Billy Never Idles', die ein Bewusstsein dafür schaffen soll, den Motor während einer Pause nicht laufen zu lassen. An und für sich ja eine gute Sache. Als Beweis werden dann die fehlbaren Trucks bzw. deren Fahrer mittels Videoaufnahmen an den Pranger gestellt und wenn ich das richtig in Erinnerung habe, konnten gewisse Filmer damit richtig Geld machen. Das kann dann auch mit Risiken verbunden sein, bekannterweise gibt es Leute, die alles für Kohle machen, und ist ja auch Thema in deiner Geschichte. Zumindest lese ich es so, dass es am Schluss dramatisch ausgehen könnte und Timmy bei den Aufnahmen mit seinem Bruder vielleicht nicht direkt stirbt, aber überrollt und dadurch schwer verletzt wird. Gut finde ich, dass der Text das offen lässt. Also, wenn ich diesen Text mit dem alten vergleiche, hast Du -- verzeih mir, wenn ich falsch liege, habe die alte Version nicht noch einmal gelesen -- vor allem atmosphärische Details hinzugefügt? Ich finde das Ganze grösstenteils ziemlich stimmig, auch wenn es ein paar Ausreisser gibt, und gebe Dir gerne einen detaillierteren Eindruck anhand einiger Zitate.

Bevor ich dies mache, möchte ich aber noch etwas zu den Dialogen anführen: Ich hatte ehrlich gesagt etwas Mühe mit denen. Nicht, weil sie nicht gut geschrieben wären, aber die drehen sich ausschliesslich um die Kampagne 'Billy Never Idles', also Timmys Bruder erklärt ihm das ja minutiös, so verstehe ich zwar als Leser gut, worum es geht, aber weil die sonst über praktisch nix anderes reden, wirkt das ziemlich einseitig und ich bekomme das Gefühl, die beiden unterhalten sich nur, damit sie dem Leser Kontext liefern (selbst wenn es an und für sich ja gut gewählt ist, der kleine Bruder geht zum ersten Mal mit John mit und dieser instruiert ihn, wie das alles zu machen ist mit dem Filmen, also die Situation passt durchaus). Ich würde die beiden zwischendurch, wenn es eine Verschnaufpause gibt, auch über andere Dinge reden lassen, so dürften, denke ich, auch die Figuren etwas plastischer werden, weil momentan ist da nicht viel, was den beiden Konturen, Schärfe gibt. Insgesamt ist mir das beinahe etwas zu plakativ und ich bin mir unsicher, ob es so geschickt ist, sämtliche Infos zur Kampagne rein über den Dialog zu vermitteln. Also ich denke, da könntest Du allenfalls noch paar Dinge machen am Text.

Der Wind trieb Papierfetzen über den leeren Parkplatz und verfing sie in den abgenutzten Reifenstapeln.
Hier bin ich etwas gestolpert, weil das nicht ganz präzise ist. Es sind meiner Meinung nach nicht die Reifenstapel selbst, die abgenutzt sind, sondern die Reifen auf ebendiesem Stapel. Der Wind trieb Papierfetzen über den leeren Parkplatz. Sie verfingen sich in einem Stapel abgenutzter Reifen. Ich habe zudem etwas Mühe mit der Formulierung 'der Wind verfing die Papierfetzen in einem Reifenstapel', das klingt für mich nicht korrekt, aber wahrscheinlich bin das nur ich.

John beugte sich zu ihm. »Nur, wenn länger als drei Minuten. Jede Aufnahme zählt. Und wenn wir genug haben, reißt es uns raus. Nicht nur Mom, sondern auch uns.«
Ein Lächeln huschte kurz über Timmys Gesicht. Hoffnung. Doch gleich darauf kehrte die Angst zurück. »Und wenn sie uns erwischen?«
Ich finde, hier könntest Du stärker im Dialog bleiben, Timmy direkt anworten lassen. Was er denkt, wie er sich fühlt, das schwingt da meiner Meinung nach schon mit und muss nicht so direkt ausformuliert werden. Lass den Leser doch seine eigenen Schlüsse ziehen, das fände ich spannender.

die Leuchtreklame flackerte im aufziehenden Wind
Für mich auch wieder etwas ungenau. Es liest sich hier beinahe so, als flackere die Leuchtreklame wegen des aufziehenden Winds. Aber das ist ja nicht so, die flackert ja auch bei Windstille.

»Und was bringt das?«
»Ein Viertel der Strafe, die sie zahlen müssen. Sobald wir’s bei der Umweltbehörde eingereicht haben. Manche verdienen Zehntausende damit. Hab ich gelesen.«
Hier ist so ein Beispiel, wo der Dialog zu stark darauf fokussiert ist, Infos an den Mann oder die Frau zu bringen. Vielleicht könnte Timmy sowas fragen wie: Und was machen wir eigentlich mit den Aufnahmen? Dann die Antwort seines Bruders: Die schicken wir zur Umweltbehöre. Damit kann man Zehntausende verdienen, hab ich gelesen. Das würde sich natürlicher lesen, ist aber natürlich nur ein schnell hingekritzelter Vorschlag.

Nasse Fahrbahn, falscher Augenblick, ein Reifen blockierte – das Auto war ins Schleudern geraten und wie ein Stück Blech im Regen über den Asphalt gerutscht.
Der 'falsche Augenblick' hat mich etwas rausgerissen. Haben die ihm das wirklich so gesagt? Es gibt ja eigentlich auch keinen 'richtigen' Augenblick, oder? Zumindest im Kontext eines Unfalls. Vielleicht müsstest Du das etwas genauer machen oder den Augenblick einfach weglassen.

Das Bild verschwand, als John ihm sanft an die Schulter stieß.
nicht 'ihm', sondern 'ihn', würde ich sagen.

»In Brooklyn. Bei einem anderen Truckstop. Wenn wir es beide machen, springt mehr dabei heraus – eine Minute fünfunddreißig! Deshalb bist du heute dabei, damit du weißt, wie es geht.«
Das würde ich killen, ist so erklärend. Timmy dürfte wissen, warum er dabei ist, sein Bruder hat ihm das bestimmt vorher schon kurz erklärt, oder erfährt er es tatsächlich erst hier? Finde, das könnte entsprechend raus.

Der hagere Angestellte warf den beiden Jungen einen Blick zu, der länger hielt, als angenehm war, und schüttete zwei Becher aus einer Thermoskanne ein.
Hier könntest Du den unangenehmen Blick des Angestellten etwas stärker wirken lassen, indem Du das nicht so direkt hinschreibst, sondern die Situation einfach wirken lässt. Also bspw.: Der hagere Angestellte musterte die beiden verkniffen, schüttete zwei Becher aus einer Thermoskanne ein. Timmy strich den Schweiss an seinen Händen an den Jeans ab. Irgendwie so in diese Richtung, fände ich das stärker.

Draußen prasselten die ersten Regentropfen gegen die Scheiben, liefen in dünnen Adern hinab
Der Regen zog Schleier durch die Scheinwerfer der parkenden Trucks.
Schön! Sehr atmosphärisch, hat mir gut gefallen. Hier ist es dann fast etwas zu viel:
Die Neonröhre über der Theke summte nervös, als würde auch sie sich sträuben, in diesem vergessenen Ort weiterzuleuchten.
Du hast vorher gut klar gemacht, dass der Truckstop bisschen aus der Zeit gefallen ist, da braucht es solche Anhängsel dann gar nicht mehr, finde ich.

Fremde auf fremdem Terrain.
Das klingt gut, ist aber meiner Meinung nach nicht ganz treffend formuliert. Worauf bezieht sich das 'Fremde'? Sie sind ja nicht sich selbst fremd, es liest sich hier jedoch für mich so. Also bspw. Kinder in fremdem Terrain oder sowas, das wäre schlüssiger.

Die Heißgetränke die bereitstanden, kaum dass sie bestellt waren, dachte Timmy, während er sein letztes Geld aus der Hosentasche kramte, es auf den Tresen legte und abzählte.
Hier verstehe ich nicht recht, warum er das denkt, bzw. klingt es auch nicht so, als wären das wirklich seine Gedanken (es müsste für mich z.B. lauten: Der hat uns die Kakaos aber rasch hingestellt, dachte Timmy -> nur als Verdeutlichung, was ich damit meine). Würde ihn direkt handeln lassen: Timmy kramte sein Geld aus der Hosentasche, legte es auf den Tresen und zählte ab.

»Wie?«, fragte Timmy. »Was soll das bedeuten?«
»Es ist doppeldeutig gemeint. Billy steht nicht im Leerlauf. Car Idling bedeutet den Motor laufen lassen. Also: Motor aus, wenn du nicht fährst! So ungefähr ist das gemeint. – Er kommt zurück!«
Das hier ist auch eine dieser Dialogstellen, wo es sich für mich liest, als ginge es rein darum, dem Leser diese Kampagne näherzubringen, bzw. zu erläutern, was sich hinter deren Titel verbirgt. Lass das doch etwas mehr im Dunkeln, das wäre interessanter, wenn man sich zuerst fragt, warum filmen die beiden Brüder da überhaupt, was hat es damit auf sich? Ich weiss, unter der ersten Fassung gab es Kommentare, wo angemerkt wurde, dass man das nicht sofort schnallt, aber ich finde, jetzt ist es zu sehr 'on the nose'.

Jeder Muskel gespannt
angespannt?

Ihre Schuhe spritzten Wasser auf, das in die Ritzen der Pflastersteine rann.
Das ist ein sehr spezifisches Detail, dass mich etwas aus dem Flow gehauen hat, weil wir folgen hier Timmy und John, wie sie vor dem Fahrer flüchten, wieso hat der Erzähler Zeit zuzusehen, wie Wasser in Ritzen zwischen den Pflastersteinen rinnt?

Die Schatten überschlugen sich.
Da kann ich mir nicht direkt etwas drunter vorstellen. Es wirkt auch ein wenig drüber. Was möchtest Du hier mit dieser Stelle aussagen? Soll es rein die Hektik beschreiben? Das gelingt hier aber nicht wirklich, finde ich, vielleicht einfach rausnehmen? Aber klar, ist nur meine Lesart.

Der Regen setzte nun stark ein, peitschte quer über den Parkplatz, prasselte auf den Asphalt, der wie eine schwarze Spiegelplatte glänzte.
Die schwarze Spiegelplatte liest sich auch sehr schön, bin mir aber bisschen unsicher, ob's so gut zu Asphalt passt. Vielleicht zu pingelig, das Bild an sich hat mir jedenfalls gut gefallen!

Der Fahrer krempelte die Ärmel hoch, ballte die Fäuste. »Na, wartet! Euch Schweine krieg ich! Ich weiß, was für ein dreckiges Ding ihr hier abzieht.«
Mmmh, ist das wichtig? Dem Fahrer geht es doch darum, die beiden zu kriegen, da hält er sich vielleicht etwas knapper. Vielleicht kannst Du das ja etwas später bringen, wenn der Fahrer nach den beiden sucht, dass er da dann sowas sagt, das würde für mich etwas besser passen und den Moment der Suche vielleicht sogar etwas bedrohlicher machen.

Keuchend blieben sie hinter einer Hauswand stehen.
Ich weiss, was Du meinst, aber 'hinter' einer Hauswand liest sich etwas befremdlich. Vielleicht blieben sie an einer Hauswand stehen, oder sowas? 'Hinter' liest sich beinahe so, als wären sie im Haus, zu der diese Wand gehört, aber es kann wiederum sein, dass dies nur meine Lesart ist.

Am Himmel, pechschwarz von Wolken, blitzte für Sekunden grelles Licht, das den Truckfahrer wie eine Silhouette aus einem Fiebertraum erscheinen ließ.
Die Gestalt des Truckers, muskulös und breit wie eine Mauer, war mehr Tier als Mensch. Er war kein Erwachsener, der bloß böse schimpft. Er war eine Gefahr. Eine Gefahr, die die Hände in die Hüften stützte und sich umsah.
Hier lässt Du den Fahrer schön bedrohlich wirken, aus Sicht der Jungen scheint das auch stimmig, wenn ich auch das mit dem Fiebertraum beinahe etwas drüber empfinde. Was mich hier aber ein wenig gestört hat, ist dieses direkte Auflösen der Gefahr: Eine Gefahr, die die Hände in die Hüften stützte und sich umsah. Das klingt im Vergleich sehr rational, nimmt dieser Passage direkt den aufgebauten Drive, die Wirkung verpufft. Die Gestalt des Truckers, muskulös und breit wie eine Mauer, war mehr Tier als Mensch. Er war kein Erwachsener, der bloß böse schimpfte. Er war eine Gefahr! Vielleicht eher sowas, das macht es unmittelbarer. 'schimpfen' dann auch noch in die Vergangenheitsform abändern, oder sehe ich was nicht?

süßlich-fremden Geruch von Medikamenten
Ich kriege süsslichen Geruch nicht mit Medikamenten zusammen. Vielleicht fällt Dir was Passenderes ein.

Er saß im Stuhl vor der Tür, die Knie angezogen, und lauschte den Stimmen der Ärzte. Viele Wörter verstand er nicht – aber ihre Stimmen klangen wie Donner, unheilvoll und schwer.
Der Vergleich hier passt für mich ebenfalls nicht recht: Die Stimmen der Ärzte sind bestimmt eher gedämpft, vielleicht durch die Tür, aber ich habe hier den Donner sofort akustisch verknüpft, deshalb bin ich gestolpert. Klar, es sind die Worte, die Timmy versteht, die den Donner in ihm auslösen, er hat Angst um seine Mutter, trotzdem finde ich das etwas unglücklich formuliert.

»Du wolltest doch, dass ich filme!« Seine Stimme überschlug sich. Er hob die Schultern, schob John weg. »Immer soll ich schuld sein!«
»Die Aufnahmen!« John lief dem Fahrer hinterher, der zum Truck zurückging.
»Die kannst du aus der Cloud runterladen!«, schrie Timmy und lief seinem Bruder nach.
Also die beiden schreien da, Timmys Stimme überschlägt sich gar. Davon kriegt der Truckfahrer so gar nichts mit? Das fand ich sehr seltsam. Der steht doch nur wenige Meter entfernt, findet das Handy, der müsste die beiden doch spätestens jetzt bemerken? Selbst wenn die Geräuschkulisse aufgrund des Wetters relativ laut ist, denke ich.

»Die kannst du aus der Cloud runterladen!«, schrie Timmy und lief seinem Bruder nach.
»Ich habe weder Cloud noch Datensicherung«, sagte John. »Das sind fast neuntausend Dollar! Alles umsonst! Die OP!«
Das sich die beiden in dieser stressigen Situation über Cloud und Datensicherung unterhalten, fand ich dann doch ziemlich abwegig. Das müsstest Du andernorts einbringen, wenn Dir das wichtig ist, denke ich, hier wirkt es aufgrund der Hektik ziemlich deplatziert.

Der Fahrer hielt hinter dem Truck an
Detail: Liest sich, als sitze der Fahrer auf irgendeinem Gefährt, aber der ist ja zu Fuss unterwegs.

Dann legte er das Telefon vor dem Hinterreifen und hastete in die Fahrerkabine.
Ich glaube, der Satz war auch schon in der kurzen Version der Geschichte drin. Bin damals auch gestolpert und jetzt ebenso wieder. Für mich liest sich das ungelenk. Klar, es ist wohl eine Verkürzung von legte das Telefon vor dem Hinterreifen auf den Boden, doch ich stolpere hier wegen dem 'dem'. Meiner Meinung nach müsstest Du das hier ausschreiben, also das mit dem Boden, oder 'den' als Artikel wählen, es impliziert ja nicht, dass er das Handy vor beide Hinterreifen legt.

Der Boden vibrierte bedrohlich unter ihren Füßen, als der Motor des Trucks aufheulte und heißen Dampf aus den wie schwarze Kamine aufragenden Schloten stieß. Das Rauschen des Stillstands erfüllte die Luft, ein monotoner Klang zwischen Gefahr und Verheißung. Der Auspuffqualm zwängte sich trotz des Regens empor, während die Pfützen unruhig zitterten und das Licht der Scheinwerfer in nervösen, zuckenden Reflexen über den Asphalt jagte.
Das finde ich atmosphärisch wieder gut gelungen, aber der unterstrichene Nebensatz ragt da so als erklärendes Element heraus, würde mir überlegen, das zu streichen oder das Rauschen des Stillstands anderweitig zu beschreiben. Eventuell könntest Du auch überlegen, ob es an dieser Stelle nicht ausreicht:
Dann kam das Rauschen des Stillstands, das sich tief in sein Gedächtnis brannte.
Da finde ich es organischer eingefügt.

Der Regen klatschte ihm kalt auf den Nacken; der Boden wirkte wie ein feindlicher, lebendiger Körper.
Das kriege ich nicht recht zusammen. Also dass der Boden wie ein Körper wirken soll. Ein Körper ist doch weich und nicht hart wie Asphalt. Ich glaube, Du brauchst das hier als Übergang zum Krankenhaus, zur Mutter der beiden Jungen, aber das wirkt hier nicht sorgfältig genug eingebettet, auch habe ich mich gefragt, was ein 'feindlicher' Körper sein soll.

Er sah das Auto seiner Mutter über den Asphalt schlittern, klein, wehrlos, ausgeliefert – ganz wie er sich jetzt fühlte.
Auch zu diesem Vergleich möchte ich eine Anmerkung machen: Das Auto seiner Mutter war klein, wehrlos, ausgeliefert. Ich verstehe, was Du meinst, aber sich selbst mit dem Fahrzeug zu vergleichen passt für mich nicht. Wahrscheinlich fühlte sich Timmy im Moment des bevorstehenden Unfalls so: Klein, wehrlos, ausgeliefert. Aber diese Gefühle direkt auf das schlitternde Auto zu beziehen ... Verstehst Du, wie ich das meine?

der Regen trommelte wie Peitschenhiebe auf die Fahrbahn
Eventuell auch etwas dick aufgetragen mit den Peitschenhieben.

während der Dieselgroll zurückkehrte und alle Stimmen verschlang
Welche Stimmen? In diesem Moment sagt ja niemand etwas.

»Ich hab’s gleich!«, presste Timmy hervor, die Finger nach dem eingeklemmten Handy tastend, als müsse er nicht nur das Handy, sondern auch diesen einen Tag zurückholen, an dem alles zerbrochen war.
Die Stelle hat mir sehr gefallen. Du hast das hier gut verknüpft, die momentane Situation und die Umstände, dass die Mutter schwer verletzt im Krankenhaus liegt. Sowieso gefällt mir das Ende sehr gut, wie schon zuvor geschrieben.

Ich glaube, die erste Version des Textes war weniger erklärend und so im Nachhinein würde ich sagen, auch wenn das vielleicht zuerst etwas verwirrend war, fand ich das besser, den Fokus nicht so stark auf Erklärungen zu der Kampagne zu legen. Nichtsdestotrotz habe ich auch diese überarbeitete Version gerne gelesen und bin gut durch den Text gekommen, meine Anmerkungen sind nur Details, ein wenig Feinschliff.

Beste Grüsse,
d-m

 

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