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Das Tal der Adiron
Durch hundert Risse im Himmel zwängte sich das Wasser, formte sich im Sturz zu Tropfen und zerplatzte im Talkessel unter ihm auf Blumen aus Lehm und Holz.
Die Adiron erwachten langsam aus ihrem traumlosen Schlaf, während sich das Dunkelblau über ihren Dächern entfärbte bis es zu einem zarten Cyan erbleicht war, das in der Wärme der aufgehenden Sonne verdampfte.
Auf den steinernen Dorfwegen quoll der Schlamm aus den Ritzen und bildete Pfützen und Rinnsale in den Unebenheiten.
Fenster und Türen wurden geöffnet, um die erfrischende Brise durch die Räume ziehen zu lassen, in denen es nach abgestandener Luft und Nachtschweiß roch.
Einige fröhlich glucksende Kinder stürmten aus den Häusern, gefolgt von verschlafenen Halbwüchsigen, ernsten Erwachsenen und Alten.
Alle hoben sie ihren Blick, bestaunten das sanfte Gelb über ihnen, das von geschwungenen roten und violetten Pinselstrichen durchzogen war.
Traditionell begrüßten sie die Sonne, bedankten sich bei ihr, dass sie den anstrengenden Weg über den weiten Himmel ein weiteres Mal auf sich genommen hatte, um ihnen Licht, Wärme und Wachstum zu spenden.
„Geh, hol Brot”, wurde Lin von seiner Mutter bereits zum zweiten Mal aufgefordert.
Wie jeden Morgen war er berauscht vom Farbenspiel des Sonnenaufgangs, das seine Sinne gefangennahm. Er bildete sich ein ihn sogar riechen zu können, jede Farbe, jede Schattierung für sich.
Für seine Mutter gehörte das begrüßen der Sonne zu den täglichen Pflichten, für die sie eine kurze Zeitspanne eingeplant hatte und die sie nicht zu überschreiten gedachte.
Sie zog ungeduldig an Lins Ärmel.
„Lass’ ihm ein wenig Zeit. Es macht ihn glücklich.“
Lins Vater Liu packte seine Frau sanft an der Schulter und zog sie zurück.
„Nein, nein, er hat keine Zeit. Er muss das Brot holen, damit wir frühstücken können. Wenn wir nicht rechtzeitig fertig werden, kommen wir zu spät zu Ganas Würdigung.“
„Ich hole das Brot.“
„Nein, das ist Lins Aufgabe.“
Liu senkte seinen Blick. Er wusste, dass es sinnlos war, seine Frau Hu zu bitten, Freude vor Pflicht zu stellen. Und wenn er ehrlich war, wollte auch er nicht zu spät zum Gana-Ritual kommen.
„Lin, bitte hol’ das Brot. Die Großeltern sind hungrig“, forderte er seinen Sohn auf.
Lin nickte traurig, hätte er sich doch am liebsten einen Sessel aus dem Haus geholt und die gelbe Scheibe bei ihrer Wanderung gen Westen beobachtet.
Er drehte sich um, schlenderte Richtung Dorfplatz.
„Schnell, schnell!“ Seine Mutter trieb ihn an wie ein alter Feldarbeiter einen jungen.
Lin beschleunigte seinen Schritt und joggte den Weg entlang über die rutschigen Steinplatten.
„Guten Morgen, Lin.“
Ein Mädchen in Lins Alter kam ihm, einen Laib Brot in Händen, entgegen. Ihre Augen glänzten und auf ihren Wangen bildeten sich Grübchen, als sie ihn ansah.
Im Dorf galt sie längst als Lins Freundin und man erwartete, dass er sie zur Frau nahm, sobald die Beiden alt genug dafür waren.
Lin betrachtete die Situation pragmatischer. Es gab wenige Mädchen in seinem Alter und Manna war die Hübscheste von ihnen. Er fand sie nett, aber zu kindlich und schüchtern.
Die Frau seines Begehrens war mit Ma Gong verheiratet, einem stämmigen Feldarbeiter, besessen davon, sein Werkzeug zu polieren und schärfen.
Obwohl Su Gong, im Gegensatz zu Manna, einen kleinen Busen und breitere Hüften hatte, dachte er immer an sie, wenn er mit seiner Freundin schlief.
Was ihn an ihr faszinierte, war ihre Persönlichkeit, die das Positiv seiner pflichtversessenen, freudlosen Mutter war.
„Hallo, Manna.“
Als sie seine gleichgültige Stimme hörte, zogen sich ihre Mundwinkel nach unten.
„Ich bin spät dran“, rechtfertigte sich Lin.
Manna nickte verständnisvoll.
Eine Gruppe Jugendlicher, ein Mädchen und zwei Jungen, passierte die Beiden, wobei sie sich kichernd gegenseitig in die Seiten stießen und etwas von „Eheproblemen“ murmelten.
„Sehen wir uns heute?“
„Ja, gehen wir in den Wald.“
Sie war enttäuscht. In letzter Zeit verbrachte Lin kaum Zeit mit ihr und wenn, dann wollte er nur mit ihr „in den Wald gehen“.
Obwohl die Adiron-Frauen nur ein einziges Mal in ihrem Leben gebären konnten, war ihr Sexualtrieb ihr ganzes Leben lang aktiv.
Deswegen wurde den jungen Männern ab einem bestimmten Alter von ihren Vätern erklärt, wie sie ihre Frauen verwöhnen konnten, denn die Adiron glaubten, dass physischer Genuss wichtig für die körperliche und geistige Gesundheit und das Wohlbefinden war.
Lin hatte seinem Vater aufmerksam gelauscht, in der Hoffnung eines Tages Su Gong verwöhnen zu dürfen.
Bei Manna hatte er sich nie viel Mühe gegeben. Er befahl ihr sich zu bücken, zog ihr die Hose runter und nahm den „Hintereingang ins Paradies“, wie sein Vater es nannte.
Es war streng verboten vor der Hochzeit die Ehe zu vollziehen, aber da Liu als Mann das Bedürfnis seines Sohnes verstand, erzählte er ihm, wie er dieses Verbot unbemerkt umgehen konnte.
Daraufhin war Lin mit Manna in den dichten Wald am Osthang gegangen, in dem es auch am Tag dämmerte.
Nachdem sie sich anfangs geweigert hatte, hatte Lin ihr ein wenig Alkohol zu trinken gegeben, den er vom Vorrat seines Vaters entwendet hatte.
Eine leichte Brise wehte Lin den Geruch von frischem Brot entgegen, als er den kreisrunden Hauptplatz erreichte.
Meister Rens Bäckergehilfen luden bereits die ersten mehlbestäubten Tische wieder auf die Ladefläche der Kutsche.
Die Bäckerei lag früher direkt am Hauptplatz, wurde aber nach regelmäßigen Beschwerden der Bewohner der umliegenden Häuser zur Mühle am Nordhang verlegt.
Man hatte sich über das Gelächter und die zu lauten Unterhaltungen der Bäckerlehrlinge aufgeregt, den Lärm der Holzscheite, wenn sie im Metallofen aufschlugen, das Wiehern und Schnauben der Pferde im anliegenden Stall und vieles mehr.
„Aber euer Brot, das wollt ihr haben!“, hatte Meister Ren damals bei der Versammlung am Hauptplatz wütend gebrüllt.
„Guten Morgen, Lin! Du bist spät dran!“, donnerte ihm Meister Rens Bass entgegen.
Aus seinem Tonfall klang die eitle Kränkung eines Königs.
„Guten Morgen, Meister Ren.“
„Warum bist du so spät? Schmeckt dir mein Brot nicht mehr?“
Ren war als Bäckermeister eine der angesehensten Persönlichkeiten im Dorf. Er beherrschte, nach eigenen Worten, die Brotbackkunst in absoluter Vollkommenheit. Seine Brote waren außen knusprig, aber doch weich, innen saftig und flaumig und in idealem Maß gewürzt.
Es kam vor, dass jemand Ren um eine andere Teigmischung bat, vielleicht salziger, süßer oder sogar bitterer.
Auf des Meisters Gesicht stand jedes Mal das Entsetzen.
Aber nachdem die Banausen der Eitelkeit des ehrenwerten Meisters geschmeichelt und ihre eigene Ignoranz eingestanden hatten, erwies sich Ren als gnädig und buk ihnen das gewünschte Brot. Auch wenn es natürlich nie das gleiche Geschmackserlebnis sein würde, wie der Genuss des ursprünglichen Gebäcks.
„Doch, es schmeckt köstlich, verzeih’ meine Verspätung, ich habe den Sonnenaufgang bewundert.“
Ren machte eine wegwerfende Geste.
„Ach, Sonnenaufgang. Den kannst du doch jeden Tag sehen.“
Ja, und dein Brot kann ich jeden Tag essen, dachte Lin.
Ren drückte mit seinem Daumen auf einen Brotlaib.
„Hier, siehst du. Es ist schon ganz trocken. Hart wie Stein. Damit kannst du höchstens noch eins von Shaos dummen Schafen erschlagen.“
Lin verneigte sich und erwiderte: „Verzeiht mir, Meister Ren. Ich bin nicht würdig zu empfangen mein täglich Brot.“
„Mach’ dich nur lustig, mach’ dich nur lustig!“
Ren warf Lin das Brot mit beiden Händen zu, das der Junge ächzend auffing.
Er verabschiedete sich, nickte einem der Lehrlinge zu, mit dem er befreundet war und machte sich auf den Heimweg.
Lin mochte Meister Ren. Er gehörte zu den wenigen Dorfbewohnern, deren Arbeit auch ihre Leidenschaft war und die sie nicht nur aus biederer Pflichterfüllung erledigten.
Manchmal stand Lin früher auf, um ihn auf seinem Weg zum Hauptplatz zu beobachten.
Da es keine Tiere gab, die kräftig genug waren, um die Kutsche zu ziehen, mussten das die Lehrlinge machen.
An der Front des Wagens war eine Stange in T-Form befestigt. Einem von den Jungen, sie wechselten sich immer ab, wurde ein Geschirr um die Brust gelegt, das mit der Querstange verbunden war und während sich die anderen Beiden gegen den Balken stemmten, zog er daran.
Statt ihnen zu helfen, stand Meister Ren, wie ein römischer Imperator in seinem Streitwagen, am Kutschbock. Anfangs hatte er sie auch mit seiner mächtigen Stimme angetrieben, aber das wurde ihm bald untersagt.
Als Lin ihn das letzte Mal mit der Kutsche fahren sah, saß er mit gebeugtem Rücken und lustloser Miene auf dem Wagen, den Kopf auf die Hand gestützt.
Überhaupt wirkte Meister Ren in letzter Zeit ein wenig freudlos. Gerade bei ihm, der bekannt war für seine neckischen Spitzen und majestätischen Gesten, fiel es den Leuten besonders auf.
Man hatte ihn in den letzten Tagen oft gefragt, ob er krank sei, aber er verneinte immer. Trotzdem, oder gerade deswegen, wurde im Dorf viel über ihn getratscht. Eheprobleme seien die Ursache. Seine Frau verweigere sich ihm.
Als diese bald von den Gerüchten hörte, sprach sie ihren Mann darauf und auf sein Verhalten der letzten Zeit an. Aber der brummte nur eine unverständliche Antwort, drehte sich zur Seite und schloss Augen und Ohren.
Während Lin gemächlich die Straße entlang spazierte, blickte er durch die offenen Türen in die einzelnen Häuser.
Er sah Alte, die jeden Bissen sorgfältig kauten, mit Speichel aufweichten und schließlich mit der Zunge am Gaumen zerrieben.
Die jüngeren Erwachsenen aßen hastiger, schienen bereits an die Arbeit zu denken, während die Jugendlichen gelangweilt kauten und den Kleinsten Brotkrümel aus dem Mund fielen.
Lin beobachtete das Essverhalten der Leute immer mit großem Interesse. Seiner Meinung nach sagte es viel über die Persönlichkeit der Essenden aus.
Er erinnerte sich an eine Familie, die den Brotlaib nicht in Scheiben oder Spalten schnitt, sondern auf der gewölbten Seite mit den Fingern aufriss und das Innere herausriss.
Damals hatte er plötzlich ein bizarres Bild vor Augen gehabt: Er lag selbst auf dem Tisch, als ihm die Bauchdecke aufgerissen wurde und man ihn ausweidete.
Bei dem Gedanken verzog Lin das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
Die Tradition der offenen Türen und der dadurch unwiderstehliche Drang zum Voyeurismus hatte somit auch seine negativen Seiten.
Ursprünglich diente der Brauch einerseits dazu seine Gastfreundschaft zu zeigen und andererseits jedermann erkennen zu lassen, dass man nichts zu verbergen hatte.
Eine Minute entfernt, stand eine wild gestikulierende, aber noch gesichtslose Person auf der Straße.
Lin erkannte sie mühelos als seine Mutter und beschleunigte unwillkürlich seinen Schritt.
„Ich habe dir gesagt, du sollst dich beeilen!“
Mama Hu zog ihren Sohn so plötzlich und hart am Ohr, dass dieser den Brotlaib fallen ließ, woraufhin er geohrfeigt wurde.
„Du bist eine Schande! Eine Schande bist du! Kein Respekt vor den Eltern!“
Sie schlug ihn noch einmal.
Einige Leute standen in den Türrahmen ihrer Häuser und beobachteten die Szene. Ein Junge mit Hasenzähnen kicherte, als Lin geschlagen wurde, woraufhin ihm sein Vater einen leichten Schlag ins Genick gab.
Liu kam aus dem Haus und packte seine Frau von hinten an den Oberarmen.
„Hör’ auf den Jungen zu schlagen, Hu.“
Energisch entwandte sie sich aus seinem Griff.
„Er hat keinen Respekt vor uns! Er denkt immer nur an sich! Wenn er überhaupt denkt! Die Leute sagen mir: ‚Lin ist so faul.’, ‚Lin macht seine Arbeit schlecht.’, ‚Lin starrt immer in den Himmel oder auf den Boden.’. Er wird noch enden wie Shao und Schafe hüten!“
„Hu . . .“, setzte Liu an.
„Nein!“ Mit einer kraftvollen Geste unterband sie seinen Widerspruch, dann ging sie ins Haus.
Liu blickte einzeln die neugierigen Leute an bis diese sich schließlich mit leicht gesenktem Blick und geröteten Wangen in ihr Heim zurückzogen.
„Beeil dich in Zukunft, wenn du das Morgenbrot holst, Lin. Du weißt, deine Mutter ist sehr streng, wenn es um solche Dinge geht.“
Er streichelte seinem Sohn zärtlich über die Wange und hoffte, dass seine Worte und seine Geste so verstanden wurden, wie sie gemeint waren.
Ohne etwas zu erwidern oder erkennen zu lassen, was er von Lius Bemühungen hielt, hob Lin den Brotlaib auf, putzte ihn halbherzig ab und schlich mit wütenden Tränen in den Augen ins Haus.
Liu folgte ihm. Seine Herz hatte einen kleinen Riss bekommen. Der ewige Konflikt seiner Gefühle zwischen seiner Frau und seinem Sohn, hervorgerufen durch das Verständnis beider Seiten ohne sich für eine entscheiden zu können, hatte auf seinem Herz viele kleine Narben hinterlassen.
Die Häuser der Adiron waren Nachbildungen der Sonne, ähnelten aber mehr Feldblumen. Der größte Raum im Zentrum war der Gemeinschaftsraum, in dem die Familien gemeinsam aßen, diskutierten, stritten, lachten und sangen.
Angrenzend, gleich Blütenblättern, die Zimmer der einzelnen Familienmitglieder, in die sie sich hauptsächlich zum Schlafen zurückzogen.
Hu schnitt mit regloser Miene den Brotlaib in Scheiben, nachdem sie zuerst die feuchte, dreckige Unterseite entfernt hatte.
Am runden Tisch in der Mitte des Raums war die gesamte Familie versammelt.
Liu starrte, wie auch sein Sohn, der die harten Blicke von Hus Eltern spürte, nachdenklich auf seinen, noch leeren, Teller.
Sein Vater, der, die Hände im Schoss, neben ihm saß, war seit dem Tod seiner Frau zu einem welken Baum verkümmert, der nicht mehr die Kraft hatte, noch einmal zu erblühen.
Wie die anderen Alten auch, ging er jeden Tag nach dem morgendlichen Ritual am Hauptplatz hinunter zum See. Doch anstatt es den Anderen gleichzutun und mit den Kleinen und Kleinsten im Wasser herumzutollen und dadurch selbst jung zu bleiben, verkroch er sich im Badehaus, in dem sich jeder waschen musste, bevor er in den See stieg.
Das Gebäude unterschied sich von den Wohnhäusern nur darin, dass es ein wenig größer war.
In den Kabinen, die man aus Rücksicht auf die Schüchternen und die Pubertierenden gebaut hatte, stand ein Bottich aus dem man mit einem Schöpfer Wasser in einen Kübel goss, dessen Inhalt man sich dann entweder gleich über den Kopf leerte oder mittels Löffel oder Händen auf der nackten Haut verteilte.
Der Boden des Raums hatte eine leichte Trichterform, in dessen Mitte sich ein Abfluss befand.
Großvater Lu schloss sich immer in einer der Kabinen ein, zog sich aus und setzte sich in den Bottich, in dem er den Großteil des Tages verbrachte und den Geruch von warmem Holz einatmete.
War er wach, dachte er an die gemeinsame Zeit mit seiner Frau, schlief er, träumte er davon.
Ab und zu klopfte jemand an die Tür und erkundigte sich, ob Großvater Lu in Ordnung sei, was dieser meist mit einem verärgerten Grunzen bestätigte.
Man machte sich große Sorgen um den unglücklichen Mann, der unter den Alten großes Ansehen genoss. Früher, lange vor Re, war er lange Jahre der Dorfvorsteher gewesen und hatte durch Bescheidenheit, Weisheit und Einfühlungsvermögen große Zuneigung erworben.
In der Mitte des Tisches stand eine Holzfigur: der Anerù.
Er war ein geschlechtsneutrales Symbol für die Ahnen der Adiron. Gekleidet wie ein einfacher Feldarbeiter beobachtete er die Familien mit den strengen Augen von vier Gesichtern.
Der Anerù kontrollierte, ob die Familie eine angemessene Lebensweise führte, die Mitglieder einander mit Achtung und Liebe begegneten.
Im ganzen Dorf standen Ahnenstatuen in unterschiedlichster Größe: Am Hauptplatz, im Acker, am Dach der Mühle.
Die Anerù waren allgegenwärtig.
Die vier größten standen jeweils auf der Spitze der einzelnen Hänge, gemeißelt aus einem vergessenen Material.
Sie bewachten das Tal, sorgten dafür, dass niemand Fremder eindrang. Und auch, dass keiner der Adiron es verließ.
Da Kinder und Jugendliche bekannt für ihre Neugier waren, wurden sie, kaum das sie gehen konnten, darauf konditioniert, den Aufstieg mit Schmerzen zu assoziieren.
Man nannte das, was jenseits des Tals lag Kìpaa.
Den Kleinen wurde befohlen, den Namen auszusprechen und jedes Mal, wenn sie das taten, drückten ihnen die Eltern die Daumen hart an eine Stelle zwischen Ohr und Kiefer, sodass die Kinder vor Schmerzen aufschrieen.
Dies wurde mehrmals wiederholt, jeden Tag, so lange bis die Kinder allein beim Gedanken an das Wort zusammenzuckten.
In Wirklichkeit wusste niemand mehr, wie das Kìpaa aussah. Es gab nicht einmal Legenden darüber.
Das Kìpaa-Ritual wurde von den Eltern durchgeführt, weil es von ihren Eltern an ihnen vollzogen worden war, genau so wie sie das Begrüßen der Sonne oder das Gana-Ritual am Hauptplatz von ihnen übernommen hatten.
Liu ehrte in einem kurzen Dankesgebet die Ahnen, dann begann die Familie mit dem Frühstück.
Hu zerteilte ihr Brot mit den Fingerspitzen und kaute es hastig, während ihre Augen immer wieder Richtung Straße blickten, um zu sehen, ob schon jemand zum Hauptplatz unterwegs war.
Ihr Mann beeilte sich wie sie mit dem Essen, nur dass seine Gedanken noch bei dem Vorfall vor dem Haus waren.
Die Eltern Hus aßen in demonstrativer Ruhe. Seit Res Wahl zum Dorfvorsteher verweigerten sie, wie auch einige andere Alte, ihre Teilnahme am Gana-Ritual.
Großvater Lu, der ebenfalls selten, wenn auch aus anderen Gründen, am Ritual teilnahm, hob die Brotstücke so langsam zum Mund, als säße er unter Wasser.
Sein Enkel Lin zermahlte das Brot ohne seinen bitteren Geschmack wahrzunehmen. Die öffentliche Demütigung durch seine Mutter hatte ihn in seinem Vorhaben, in den nächsten Tagen das Tal zu verlassen, bestärkt. In seinem Geist plante er schon seit einiger Zeit seinen Fortgang und in Kürze würde sich die seltene Gelegenheit dazu ergeben.
Das Kìpaa-Ritual hatte zwar auch bei ihm Wirkung gezeigt, er umging es aber indem er das, was jenseits des Tals lag, nicht als Kìpaa, sondern als Dòran bezeichnete.
Er hatte das Wort erfunden, es existierte in der Sprache der Adiron nicht. Für Lin bedeutete es Freiheit, womit er unbewusst alles gleichsetzte, was nicht dem Leben im Dorf entsprach, das für ihn das Kìpaa darstellte. Die unzähligen Riten und Bräuche, der Zwang in bestimmte gesellschaftliche Rollen, die das Ansehen bestimmten, die ewiggleichen, durchorganisierten Tagesabläufe, in denen kaum ein individuelles Abweichen möglich war.
„Iss schneller“, zischte Mama Hu, während sie mit ihren Fingerknochen auf den Tisch klopfte.
Ihre Eltern blickten Lin, wieder einmal, leicht verächtlich an. Sie hielten ihn für einen Taugenichts, jemanden der sich weigerte seine Pflichten zu erfüllen, im Gegenzug aber alle Rechte einforderte. Sie gaben seinem Vater dafür die Schuld, den sie als zu sanftmütig empfanden. Seit Liu vor einigen Jahren die Wahl zum Dorfvorsteher gegen Re knapp verloren und sich geweigert hatte, bei der nächsten erneut anzutreten, gaben sie für alle Fehlleistungen Lins ihm die Schuld.
Als er damals um die Hand ihrer Tochter angehalten hatte, hatten sie begeistert zugestimmt, schließlich war er der Sohn des großen Gana Lu und man erwartete sich, dass er seinem Vater, wenn er alt genug dazu war, folgen würde.
Stattdessen war er nun die rechte Hand Res, sein Sekretär, der Mann, der all die Arbeiten erledigte, für die der Gana zu dumm und ungebildet war.
Obwohl Liu im Dorf großes Ansehen genoss, warfen ihm seine Schwiegereltern Charakterschwäche vor.
Er hatte ihre Meinung akzeptiert, wie es seiner demokratischen Denkweise entsprach. Zu seiner Verwunderung hatte das Hus Eltern noch mehr gegen ihn aufgebracht, denn sie hielten seine Akzeptanz für ein Zeichen von Apathie, seines Unwillens seinen Charakter und seine gesellschaftliche Stellung zu verbessern.
Liu fand sich auch damit ab, behandelte die beiden Alten mit dem gleichen ehrlichen Respekt wie seinen Vater, wenn auch mit geringerer Liebe.
Endlich hatten die Drei ihr Frühstück beendet und machten sich auf den Weg zum Hauptplatz.
Bevor sie gingen, fragte Hu ihre Eltern wie jeden Morgen, es war schon fast ein Ritual, ob sie nicht mitkommen wollten, was diese immer verneinten.
Auf der Straße merkte Lin schnell, dass seine Familie zu den ersten gehörte, die sich auf den Weg gemacht hatten.
Er warf seiner Mutter einen zornigen Blick zu, der unerwidert blieb. Sein Vater hatte weiter hinten Pan entdeckt, den obersten Feldarbeiter, der sich auf einem normalen und einem Holzbein fortbewegte, seit es ein ungeschickter Nachwuchsarbeiter geschafft hatte, ihn mit einer Sense so schwer zu verletzen, dass ein Bein unterhalb des Knies amputiert werden musste.
Die Beiden unterhielten sich über das Getreide, spekulierten über mögliche Ernteausfälle, tauschten ihre Meinungen über die jungen und die alten Feldarbeiter aus.
Die morgendliche Prozession bot die ideale Möglichkeit zur Verbreitung von Gerüchten und Nachrichten und so machte auch der Vorfall zwischen Lin und seiner Mutter schnell die Runde.
Bald spürte er die ersten gehässigen und vorwurfsvollen Blicke im Genick, vernahm die ersten Mutmaßungen, Spötteleien und Diskussionen über sich und die Rechtmäßigkeit von Hus Handeln.
Er zog sich in sein Innerstes zurück, starrte nur auf die Steinplatten, auf denen mittlerweile die Erde getrocknet war.
Auf dem Hauptplatz stellten sich die Dorfbewohner in einem mehrreihigen Kreis auf, der nur bei der Tür des Amtshauses geöffnet blieb.
Gana Re ließ sich immer ein wenig Zeit. Er wusste, dass die Leute vor der Arbeit gerne ein wenig miteinander tratschten und auch über das Ritual spekulierten.
Tatsächlich war es eine ziemliche banale Handlung die, dem Brauch gemäß, jeden Morgen durchgeführt wurde.
Der Gana und einer der Arbeiter trafen sich in der Mitte des Platzes, begrüßten einander, dann verbeugte sich der Rangniedrigere und bot dem Anderen an, seine Arbeit zu übernehmen. Der Dorfvorsteher war ursprünglich nicht von körperlicher Tätigkeit befreit, sondern führte die Amtsgeschäfte in seiner Freizeit aus. Da diese Doppelbeanspruchung sehr zeitaufwändig und kraftraubend war, hatte sich der Brauch entwickelt, dass ein Arbeiter, jeder kam einmal dran, dem Gana anbot, für einen Tag seine Arbeit im Feld zu übernehmen.
Wie es sich für einen guten Dorfvorsteher gehörte, bedankte er sich für das Angebot, lehnte es aber ab.
Irgendwann hatte es sich dann eingebürgert, dass der Gana sich ausschließlich seiner Tätigkeit als Dorfvorsteher widmete und auch nach Ende seiner Amtszeit von körperlicher Arbeit verschont blieb. Trotzdem wurde das Ritual weiterhin jeden Tag durchgeführt.
Re hatte eine weitere Neuerung eingeführt und als erster Gana einen Sekretär bestellt, der ihn bei seiner Arbeit unterstützen sollte: Liu.
Das war ein kluger Zug von ihm, denn Liu hatte damals beinah genauso viele Wähler gehabt, wie er selbst, kannte die Feldarbeit aus eigener Erfahrung und war von seinem Vater schon als Jugendlicher auf die, größtenteils administrativen, Tätigkeiten eines Gana vorbereitet worden.
Re hatte gemeinsam mit seinem Halbbruder Ren die Bäckerei geführt, bevor er in Amt und Würden gewählt wurde.
Die Verwandtschaft der Beiden war allen im Dorf bekannt, wurde aber niemals öffentlich angesprochen.
Ren war Bäcker aus Leidenschaft, Re, weil er sich nicht im Acker abquälen wollte.
Während sein Bruder beinah fanatisch mit Teigmischungen und Backzeiten experimentierte, machte er seine Späßchen mit den Lehrlingen oder stahl sich davon und beobachtete die weiblichen Feldarbeiter, betrachtete ihre verschwitzten Körper.
Nachdem er die Leute einen angemessenen Zeitraum miteinander hatte reden lassen, trat Gana Re aus der Tür des Amtshauses und stolzierte auf den Anerù zu.
Hu kicherte aufgeregt wie ein kleines Mädchen und schnatterte irgendetwas Richtung Liu, der von Re persönlich die Erlaubnis hatte, dem Ritual fernzubleiben, es sich aber trotzdem selten entgehen ließ.
Von der anderen Seite sah Manna Lin traurig an, in der Hoffnung, dass er ihren Blick erwiderte und sie in seinen Augen Zuneigung erkennen würde.
Aber ihr Freund bemerkte sie gar nicht, sondern starrte verächtlich seine Mutter von der Seite an, die wie einige andere begeistert applaudierte, als Re sich in alle vier Himmelsrichtungen verneigte.
Auf der Westseite wurde die Menge unruhig. Schließlich trat von dort Su Gong auf den Hauptplatz und bewegte sich provozierend langsam auf Re zu.
An ihrer Miene konnte jeder erkennen, was sie vom Gana hielt.
Er war für sie eine abstoßende Witzfigur, die erbärmliche Karikatur eines Mannes ohne Würde. Nicht selten kam es am Morgen zu einem Streit mit ihrem Mann Ma, wenn sie sich weigerte mitzugehen. Aber wie an vergangenen Tagen hatte sie sich auch an diesem dem Willen ihres Gemahls gebeugt.
Viele im Dorf, nicht nur Männer, hatten Ma gegenüber ihre Verwunderung ausgedrückt, wie er es so lange mit dieser Frau aushielt. Aber Ma winkte jedes Mal ab, sie sei eine gute, liebevolle Frau und er liebe sie sehr. Dass sie manchmal ein wenig temperamentvoll war, störte ihn nicht. Nie hatte man ihn seine Stimme erheben hören. Er saß einfach in Ruhe da, ließ seine Frau ihre wütende Energie aufbrauchen, streichelte ihr dann über das heiße Gesicht und sagte mild lächelnd: „Komm, lass uns gehen.“
Obwohl er ein Mann mittleren Alters war, bezeugte man ihm die Beherrschung und Weisheit, an der es den meisten Alten mangelte.
Lin hatte längst seinen Blick von seiner Mutter abgewandt und starrte nun mit großen Augen und offenem Mund Su Gong an.
Manna bemerkte das und obwohl sie seit langem von seiner Schwärmerei für die ältere Frau wusste, begannen ihre Kiefermuskeln zu arbeiten, als würde sie etwas kauen.
Re verbeugte sich übertrieben höflich und erwartete dann Su Gongs Verneigung und dass sie die rituellen Worte sprach.
Obwohl der Gana selbstsicher grinste und seinen Rücken durchdrückte, dass sich sein kleiner, schlaffer Bauch unter der Kleidung abzeichnete, erkannte Su in seinen Augen ein unsicheres Blitzen.
Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln, das sie einige Sekunden auf ihr Gegenüber wirken ließ, bevor sie das Ritual begann.
Der Grund, warum manche, eigentlich war es eine knappe Mehrheit, der Alten das Gana-Ritual boykottierte, war, dass Re es zur Selbstdarstellung nutzte.
Statt einfach das Ritual herunterzubeten, machte er ein Schauspiel, eine Groteske daraus.
Manchmal wandte er sich von seinem Gegenüber ab, spielte den Beleidigten, ein anderes Mal schrie er den Anderen an: „Wie kannst du nur!“
Einmal warf er sich vor dem Arbeiter auf die Knie, weinte: „Danke! Danke! Danke! Ihr seid so gut zu mir!“
Die Alten meinten, er spucke auf die Gräber der Ahnen, aber die jüngeren sahen es etwas lockerer. Für sie war es ein lustiger Start in einen Tag harter Arbeit.
Einige Alte sahen es genauso. Sie selbst hatten das routinierte Ritual, das sie durch seine Bedeutungslosigkeit, als verspottend empfunden hatten, stets verabscheut, als sie selbst noch jung waren.
„Ein kräftiger Bissen Brot, ein Becher klaren Wassers und ein herzhafter Lacher sind die drei Elemente eines guten Morgens“, hatte einer von ihnen einmal gesagt.
Wie es das Ritual verlangte, bot Su Gong Gana Re an, seine Arbeit im Feld für den Tag zu übernehmen. Irgendwie gelang es ihr, dass sich der formelle Satz wie eine Beleidigung anhörte.
Re war durch ihre offen gezeigte Abneigung ein wenig verunsichert worden, überspielte das, dank seiner Begabung, aber mühelos.
Er legte ihr eine Hand auf die Wange, sah sie an wie ein gerührter Vater seine Tochter und während tatsächlich Tränen aus seinen inneren Augenwinkeln quollen, setzte er zur Erwiderung an, brach ab, blickte mit feuchten Augen die Ahnenstatue neben sich an bis er plötzlich Su Gong packte, umarmte, sein Gesicht in ihrer Schulter vergrub und ruckartig atmend losheulte.
Die Menge applaudierte begeistert, einige grölten Komplimente und Bewunderungsrufe und diejenigen, die Su Gongs überraschtes Gesicht gesehen hatten, lachten herzhaft.
Nachdem Re sie losgelassen hatte und Su Gong mit weiten, energischen Schritten zurück zu ihrem Mann ging, sah sie, dass er schmunzelte. Sie stieß ihn wütend zur Seite, als er die Arme ausbreitete und sie küssen wollte und drängte sich daraufhin durch die lachenden Menschen.
Einige Leute, darunter auch Hu sammelten sich um Gana Re, gratulierten ihm zu seiner gelungenen Vorstellung, schworen: „Ich kann es kaum erwarten, selbst dranzukommen, Meister.“
Re machte mit beiden Händen eine wegwerfende Geste, neigte den Kopf in gespielter Beschämung zur Seite und sagte:
„Ihr seid so gut zu mir.“
Aber nein, nein, er sei so gut zu ihnen, versicherten sie ihm.
Nachdem sich die Menge verlaufen hatte, machte sich Lin auf den Weg nach Norden zu Shao und seinen Schafen, die den Tag damit verbrachten, in der Nähe der Mühle in der Wiese herumzustehen oder –liegen, zu fressen und vor sich hinzudösen.
Lin hatte sich gegen den Willen seiner Familie dafür entschieden Schafhirte zu werden, um so lange mit den Tieren zu arbeiten bis er endlich das Tal verließ.
Schon von weitem sah er, dass Shao unter einem der Schafe lag.
Es war ihm zwar streng untersagt deren Milch zu trinken, trotzdem konnte er selten widerstehen doch ein wenig an den Zitzen zu saugen.
Mehrere Male schon hatte man ihn mit eingetrockneter Milch auf den Wangen ertappt und ihn getadelt. Shao hatte die Anschuldigungen jedes Mal bestritten, da er die Beweise seiner Schuld auf der eigenen Haut nicht gesehen hatte und glaubte, man könne ihm nichts nachweisen.
Doch das traf nur auf das böse Gerücht zu, Shao treibe es mit seinen Schafen. Nie hatte er eine Beziehung mit einer Frau gehabt, da diese sich immer von ihm ferngehalten hatten, einerseits aus Angst ihr Kind würde ebenso schwachsinnig werden wie sein Vater, andererseits war der Schafhirte der am wenigsten geachtete Mann im Dorf, da er seine Tage nur damit verbrachte, gemeinsam mit den Schafe in der Wiese zu liegen, während die meisten Anderen sich im Acker abmühten.
„Hallo, Shao!“
Der zuckte erschrocken zusammen, kam unter dem Schaf hervor. Milch rann sein Kinn hinab, aus hundert Geysiren auf seinem Rücken eruptierte Schweiß.
„Ach, du bist es“, sagte Shao mit noch schreckenshoher Stimme, als er Lin erkannte.
Der grinste ihn an: „Das ist verboten, dummer Shao.“
Dann ging Lin auf die Knie, legte sich unter das Schaf neben Shaos und begann an einer der Zitzen zu saugen.
Sie verbrachten den Vormittag größtenteils schweigend an ein liegendes Schaf gelehnt. Als die Sonne am Zenit stand, kamen die Bäckerlehrlinge und Meister Ren selbst zu ihnen, aßen frisches Brot mit ein wenig Käse und spülten es mit einigen kräftigen Schlucken Schafsmilch hinunter.
Nach dem Essen und einer angemessenen Ruhepause gingen sie wieder zurück in die Backstube.
Am späten Nachmittag kam ein kleiner Junge angelaufen und verkündete, Ona Kong beginne mit dem Winn-Ta-Ritual.
Lin lachte erfreut auf, bedankte sich bei dem Kleinen für die Benachrichtigung und versprach ihm, es Meister Ren und seinen Schülern weiterzusagen.
Das Winn-Tà-Ritual war eine meditative Übung, die es Frauen ermöglichte, ohne Schmerzen zu gebären und dadurch eine stille Geburt zu gewährleisten.
Den Adironfrauen war es verboten, während der Entbindung zu schreien, überhaupt einen Ton von sich zu geben, denn ein Kind sollte nicht mit einem Schmerzensschrei, sondern mit einem freudigen Lachen empfangen werden.
Fing eine Frau trotzdem an zu schreien, wurde ihr ein Stofffetzen in den Mund gesteckt. Schon den kleinen Mädchen wurde die Geschichte von Bai Sang erzählt, der man den Lappen so tief in den Rachen geschoben hatte, dass sie erstickte.
Deswegen sollten sie so früh wie möglich beginnen für das Winn-Ta-Ritual zu üben, denn das könnte auch ihnen passieren, wenn sie zu schreien anfingen.
Der Grund für Lins Freude war weniger die Geburt eines neuen Dorfbewohners, als das darauffolgende Fest.
Denn wenige Stunden nach Beginn der Feier würde das ganze Dorf wie betäubt schlafen, was ihm die Flucht aus dem Tal ermöglichte.
Als die Sonne nur noch ein paar handbreit über dem Westhang stand, machte Lin sich auf den Weg.
Er hatte einen großen Tonkrug mit Wasser, zwei Laib Brot und ein wenig Käse in einen Sack gepackt, den er über die rechte Schulter hing.
Lin war erst am Fuß des Osthangs angekommen, als er den ersten Schluck Wasser zu sich nehmen musste. Er redete sich ein, das Gewicht seines Proviants unterschätzt zu haben, aber eine sanfte Stimme in seinem Kopf fragte ihn, ob es nicht die Angst war, die ihm die Beine schwer machte.
Lin schüttelte energisch den Kopf, schulterte den Beutel und stieg den Hang hinauf.
Im Schatten der Bäume war es recht kühl und der Ausreißer ärgerte sich, dass er vergessen hatte, eine Decke mitzunehmen.
Als er nur noch wenige Schritte von der Spitze entfernt war, legte er eine erneute Pause ein.
Er trank ein wenig Wasser, brach ein Stück von Brot und Käse ab und aß.
Der Krug leerte sich, der Käse schwand.
Lin blickte in das leere Gefäß, sah aber nichts, da es schon dunkel geworden war.
Ich muss zurück ins Dorf. Ohne Wasser komme ich nicht weit, dachte er.
Unten im Dorf: „Es ist schon zu dunkel, um noch einmal auf den Hang hinaufzusteigen. Ich muss es ein andermal noch einmal versuchen.“