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Das Schicksal vom Wölfeberg
Das Schicksal vom Wölfeberg [überarbeitet]
Obwohl Joulina in der Stadt geboren war, liebte sie das Hochgebirge von Kindesbeinen an. Als ihr Onkel sie einmal mit auf eine Jagd genommen hatte, konnte dem Mädchen niemand mehr die Faszination streitig machen, welche die Natur auf sie ausübte. Sogar in jener Nacht, als der Mond groß und in seiner vollen Pracht zu Erden sah, marschierte sie, den Rücken wohlbelastet, durch die Täler. "Es muss sein", sagte sie mit resolutem Nachdruck, "heute Nacht, oder gar nie mehr. Ich kann ihn nicht im Stich lassen." Die Freunde wechselten besorgte Blicke, doch schwiegen sie. Hatte sich Joulina etwas in den Kopf gesetzt, hielt sie nichts zurück.
Nur noch hundert Schritt, und sie hatte den "Wölfeberg" bezwungen. Er nahm eine regelrechte Schlüsselrolle ein in ihrer Familie, und das, so sagte man, schon seit vielen Generationen. Er barg ein sonderbares Geheimnis, das sie hüteten wie einen holden Schatz. Joulina fühlte ihr Herz nicht nur wegen der Anstrengung bis in den Hals hämmern, während sie festen Schrittes den Berg erklomm.
Endlich stand sie auf der Lichtung des Gipfels, der gar nicht zu den höchsten gehörte. Trotzdem gab es hier oben nur spärliches Grün hie und da, und die paar Tannen einige Fuß tiefer.
Sie nahm ihren Rucksack von den Schultern und warf ihn ins Gras. Ging wieder hinunter in das angrenzende Wäldchen und sammelte Holz, das sie zu einem sperrigen Paket schnürte.
Glücklicherweise lag der letzte Regen einige Zeit zurück, so war das Holz trocken und das Feuermachen nicht weiter schwierig. Trotzdem legte Joulina noch nach, während sie durch das Licht in die Dunkelheit spähte. Nichts war zu sehen und eine beklemmende Stille lag ihr in den Ohren wie Pfropfen.
Das hieß wohl, dass sie es versuchen musste; lange warten wollte und konnte sie nicht. Sie atmete tief, um das Zwerchfell zu lockern, und massierte ihre Kiefer. Aus einem Fläschchen mit öliger Essenz tat sie einen Schluck zum Gurgeln. Dann schüttelte sich Joulina vor Ekel, setzte sich zurecht und...
"Ouu-Ouu-Aouuuuuuuuuuuuuuuh..."
Sie war erstaunt, dass der Ruf gleich beim ersten Mal klappte. Doch nicht die entfernteste Antwort war zu hören. "Schade", seufzte sie, "das habe ich mir eindeutig leichter vorgestellt."
Sollte am Ende doch alles nur ein Hirngespinst sein, bloß ein Märchen, das sich in ihrer Familie - ?
"Du brauchst nicht rufen, wir sind schon hier. Und wir werden dich reißen!"
Erst jetzt sah Joulina den mächtigen Schatten auf der anderen Seite des Feuers, und noch einen kleineren daneben. Ganz heiß wurde ihr bei dem Gedanken, dass es für sie nun kein Zurück mehr gab. Nur in den Arm kneifen könnte sie sich noch, um festzustellen, dass es kein Traum war, sondern die geschotterte Einbahnstraße der Wirklichkeit.
"Ich habe keine Angst vor dir", wollte Joulina ruhig versetzen, "ich weiß genau, wer du bist!" Aber ihre Stimme brach ein und zitterte schwach.
"Ach ja? Wer denn?", keifte es hinter dem Feuer hervor. "Verrate nur deine freche Zunge, indem du irrst."
"Du bist Onkel Sean!", stieß sie aus, da in ihrem Herzen ein Funke Wiedersehensfreude erglomm, doch schnell erstickt ward von der ungekannten Bosheit.
Ein Rasseln ging durch die Kehle des Wolfes. Joulina glaubte, ein scharf aufblitzendes Augenpaar zu sehen, das die Flammen zu scheiden suchte. Langsam verwandelte sich die Spannung von erst in unterschwellige, lauernde Angst.
"Verlasse diesen Ort!", drohte die Stimme, ganz tonlos vor Zorn.
Für einen Augenblick wich all Joulinas Hoffnung. Niemand hatte sie zuvor gewarnt, dass ein Menschenwolf so böse werden konnte. Bisher hatte sie in der Illusion gelebt, dass es sich um eine abenteuerliche, beinah romantische Eigenart ihrer Familie handeln würde, doch nun war da nur noch Angst und die Reue, dass sie in ihrer Sturheit jeden guten Rat abgewiesen hatte. Aber sie dachte wieder nur an sich. Aus der Gewissheit, dass sie schließlich alle Onkel Sean vermissten und um ihn bangten, schöpfte sie Mut und sagte fest: "Nein, du wirst diesen Ort verlassen! Und zwar als Mensch!"
"Herrje, vergisst man in dieser Familie denn nie? Die Frist ist längst vorbei. Einmal vergessen nur, und alles würde in Ordnung."
"Das läuft bereits über zwölf Generationen so. Warum sollte es heute anders sein als all die anderen Male? Möchtest du denn sterben, ohne uns noch einmal zu sehen?"
"Ja, ich will sterben, denn das ist der einzige Weg aus diesem Teufelskreis." Unverwandt starrten die Augen aus den Flammen. "Das Leben eines Wolfes ist alles andere als erstrebenswert. Das solltest du mir glauben, und zwar auf der Stelle, und dann geschwind das Weite suchen."
"Das kann ich nicht, Sean. Was auch immer du mir glauben machen willst, du selbst hast deinem Vorgänger ebenfalls nicht geglaubt. Weißt du überhaupt, wer ich bin?"
Die Stimme grunzte. "Natürlich, Eyleene. Wer sonst solltest du sein?"
"Eyleene ist meine Schwester, ich bin Joulina."
Sie konnte sich den vorwurfsvollen Ton nicht verkneifen.
"Siehst du, du hast uns ja beinah vergessen. Seit zwanzig Jahren bist du nun ein Wolf. Wir sehnen uns so nach deiner Wiederkehr. Doch, wissen wir ja alle, dass auf ewig stets jemand fehlen wird. Einer schickt den anderen und nimmt dafür seine Stelle ein."
"Und du willst die Nächste sein", bemerkte er, und Joulina konnte nicht sagen, ob das wütend oder eher wehmütig klang. Jedenfalls sah sie durch die zitternd züngelnden Flammen, wie der Kopf des Wolfes starr zu Boden blickte.
Einige Augenblicke lang herrschte schweres Schweigen. Dann hob Sean den Kopf und sprach:
"Ich sehe, ich bin zu alt und zu schwach, um deine Uneinsichtigkeit zu brechen. Ich werde mich mit dir vertragen und verlange nur eines. In aller Ausführlichkeit sollst Du mir erzählen, wie unsere Familie damals, vor zweieinhalb Jahrhunderten, in diese abscheuliche Misere geraten ist. Gelingt es dir, so hab Gewähr; du wirst vielleicht allem gewachsen sein, was das Wolfsleben ausmacht. Versagst Du aber und willst nicht heim, dann werden Onkel Sean und Gamma über dich herfallen, solange du uns noch nicht zu wölfisch bist. Für Bergwölfe zählt ferne Verwandtschaft nicht das Gemsenaug'."
Dann tappten Onkel Sean und der andere Wolf - wahrscheinlich dieser Gamma - um das Feuer herum und ließen sich an Joulinas Seite nieder. Sie legten ihre Köpfe auf die Pfoten und schauten abwesend in die Flammen.
Joulina fühlte eine Schlinge um den Hals, die sie unerbittlich in den Strudel der Verwandlung riss.
"Es, es begann alles mit einem einsamen, sehr einsamen jungen Schäfer", setzte Joulina an und fühlte, wie alles Wissen ihrem Kopf entschlüpfte wie Fischbeute einem löchrigen Netz. "Eines Tages kam eine hungrige Wölfin, die von ihrem Rudel ausgestoßen wurde. Beim Hirten, der sich freundlich und hingebungsvoll um sie sorgte, genas sie schnell. Ihr opferte er ein ganzes Schaf, und als dessen Fleisch alt wurde, sogar noch ein zweites..."
Langsam kam Joulina ins Erzählen und wurde lebhafter. Sie selbst war aufgeblüht, als sie all das erfuhr und verstand, was an ihr und ihrer ganzen Familie so Besonderes war: das bisschen Wolfsblut in ihren Adern.
Dann und wann zuckten ihr Onkel und sein Begleiter mit den Ohren, womit sie ihr Aufmerksamkeit bezeigten, während ihre Blicke, wie auch Joulinas, ins Feuer gerichtet waren.
Sie erzählte, während bereits ihre Haut ergraute, wie der Hirte sich allmählich wünschte, dass die Wölfin Mensch sei. Denn obwohl sie so befreundet waren, lag zwischen ihnen noch immer die Einsamkeit da wie ein reißender Fluss, über welchen es noch keine Brücke gab. "Der Schäfer fragte das Tier eines Oktobertages", sprach sie, "als die Schafe schon im Stall waren:
'Möchtest du Mensch, und meine Frau werden?' Obwohl die Wölfin noch nicht die Menschensprache beherrschte, konnte sie die Frage aus seinem ernsten Gesicht lesen, und antwortete mit ihren Augen voll Treue -"
"Richtige Wolfsohren hast du schon", unterbrach Sean, "und du weißt noch immer nicht, worauf du dich einlässt."
Aber Joulina hörte das nicht, sie war bereits ganz eingenommen von dieser Sage. Sie erzählte den Wölfen vom Freudenschmerz des Schäfers, als er mit der Wölfin vor den wahrhaftigen Abgründen stand, welche ihnen zuraunten:
Ihr versucht, Grenzen zu überschreiten, Grenzen, die ihren Sinn verlieren, ihren Sinn, indem sich darüber hinweg das Schicksal die eigene Hand gibt, das Schicksal, und auf diesem Wege einfach wird, einfach. So haltet an, da Grenzen aus dem eigenen Sinn gebaut, dem eigenen Sinn, so verschwimmen und verbünden sich eure in euch, sie verbünden sich.
Ihr nun begabt euch in die Schuld der wahrhaftigen Abgründe, in die Schuld, so hört auf ihren Rat: Pfleget Euch - die Grenze in sich - hundertvierundvierzig Jahre lang, die Grenze in sich; lasst ihr sie im Lauf dieser Frist entzwei zergehn, dann sehen wir uns wieder, im Laufe dieser Frist.
Das Glimmen wütete in Seans Augen wieder, als er sie abermals unterbrach:
"Du sagst diesen Spruch der in sich vereinten Grenze so daher wie ein Gedicht, das man in der Schule lernt, schön findet und dann wieder vergisst. Aber auch du trägst diese Grenze in dir. Nun, was man in sich trägt, lernt man erfahrungsgemäß von beiden Seiten kennen. Ganz und gar grau und haarig bist geworden, hast Wolfsohren und -augen, deine Finger stülpen ein und deine Schultern klappen nach vorn. Du wirst ganz Wolf, wie wir. Du weißt das, aber du weißt nicht um die Tragweite deiner Entscheidung. Ob deiner grenzenlosen Naivität wirst du an deinen Rang als Omega gefesselt und verdammt sein."
Aber auch Sean hatte sich verändert. Er sah an sich hinunter und ihm ward bewusst, dass sein Plan auf ganzer Linie vereitelt war. Es war nicht sein Tod, durch welchen seine Familie von dem betrügerischen Fluch der wahrhaftigen Abgründe gerettet würde, und sein Leben war nur ein Glied der Kette, die sie alle seit jeher an den Wölfeberg fesselte. Wer weiß, wie lange noch...
"Erzähl' weiter!", fauchte er.
"Da gibt es nicht mehr viel." Sean hatte ihr die Lust am Erzählen verdorben und sowieso war langes Reden nicht von wölfischer Natur. Joulina wollte zu einem Ende kommen.
"Der Schäfer hatte sich den Einfluss der wahrhaftigen Abgründe nicht träumen lassen. Die Wölfin entwickelte sich langsam zu einer Frau und wurde seiner Sprache mächtig.
Drei Tage nach ihrer Hochzeit veränderte sich aber der Schäfer. Er wurde nun zu einem Wolf, und die Frau musste die Kinder allein großziehen.
Eines von ihnen traf ihn später und während es diese Geschichte erzählen musste, wurde der Wolf zum Schäfer und das Kind zum Wolfe. Und so fand das Ende zum Anfang - der Zyklus der Werwölfe hatte sich vollends geschlossen."
Stille. Joulina begutachtete sich und sah, dass ihre Verwandlung abgeschlossen war. Sie bleckte die Zähne, und mit der Zunge strich sie über ihr Taillenfell.
"Dies ist sie wohl", rief Sean, der zu einem graubärtigen, dickbäuchigen Mann geworden war, "die Geschichte, die von ihren eigenen Figuren erzählt wird. Der Zyklus der Werwölfe geht abermals in die nächste Runde. Wird das denn je ein Ende haben?", und er schrie in die Berge hinaus: "Es muss ein Ende haben, es muss! - Joulina, du darfst dich nicht ablösen lassen, und dieser Spuk ist vorbei!"
In den Augen der Wölfin Joulina lag bares Entsetzen, ob dieser Worte und auch, da sie von einem Augenblick zum anderen die Sprache verloren hatte. Bis irgendwann einmal jemand kommen würde, den sie vergeblich versuchen müsste wegzujagen, und noch einmal alles von vorn begänne. Dann würde sie die Sprache wieder erlangen, vor allem aber, um ihrem Nachfolger nur Adé zu sagen.
Sean wusste plötzlich, dass der Fluch noch Jahrhunderte Bestand haben würde, gehalten und gestützt von dem Band, das seine Familie zusammen hält.
Er hievte den Rucksack auf den Rücken und merkte, wie ihm das Tier um die Beine strich. "Geh weg", fauchte Sean, "Geh mit Gamma, der dich zu deinem Rudel führt!"
Diesem strich er zum Abschied nochmal über das Fell, aber dann kehrte er ihnen beiden den Rücken zu und ging hinunter, der Morgendämmerung entgegen.