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Das Schwarz im Wellengang
Die Schalen der Windmesser klackerten wie kaputt. Durchs Dünengras, wehte Sand auf den Strandweg. Distelköpfe hagelten gegen die Scheiben. Aufs Reetdach prasselten Muscheln und kleine Steine.
– Unwetterwarnung: Bis zu hundertsechzig Stundenkilometer ... —
Ich schaltete das Radio aus. Alle fünf Minuten brachten sie es schon.
Adrian saß am Ecktisch am anderen Ende des Zimmers. Während unsere Eltern Mittagsschlaf hielten, vertrieben wir uns im Gemeinschaftsraum die Stunden. Dabei machten wir überhaupt nichts gemeinsam. Ich saß auf der Couch und las Asterix-Comics und Adrian schaute aus dem Fenster, sein aufgeschlagenes Tagebuch und einen angespitzten Bleistift ordentlich vor sich hingelegt.
Nie sah ich, dass er auch nur einen Strich auf eine der dicken Seiten schrieb. Vielleicht wartete er ja auf eine gute Gelegenheit, dachte ich. Oder er sortierte die Wörter zuerst im Kopf, und wenn ich nicht hinschaute, notierte er sie.
Unsere Eltern hatten sich vor etwas über zwei Jahren kennengelernt. Für meine Mutter war es ein Neubeginn, für Adrians Mutter das Ende.
Adrian redete monatelang kein Sterbenswörtchen mit seinem Vater. In dieser Zeit hätte er wirklich, also wirklich dringend einen Freund gebraucht. Wenn jemand versuchte ihn zu trösten, bekam er richtige Wutanfälle. Nachts wälzte er sich unruhig im Bett. Ich wachte über seinen Schlaf. Erst vor ein paar Nächten hatte ich gehört, wie er im Traum zu ihr flüsterte.
Plötzlich stand Adrian von seinem Stuhl auf. Ohne etwas zu sagen, lief er zur Diele rüber und zog sich seine Gummistiefel an.
»Wohin willst du?«, fragte ich, doch da war er schon aus der Tür. Ich legte den Asterix-Comic zur Seite. Ich konnte ja nicht einfach zusehen, wie Adrian in den Sturm ging, der da draußen wütete.
Ich lief zur Garderobe, griff meinen Anorak und verließ das Haus in Richtung Strand.
Der Sturm blähte mir den Anorak auf und warf mir die Kapuze in den Nacken. Sandkörner piksten in meinen Augen. An meinem Gesicht flogen Samenkapseln vorbei, ein Distelblatt streifte meine Wange. Ich sah Adrian, kurz bevor er hinter der nächsten Düne verschwand.
Zum Schutz hielt ich mir einen Arm vors Gesicht. Ich folgte Adrian, so gut es der Sturm zuließ. Einmal atmete ich etwas Sand ein. Ich spuckte aus und schmeckte das Salz auf meinen Lippen.
Mittlerweile hatten wir den Strand erreicht und Adrian lief geradewegs auf den Wellenbrecher zu. Ich sah, wie er auf den Fels stieg, entschlossen, als hätte er ein klares Ziel vor Augen.
Die Wellen warfen turmhohe Schatten. Wassermassen schlugen beidseits aufs Gestein. Mühsam erklomm ich den Damm. Ich rief Adrian bei seinem Namen, doch das Tosen der Brandung verschluckte jeden Laut. Eine breite Wand aus Wasser erhob sich neben mir. Ihr Graugrün war schmutzig und trüb, Algen stiegen darin empor.
Obwohl zwischen Adrian und mir noch mindestens fünf Meter waren, streckte ich meine Hand nach ihm aus. Dann brach die Welle, und schmetterte mich auf die Felsen. An mehr kann ich mich nicht erinnern.
Eigentlich hat uns das Meer überhaupt nicht gewollt. Zwei Tage und eine halbe Nacht versuchte es Adrian loszuwerden. Dann spuckte es ihn endlich auf den Strand. Über dem Wasser hing der bleiche Mond.
Seine Augen waren geschlossen. Zuerst erkannte ich ihn nicht. Die Haut seines Gesichts war schwammig, seine Hände blass und aufgedunsen.
Noch oft habe ich sein Tagebuch durchblättert. Aber nie was gefunden, außer der Zeichnung einer Frau, die von einem Hochhaus springt.