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Das Schweigen
Das Schweigen
Es war ungefähr fünf Uhr Abends. Auf dem Bett liegend erholte ich mich vom anstrengenden Arbeitstag. Ich arbeitete als Strassenkehrer. Alles andere als ein easy Job! Obwohl es in dieser Stadt an Mülleimern nicht fehlte, war es für viele Leute offenbar selbstverständlich, ihren Müll einfach auf der Strasse zu deponieren. Andererseits- wenn sie das nicht täten, wäre ich meinen Job wohl los. Welch ironisches Dasein!
Ich liess das Herumstudieren an Job und Leben und begann in meinem Buch zu lesen. „Das Schweigen“, hiess es. Es handelte von einem Jungen, der taubstumm war. Er wurde von den Jungs aus seiner Klasse verprügelt, da sie ihn für sehr dumm hielten. Am Schluss wurden sie Freunde.
Eigentlich war es ein Kinderbuch. Ich schmetterte es gegen die Wand. Es war 23 Uhr. Und ich lag hier und las Kinderbücher!
Schnell stand ich auf, suchte die Wohnungsschlüssel und verliess die Wohnung. Zu Fuss ging ich zu meiner Lieblingsbar ganz in der Nähe.
Dort angekommen setzte ich mich und der Kellner brachte mir ein Bier und Oliven. Er kannte bereits meine Vorlieben.
Zu dem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass ich an diesem Tag eine wichtige Begegnung machen würde.
Als ich gerade bezahlen wollte, setzte sich ein Mann von etwa vierzig Jahren neben mich und musterte mich aufmerksam. Während ich mein Geld auf den Tisch legte, fragte der Kellner den Mann, was er trinken wolle.
Dieser zeigte auf mein Bierglas. Da der Kellner noch nach der Sorte fragte, zog der Mann ein Kärtchen aus der Tasche. „Ich bin taubstumm“, stand darauf in den verschiedensten Sprachen. Anschliessend zeigte er wieder auf mein leeres Glas. Der Kellner nickte und verschwand.
Ohne zu zögern tippte ich dem Mann auf die Schulter und formulierte lautlos die Frage nach seinem Namen. Wieder zeigte er hilflos auf sein Kärtchen, das immer noch vor ihm lag.
Da er offenbar nicht Lippenlesen konnte, nahm ich Papier und Stift aus meinem Rucksack und schrieb die Frage auf. „Wie heisst du?“ Er lächelte. „Janosch. Und du?“, schrieb er zurück.
Auf diese Art kommunizierten wir eine ganze Weile. Ich erfuhr, dass er im Moment arbeitslos, normalerweise aber als Schriftsteller tätig war. Sein Verlag hatte ihm gekündigt, da der Chef sein letztes Buch als zu pornografisch empfunden hatte. Dabei sei es kein bisschen pornografisch, die Leute dort hätten es nur nicht verstanden, erklärte er mir. Seine offene Art gefiel mir. Ich erzählte ihm, dass ich gerne mal ein Kinderbuch schreiben würde. Ein besseres, als ich heute gelesen habe, fügte ich in Gedanken hinzu. Er nickte anerkennend. Das sei eine Kunst, die oft unterschätzt würde, schrieb er.
Ein Blick auf die Uhr liess mich erschrecken. Am nächsten Tag musste ich arbeiten und es war bereits zwei Uhr morgens. Hastig verabschiedeten wir uns und verabredeten uns fürs Wochenende.
„War schön, dich kennengelernt zu haben“, schrieb ich noch schnell hin. „Ja. Das war Schicksal“, antwortete er. Daran glaubte ich zwar nicht, aber das war schliesslich auch nicht so wichtig. Ich klopfte Janosch noch einmal auf die Schulter und verliess die Bar.
Auf einmal tippte mich von hinten ein Mann an. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Er schien leicht aufgebracht und verärgert. Da entdeckte ich, dass er mein Portemonnaie in der Hand hielt. Ich nahm es entgegen und versuchte zu verstehen, was er sagte. Keine Chance - Seine Lippen bewegten sich viel zu schnell. Entnervt öffnete ich mein Portemonnaie, zog ein Kärtchen heraus und streckte es ihm entgegen. „Ich bin taubstumm.“