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Das Seil
Er hatte den gebückten Gang jener Menschen, die innerlich gebrochen sind. Die Arme vor der Brust verschränkt, die Schultern nach vorne gezogen, die Schritte schwer, als schleppte er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern. Der Mund bewegte sich unentwegt, eine Litanei, klagend und seufzend setzte er einen Schritt vor den anderen, das Seil in seiner linken Hand umklammerte er so fest, dass sich das Muster des derben Materials auf seiner Hand überdeutlich abzeichnete. Ein schales Lächeln zeichnete sich auf seinem ausdruckslosen Gesicht ab, als er die Ironie des Musters auf seiner Haut erkannte.
Seine Gedanken schweiften ab, zurück zu ihr, während sich sein Schritt zunehmend verlangsamte, bis er schließlich inne hielt und den absurden Gedanken eines Lachanfalls mit einer übertriebenen Geste kurzerhand hinunterschluckte. Erinnerungsfetzen krochen in ihm hoch, bahnten sich ihren Weg und hielten kurz Rast an seinem Herzen, um ihm einen tiefen Stich zu versetzen und mündeten schließlich in einen lautlosen Schrei, der die Laternen am Straßenrand kurzzeitig zum Flackern brachte.
Er griff das Seil noch fester und spürte, wie es sich tiefer in seine Haut drückte, bis ein winziger Tropfen Blut mit dem groben Juteseil verschmolz. Versonnen schnüffelte er am spröden Stoff, leckte neugierig an seinem Blut, um anschließend umso entschlossener seinen Schritt wieder aufzunehmen. Der metallene Geschmack auf der Zunge verdrängte für einen Moment alle anderen Wahrnehmungen und verschaffte ihm vorübergehend Linderung, nur so lange, bis ihre Augen sich wieder in seinem Gedächtnis eingebrannt hatten. Der Moment, als sich ein leichter Schleier über sie legte, das Erstaunen in ihrem Blick, die Erkenntnis, dass es hier endete.
Noch einmal wanderten seine Gedanken zurück, wie ein Biograph ging er den Verlauf des Abends in seinem Kopf durch, von dem Moment an, als sie ihm die Tür aufmachte, lasziv lächelnd, ihn beinahe abschätzend taxierte, bevor sie ihn reinließ. Er hatte es immer gehasst, wenn sie diesen Blick aufsetzte, sie wusste um ihre Wirkung auf ihn und ließ keine Gelegenheit aus, ihn bis aufs Blut zu reizen. Dieses Mal konnte er ein leicht irres Kichern nicht unterdrücken, „bis aufs Blut“ klang so pathetisch und traf doch den Kern. Sie hatten Wein getrunken, natürlich Barolo, stilvoll war sie immer gewesen. Ob Kleidung, Möbel oder ihr Makeup, es war ihr immer wichtig gewesen, den konservativen Schein zu wahren.
Er hatte die Häuserreihen schon lange hinter sich gelassen und blickte müde um sich. Er hatte ganz vergessen, wie schön Hannover war. Die Leineauen lagen vor ihm und der Mond tauchte sein Gesicht in ein fahles Licht. Es schien fast so, als zwinkere der treue Trabant ihm zu. Abermals verlangsamte sich sein Schritt, als er eine kleine Brücke erreichte. Beinahe sehnsüchtig schweifte sein Blick über die vereinsamte Landschaft und er atmete tief ein, ehe er mit seiner rechten Hand ungeschickt nach einer Zigarette fingerte.
Er wusste nicht, wann die Stimmung gekippt war, aber als sie aus dem Bad wiederkam, hielt sie ein Paar Handschellen in der Hand, mit spitzen Fingern hielt sie ihm die eisernen Armreifen entgegen und er dachte noch, dass es klischeehafter nicht sein könne. Rosa Kunstfell umrahmte den Stahl und er musste ein müdes Grinsen unterdrücken. Er begehrte sie und er zögerte nicht eine Sekunde, als sie sich auf das Bett legte und die Arme demonstrativ zur Seite streckte. Behutsam befestigte er die Handschellen an ihren Handgelenken und fixierte sie an den Bettpfosten. Seine Hand strich liebevoll über ihre Wangen und sie gluckste unmerklich, als sie ihn erröten sah.
Die Bilder verschwammen wieder und er lehnte sich über das Brückengeländer, inhalierte den Rauch seiner Zigarette tief ein und merkte, wie ihn eine tiefe Ruhe überkam. Das Juteseil lag jetzt lockerer in seiner Hand, schmeichelte sich fast an ihn und er griff es jetzt mit beiden Händen, während die vor sich hin rauchende Zigarette in seinem Mundwinkel hing. Das ging noch nie gut, dachte er, während sein Auge zu tränen begann. Er verscheuchte den Gedanken und befestigte ein Ende des Seils am Brückengeländer, ging in Gedanken den Knoten noch einmal durch und testete ihn mittels eines festen Rucks. Das morsche Holz knackte leise und weckte Assoziationen, die er am liebsten in den Untiefen seines zerrissenen Geistes verborgen wissen wollte. Wie ein Reh, dachte er, genauso wie ein waidwundes Reh hatte sie ausgesehen.
Er nahm das andere Ende des Seils und begann Schlaufen zu knüpfen, eine nach der anderen, neun insgesamt und bewunderte sein Werk, als er fertig war. Richard wäre stolz auf ihn, dachte er und betrachtete die Schlinge genauer. Er stieg über das Brückengeländer und band sich die Schlinge um den Hals. Er blickte nach Osten und sah, dass langsam die Sonne aufging. Er zögerte nicht eine Sekunde und sprang, nur ein trockenes Knacken ertönte, als sein Genick brach. Er merkte nicht mehr, wie die Vögel ihre morgendliche Balz begannen und er langsam im Licht der aufgehenden Sonne hin und her baumelte.