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Das Sonnenwunder
„Ich wollte schon immer am Meer leben. Wo ich herkomme ist nur Wüste. Ich habe mich eingesperrt gefühlt.“
„Und warum bist du nicht im Süden geblieben? Wieso bist du nicht irgendwohin gefahren, wo die Winter nicht so stürmisch sind wie hier?“
„Es hat mich hergezogen. Das Meer hat nach mir gerufen, Milagro. Dein Herz hat mich gerufen.“
Julián traute sich kaum, den Balkon zu betreten. Seit er und Milagro sich in der letzten Nacht am Strand über den Weg gelaufen waren, hatte es keinen Streit zwischen ihnen gegeben und das war rekordverdächtig. Den ganzen Tag über hatte er daran denken müssen, wie schön sie ihm im Mondlicht vorgekommen war. Ihre Haut hatte geschimmert wie Alabaster.
Er redete sich ein, dass er nur geblieben war, damit ihr nichts passierte. Was wäre er für ein Mann, wenn er eine Frau mitten in der Nacht an einem einsamen Strand alleine gelassen hätte? Hatte es nicht erst vor ein paar Wochen einen Artikel darüber gegeben, dass einige Haie sich in Küstennähe verirrt hatten? Und müsste jemand wie Milagro, die sich mit dem Meer und allem, was dazu gehörte, auskannte wie keine andere, nicht wissen, dass diese Tiere bei Nacht besonders aktiv waren?
Leichtsinnig hatte er sie genannt, als sie in gefragt hatte, warum er nicht ins Wasser ging. In Wirklichkeit hatte er nur schwer dem Drang widerstehen können, ihr zu folgen. Wenn er ganz ehrlich war, musste er zugeben, dass er nicht nur am Ufer gesessen hatte, um aufzupassen. Als er sie gesehen hatte, wie sie sich hatte treiben lassen, um den Vollmond und die Sterne zu betrachten, wie sie ihn völlig vergessen hatte, hatte er eine ganz neue Seite an ihr kennen gelernt.
Und wenn er sie jetzt sah, kam es ihm wieder vor, als würde er ein perfektes Kunstwerk betrachten. Ihre Haut hatte wieder den gewohnt goldenen Schimmer, aber das machte sie nicht weniger schön als in der vorherigen Nacht. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, sah er sie mit offenen Haaren. Es gefiel ihm.
Er stellte die zwei Tassen so leise wie möglich auf dem kleinem Tisch ab, aber sie bemerkte ihn trotzdem. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte, bevor sie wieder auf das Meer heraussah. Als er sich setzte, legte sie den Zeigefinger auf ihre Lippen und deutete in den Himmel.
„Ich will auf keinen Fall den Sonnenuntergang verpassen“, sagte sie leise.
Obwohl er nicht wusste, warum es dazu unbedingt still sein musste, schwieg er. Wahrscheinlich war es auch besser so. Er brächte es womöglich noch fertig, etwas zu sagen, was sie reizte und den Abend in einem Streit enden ließe. Bei Milagro wusste er nie so genau, woran er war. Es hatte schon Tage gegeben, an denen ein flüchtiger Blick riesige Diskussionen ausgelöst hatte.
Hätte man ihn noch vor vierundzwanzig Stunden nach ihr gefragt, hätte er, ohne darüber nachdenken zu müssen, geantwortet, dass sie verrückt, zickig und streitsüchtig sei. Für ein wenig verrückt hielt er sie immer noch, kein normaler Mensch ging nachts im Meer schwimmen, aber bei der streitsüchtigen Zicke war er sich nicht mehr so sicher.
„Normalerweise verabschiede ich mich am Strand von ihr, da ist es nicht so laut“, flüsterte sie.
„Von wem verabschiedest du dich?“
„Von der Sonne natürlich!“ Sie lachte, als hätte er ihr keine dümmere Frage stellen können. „Das mache ich jeden Abend. Und morgens begrüße ich sie.“
„Und was hat das mit der Lautstärke zu tun?“
„Durch die Strasse hier unten kann ich nicht richtig verstehen, was sie sagt.“
„Die Sonne?“
„Natürlich. Hast du dich noch nie mit ihr unterhalten?“
„Nein...“
„Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Komm' her, stell' dich neben mich und schließ' die Augen. Sie singt gerade.“
„Wer singt?“
Ohne zu antworten, zog Milagro ihn von seinem Platz hoch. Er tat ihr den Gefallen und schloss die Augen, aber außer des Straßenlärms konnte er beim besten Willen nichts hören.
„Achte nicht auf die Autos oder die Menschen. Konzentrier' dich nur auf sie. Hörst du sie?“
Er hörte sie nicht. Aber Milagro schien so überzeugt von diesem Gesang zu sein, dass er ihr zuliebe nickte.
„Findest du nicht auch, dass sie eine wunderschöne Stimme hat?“, fragte Milagro fast ehrfürchtig.
Vielleicht machte sie sich ja lustig über ihn. Zuzutrauen wäre es ihr. Julián öffnete langsam die Augen und betrachtete sie misstrauisch. Sie konzentrierte sich anscheinend auf das Lied, das niemand außer ihr hören konnte, und hatte, wie schon in der letzten Nacht, alles um sich herum vergessen.
Julián hörte dafür etwas anderes als er sie ansah.
Er wich erschrocken zur Seite. Es war das gleiche Flüstern, das ihn vor einem Jahr hergezogen hatte. An diesen Strand, in diese Stadt. Sein Name, leise, wie ein Herzschlag.
Nervös griff er nach seiner Zigarettenschachtel, die auf dem Tisch lag. Er hatte versucht sich einzureden, dass es dieses Flüstern nie gegeben hatte, dass er nur aus Zufall hier gelandet war, und plötzlich hörte er es wieder.
„Du... du unterhältst dich also oft mit der Sonne?“, brachte er heiser heraus, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte.
„Jeden Morgen und Abend gehe ich an den Strand, um mich zu bedanken. So wie mein Vater es immer gemacht hat.“
„Wofür bedanken?“
„Dass ich lebe.“
„Ah.“ Er setzte sich wieder. Anscheinend lag Wahnsinn bei ihr in der Familie.
„Ich bin im Meer gezeugt worden, bei Sonnenuntergang. Von dem Tag an, an dem meine Mutter erfahren hatte, sie könne keine Kinder bekommen, hat der Himmel geweint. Bis zu dem Tag, an dem meine Eltern an den Strand gegangen sind. Beim Schwimmen haben sie dem Funkeln in ihren Augen nachgegeben. Ich bin ein Geschenk, das die untergehende Sonne und das Meer meiner Mutter gemacht haben. Deswegen auch mein Name. Ich war ihr Wunder. Auch, wenn sie bei meiner Geburt den Preis dafür bezahlen musste.“
Julián wusste nicht, was ihn mehr überraschte. Die Geschichte, die ein Vater seiner kleinen Tochter offensichtlich erzählt hatte, um ihr den Schmerz, ohne Mutter aufwachsen zu müssen, erträglicher zu machen, oder die Tatsache, dass er selber fast daran glaubte.
„Hältst du mich jetzt für verrückt?“, fragte sie.
„Nein.“ Das hatte er schon immer von ihr gedacht.
„Es wäre mir auch egal.“ Sie zog ihr Tuch fester um ihre Schultern und sah ihn an. Nicht die kleinste Spur von Feindseligkeit lag in ihrem Tonfall oder ihrem Blick. Er genoss es, so lange es noch anhielt.
Wieso war ihm noch nie aufgefallen, dass ihre Augen die Farbe des Meeres hatten und auch genauso tief zu sein schienen?
„Ich sollte gehen“, flüsterte sie und blickte auf die Tassen, die er herausgebracht hatte. „Tut mir leid, wenn du dir meinetwegen Umstände gemacht hast.“
„Du willst schon gehen?“ Nur mit Mühe schaffte er es, die Panik in seiner Stimme zu unterdrücken. „Willst du nicht wenigstens noch deinen Kaffee trinken?“
„Ein anderes Mal. Weißt du, ich finde es toll, wenn wir uns nicht streiten.“
Er nickte, und obwohl er sie am liebsten daran gehindert hätte zu gehen, tat er es nicht.
Julián trank seinen Kaffe aus und strich sich müde über die Augen. Die letzten Stunden hatte er an Milagros unsinnige Geschichte denken müssen. Und an das Flüstern, das in ihrer Nähe so plötzlich wieder aufgetaucht war.
Vielleicht war es aber auch die ganze Zeit über da gewesen. Vielleicht war es einfach in den ständigen Streitereien untergegangen.
Schnell verwarf er den Gedanken wieder. Das war doch vollkommen verrückt. Milagro war vollkommen verrückt.
Er hatte jetzt schon die zweite schlaflose Nacht ihretwegen hinter sich und das machte sich bemerkbar. Seine Augen brannten, er spürte jeden einzelnen seiner Knochen und sein Kopf fühlte sich an, als würde jemand darauf einhämmern. Außerdem war er fast soweit, an Sachen zu glauben, über die er vor einem Jahr noch gelacht hätte.
Julián sah auf seine Uhr. Es wurde Zeit, wenn er nicht zu spät zur Arbeit kommen wollte. Bevor er sich umdrehte, um wieder reinzugehen, strich er über die Stelle des Balkongeländers, an der Milagros Hände geruht hatten, und lächelte. An der Tür sah er in den Himmel und blinzelte in die Sonne.
„Danke“, flüsterte er. Und als er weiterging, kam es ihm vor, als würde jemand in der Ferne singen.