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Das Tal der Adiron

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28.11.2005
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Das Tal der Adiron

Durch hundert Risse im Himmel zwängte sich das Wasser, formte sich im Sturz zu Tropfen und zerplatzte im Talkessel unter ihm auf Blumen aus Lehm und Holz.
Die Adiron erwachten langsam aus ihrem traumlosen Schlaf, während sich das Dunkelblau über ihren Dächern entfärbte bis es zu einem zarten Cyan erbleicht war, das in der Wärme der aufgehenden Sonne verdampfte.
Auf den steinernen Dorfwegen quoll der Schlamm aus den Ritzen und bildete Pfützen und Rinnsale in den Unebenheiten.
Fenster und Türen wurden geöffnet, um die erfrischende Brise durch die Räume ziehen zu lassen, in denen es nach abgestandener Luft und Nachtschweiß roch.
Einige fröhlich glucksende Kinder stürmten aus den Häusern, gefolgt von verschlafenen Halbwüchsigen, ernsten Erwachsenen und Alten.
Alle hoben sie ihren Blick, bestaunten das sanfte Gelb über ihnen, das von geschwungenen roten und violetten Pinselstrichen durchzogen war.
Traditionell begrüßten sie die Sonne, bedankten sich bei ihr, dass sie den anstrengenden Weg über den weiten Himmel ein weiteres Mal auf sich genommen hatte, um ihnen Licht, Wärme und Wachstum zu spenden.

„Geh, hol Brot”, wurde Lin von seiner Mutter bereits zum zweiten Mal aufgefordert.
Wie jeden Morgen war er berauscht vom Farbenspiel des Sonnenaufgangs, das seine Sinne gefangennahm. Er bildete sich ein ihn sogar riechen zu können, jede Farbe, jede Schattierung für sich.
Für seine Mutter gehörte das begrüßen der Sonne zu den täglichen Pflichten, für die sie eine kurze Zeitspanne eingeplant hatte und die sie nicht zu überschreiten gedachte.
Sie zog ungeduldig an Lins Ärmel.
„Lass’ ihm ein wenig Zeit. Es macht ihn glücklich.“
Lins Vater Liu packte seine Frau sanft an der Schulter und zog sie zurück.
„Nein, nein, er hat keine Zeit. Er muss das Brot holen, damit wir frühstücken können. Wenn wir nicht rechtzeitig fertig werden, kommen wir zu spät zu Ganas Würdigung.“
„Ich hole das Brot.“
„Nein, das ist Lins Aufgabe.“
Liu senkte seinen Blick. Er wusste, dass es sinnlos war, seine Frau Hu zu bitten, Freude vor Pflicht zu stellen. Und wenn er ehrlich war, wollte auch er nicht zu spät zum Gana-Ritual kommen.
„Lin, bitte hol’ das Brot. Die Großeltern sind hungrig“, forderte er seinen Sohn auf.
Lin nickte traurig, hätte er sich doch am liebsten einen Sessel aus dem Haus geholt und die gelbe Scheibe bei ihrer Wanderung gen Westen beobachtet.
Er drehte sich um, schlenderte Richtung Dorfplatz.
„Schnell, schnell!“ Seine Mutter trieb ihn an wie ein alter Feldarbeiter einen jungen.
Lin beschleunigte seinen Schritt und joggte den Weg entlang über die rutschigen Steinplatten.

„Guten Morgen, Lin.“
Ein Mädchen in Lins Alter kam ihm, einen Laib Brot in Händen, entgegen. Ihre Augen glänzten und auf ihren Wangen bildeten sich Grübchen, als sie ihn ansah.
Im Dorf galt sie längst als Lins Freundin und man erwartete, dass er sie zur Frau nahm, sobald die Beiden alt genug dafür waren.
Lin betrachtete die Situation pragmatischer. Es gab wenige Mädchen in seinem Alter und Manna war die Hübscheste von ihnen. Er fand sie nett, aber zu kindlich und schüchtern.
Die Frau seines Begehrens war mit Ma Gong verheiratet, einem stämmigen Feldarbeiter, besessen davon, sein Werkzeug zu polieren und schärfen.
Obwohl Su Gong, im Gegensatz zu Manna, einen kleinen Busen und breitere Hüften hatte, dachte er immer an sie, wenn er mit seiner Freundin schlief.
Was ihn an ihr faszinierte, war ihre Persönlichkeit, die das Positiv seiner pflichtversessenen, freudlosen Mutter war.
„Hallo, Manna.“
Als sie seine gleichgültige Stimme hörte, zogen sich ihre Mundwinkel nach unten.
„Ich bin spät dran“, rechtfertigte sich Lin.
Manna nickte verständnisvoll.
Eine Gruppe Jugendlicher, ein Mädchen und zwei Jungen, passierte die Beiden, wobei sie sich kichernd gegenseitig in die Seiten stießen und etwas von „Eheproblemen“ murmelten.
„Sehen wir uns heute?“
„Ja, gehen wir in den Wald.“
Sie war enttäuscht. In letzter Zeit verbrachte Lin kaum Zeit mit ihr und wenn, dann wollte er nur mit ihr „in den Wald gehen“.

Obwohl die Adiron-Frauen nur ein einziges Mal in ihrem Leben gebären konnten, war ihr Sexualtrieb ihr ganzes Leben lang aktiv.
Deswegen wurde den jungen Männern ab einem bestimmten Alter von ihren Vätern erklärt, wie sie ihre Frauen verwöhnen konnten, denn die Adiron glaubten, dass physischer Genuss wichtig für die körperliche und geistige Gesundheit und das Wohlbefinden war.
Lin hatte seinem Vater aufmerksam gelauscht, in der Hoffnung eines Tages Su Gong verwöhnen zu dürfen.
Bei Manna hatte er sich nie viel Mühe gegeben. Er befahl ihr sich zu bücken, zog ihr die Hose runter und nahm den „Hintereingang ins Paradies“, wie sein Vater es nannte.
Es war streng verboten vor der Hochzeit die Ehe zu vollziehen, aber da Liu als Mann das Bedürfnis seines Sohnes verstand, erzählte er ihm, wie er dieses Verbot unbemerkt umgehen konnte.
Daraufhin war Lin mit Manna in den dichten Wald am Osthang gegangen, in dem es auch am Tag dämmerte.
Nachdem sie sich anfangs geweigert hatte, hatte Lin ihr ein wenig Alkohol zu trinken gegeben, den er vom Vorrat seines Vaters entwendet hatte.

Eine leichte Brise wehte Lin den Geruch von frischem Brot entgegen, als er den kreisrunden Hauptplatz erreichte.
Meister Rens Bäckergehilfen luden bereits die ersten mehlbestäubten Tische wieder auf die Ladefläche der Kutsche.
Die Bäckerei lag früher direkt am Hauptplatz, wurde aber nach regelmäßigen Beschwerden der Bewohner der umliegenden Häuser zur Mühle am Nordhang verlegt.
Man hatte sich über das Gelächter und die zu lauten Unterhaltungen der Bäckerlehrlinge aufgeregt, den Lärm der Holzscheite, wenn sie im Metallofen aufschlugen, das Wiehern und Schnauben der Pferde im anliegenden Stall und vieles mehr.
„Aber euer Brot, das wollt ihr haben!“, hatte Meister Ren damals bei der Versammlung am Hauptplatz wütend gebrüllt.

„Guten Morgen, Lin! Du bist spät dran!“, donnerte ihm Meister Rens Bass entgegen.
Aus seinem Tonfall klang die eitle Kränkung eines Königs.
„Guten Morgen, Meister Ren.“
„Warum bist du so spät? Schmeckt dir mein Brot nicht mehr?“
Ren war als Bäckermeister eine der angesehensten Persönlichkeiten im Dorf. Er beherrschte, nach eigenen Worten, die Brotbackkunst in absoluter Vollkommenheit. Seine Brote waren außen knusprig, aber doch weich, innen saftig und flaumig und in idealem Maß gewürzt.
Es kam vor, dass jemand Ren um eine andere Teigmischung bat, vielleicht salziger, süßer oder sogar bitterer.
Auf des Meisters Gesicht stand jedes Mal das Entsetzen.
Aber nachdem die Banausen der Eitelkeit des ehrenwerten Meisters geschmeichelt und ihre eigene Ignoranz eingestanden hatten, erwies sich Ren als gnädig und buk ihnen das gewünschte Brot. Auch wenn es natürlich nie das gleiche Geschmackserlebnis sein würde, wie der Genuss des ursprünglichen Gebäcks.
„Doch, es schmeckt köstlich, verzeih’ meine Verspätung, ich habe den Sonnenaufgang bewundert.“
Ren machte eine wegwerfende Geste.
„Ach, Sonnenaufgang. Den kannst du doch jeden Tag sehen.“
Ja, und dein Brot kann ich jeden Tag essen, dachte Lin.
Ren drückte mit seinem Daumen auf einen Brotlaib.
„Hier, siehst du. Es ist schon ganz trocken. Hart wie Stein. Damit kannst du höchstens noch eins von Shaos dummen Schafen erschlagen.“
Lin verneigte sich und erwiderte: „Verzeiht mir, Meister Ren. Ich bin nicht würdig zu empfangen mein täglich Brot.“
„Mach’ dich nur lustig, mach’ dich nur lustig!“
Ren warf Lin das Brot mit beiden Händen zu, das der Junge ächzend auffing.
Er verabschiedete sich, nickte einem der Lehrlinge zu, mit dem er befreundet war und machte sich auf den Heimweg.

Lin mochte Meister Ren. Er gehörte zu den wenigen Dorfbewohnern, deren Arbeit auch ihre Leidenschaft war und die sie nicht nur aus biederer Pflichterfüllung erledigten.
Manchmal stand Lin früher auf, um ihn auf seinem Weg zum Hauptplatz zu beobachten.
Da es keine Tiere gab, die kräftig genug waren, um die Kutsche zu ziehen, mussten das die Lehrlinge machen.
An der Front des Wagens war eine Stange in T-Form befestigt. Einem von den Jungen, sie wechselten sich immer ab, wurde ein Geschirr um die Brust gelegt, das mit der Querstange verbunden war und während sich die anderen Beiden gegen den Balken stemmten, zog er daran.
Statt ihnen zu helfen, stand Meister Ren, wie ein römischer Imperator in seinem Streitwagen, am Kutschbock. Anfangs hatte er sie auch mit seiner mächtigen Stimme angetrieben, aber das wurde ihm bald untersagt.
Als Lin ihn das letzte Mal mit der Kutsche fahren sah, saß er mit gebeugtem Rücken und lustloser Miene auf dem Wagen, den Kopf auf die Hand gestützt.
Überhaupt wirkte Meister Ren in letzter Zeit ein wenig freudlos. Gerade bei ihm, der bekannt war für seine neckischen Spitzen und majestätischen Gesten, fiel es den Leuten besonders auf.
Man hatte ihn in den letzten Tagen oft gefragt, ob er krank sei, aber er verneinte immer. Trotzdem, oder gerade deswegen, wurde im Dorf viel über ihn getratscht. Eheprobleme seien die Ursache. Seine Frau verweigere sich ihm.
Als diese bald von den Gerüchten hörte, sprach sie ihren Mann darauf und auf sein Verhalten der letzten Zeit an. Aber der brummte nur eine unverständliche Antwort, drehte sich zur Seite und schloss Augen und Ohren.

Während Lin gemächlich die Straße entlang spazierte, blickte er durch die offenen Türen in die einzelnen Häuser.
Er sah Alte, die jeden Bissen sorgfältig kauten, mit Speichel aufweichten und schließlich mit der Zunge am Gaumen zerrieben.
Die jüngeren Erwachsenen aßen hastiger, schienen bereits an die Arbeit zu denken, während die Jugendlichen gelangweilt kauten und den Kleinsten Brotkrümel aus dem Mund fielen.
Lin beobachtete das Essverhalten der Leute immer mit großem Interesse. Seiner Meinung nach sagte es viel über die Persönlichkeit der Essenden aus.
Er erinnerte sich an eine Familie, die den Brotlaib nicht in Scheiben oder Spalten schnitt, sondern auf der gewölbten Seite mit den Fingern aufriss und das Innere herausriss.
Damals hatte er plötzlich ein bizarres Bild vor Augen gehabt: Er lag selbst auf dem Tisch, als ihm die Bauchdecke aufgerissen wurde und man ihn ausweidete.
Bei dem Gedanken verzog Lin das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
Die Tradition der offenen Türen und der dadurch unwiderstehliche Drang zum Voyeurismus hatte somit auch seine negativen Seiten.
Ursprünglich diente der Brauch einerseits dazu seine Gastfreundschaft zu zeigen und andererseits jedermann erkennen zu lassen, dass man nichts zu verbergen hatte.
Eine Minute entfernt, stand eine wild gestikulierende, aber noch gesichtslose Person auf der Straße.
Lin erkannte sie mühelos als seine Mutter und beschleunigte unwillkürlich seinen Schritt.

„Ich habe dir gesagt, du sollst dich beeilen!“
Mama Hu zog ihren Sohn so plötzlich und hart am Ohr, dass dieser den Brotlaib fallen ließ, woraufhin er geohrfeigt wurde.
„Du bist eine Schande! Eine Schande bist du! Kein Respekt vor den Eltern!“
Sie schlug ihn noch einmal.
Einige Leute standen in den Türrahmen ihrer Häuser und beobachteten die Szene. Ein Junge mit Hasenzähnen kicherte, als Lin geschlagen wurde, woraufhin ihm sein Vater einen leichten Schlag ins Genick gab.
Liu kam aus dem Haus und packte seine Frau von hinten an den Oberarmen.
„Hör’ auf den Jungen zu schlagen, Hu.“
Energisch entwandte sie sich aus seinem Griff.
„Er hat keinen Respekt vor uns! Er denkt immer nur an sich! Wenn er überhaupt denkt! Die Leute sagen mir: ‚Lin ist so faul.’, ‚Lin macht seine Arbeit schlecht.’, ‚Lin starrt immer in den Himmel oder auf den Boden.’. Er wird noch enden wie Shao und Schafe hüten!“
„Hu . . .“, setzte Liu an.
„Nein!“ Mit einer kraftvollen Geste unterband sie seinen Widerspruch, dann ging sie ins Haus.
Liu blickte einzeln die neugierigen Leute an bis diese sich schließlich mit leicht gesenktem Blick und geröteten Wangen in ihr Heim zurückzogen.
„Beeil dich in Zukunft, wenn du das Morgenbrot holst, Lin. Du weißt, deine Mutter ist sehr streng, wenn es um solche Dinge geht.“
Er streichelte seinem Sohn zärtlich über die Wange und hoffte, dass seine Worte und seine Geste so verstanden wurden, wie sie gemeint waren.
Ohne etwas zu erwidern oder erkennen zu lassen, was er von Lius Bemühungen hielt, hob Lin den Brotlaib auf, putzte ihn halbherzig ab und schlich mit wütenden Tränen in den Augen ins Haus.
Liu folgte ihm. Seine Herz hatte einen kleinen Riss bekommen. Der ewige Konflikt seiner Gefühle zwischen seiner Frau und seinem Sohn, hervorgerufen durch das Verständnis beider Seiten ohne sich für eine entscheiden zu können, hatte auf seinem Herz viele kleine Narben hinterlassen.

Die Häuser der Adiron waren Nachbildungen der Sonne, ähnelten aber mehr Feldblumen. Der größte Raum im Zentrum war der Gemeinschaftsraum, in dem die Familien gemeinsam aßen, diskutierten, stritten, lachten und sangen.
Angrenzend, gleich Blütenblättern, die Zimmer der einzelnen Familienmitglieder, in die sie sich hauptsächlich zum Schlafen zurückzogen.

Hu schnitt mit regloser Miene den Brotlaib in Scheiben, nachdem sie zuerst die feuchte, dreckige Unterseite entfernt hatte.
Am runden Tisch in der Mitte des Raums war die gesamte Familie versammelt.
Liu starrte, wie auch sein Sohn, der die harten Blicke von Hus Eltern spürte, nachdenklich auf seinen, noch leeren, Teller.
Sein Vater, der, die Hände im Schoss, neben ihm saß, war seit dem Tod seiner Frau zu einem welken Baum verkümmert, der nicht mehr die Kraft hatte, noch einmal zu erblühen.
Wie die anderen Alten auch, ging er jeden Tag nach dem morgendlichen Ritual am Hauptplatz hinunter zum See. Doch anstatt es den Anderen gleichzutun und mit den Kleinen und Kleinsten im Wasser herumzutollen und dadurch selbst jung zu bleiben, verkroch er sich im Badehaus, in dem sich jeder waschen musste, bevor er in den See stieg.
Das Gebäude unterschied sich von den Wohnhäusern nur darin, dass es ein wenig größer war.
In den Kabinen, die man aus Rücksicht auf die Schüchternen und die Pubertierenden gebaut hatte, stand ein Bottich aus dem man mit einem Schöpfer Wasser in einen Kübel goss, dessen Inhalt man sich dann entweder gleich über den Kopf leerte oder mittels Löffel oder Händen auf der nackten Haut verteilte.
Der Boden des Raums hatte eine leichte Trichterform, in dessen Mitte sich ein Abfluss befand.
Großvater Lu schloss sich immer in einer der Kabinen ein, zog sich aus und setzte sich in den Bottich, in dem er den Großteil des Tages verbrachte und den Geruch von warmem Holz einatmete.
War er wach, dachte er an die gemeinsame Zeit mit seiner Frau, schlief er, träumte er davon.
Ab und zu klopfte jemand an die Tür und erkundigte sich, ob Großvater Lu in Ordnung sei, was dieser meist mit einem verärgerten Grunzen bestätigte.
Man machte sich große Sorgen um den unglücklichen Mann, der unter den Alten großes Ansehen genoss. Früher, lange vor Re, war er lange Jahre der Dorfvorsteher gewesen und hatte durch Bescheidenheit, Weisheit und Einfühlungsvermögen große Zuneigung erworben.

In der Mitte des Tisches stand eine Holzfigur: der Anerù.
Er war ein geschlechtsneutrales Symbol für die Ahnen der Adiron. Gekleidet wie ein einfacher Feldarbeiter beobachtete er die Familien mit den strengen Augen von vier Gesichtern.
Der Anerù kontrollierte, ob die Familie eine angemessene Lebensweise führte, die Mitglieder einander mit Achtung und Liebe begegneten.
Im ganzen Dorf standen Ahnenstatuen in unterschiedlichster Größe: Am Hauptplatz, im Acker, am Dach der Mühle.
Die Anerù waren allgegenwärtig.
Die vier größten standen jeweils auf der Spitze der einzelnen Hänge, gemeißelt aus einem vergessenen Material.
Sie bewachten das Tal, sorgten dafür, dass niemand Fremder eindrang. Und auch, dass keiner der Adiron es verließ.
Da Kinder und Jugendliche bekannt für ihre Neugier waren, wurden sie, kaum das sie gehen konnten, darauf konditioniert, den Aufstieg mit Schmerzen zu assoziieren.
Man nannte das, was jenseits des Tals lag Kìpaa.
Den Kleinen wurde befohlen, den Namen auszusprechen und jedes Mal, wenn sie das taten, drückten ihnen die Eltern die Daumen hart an eine Stelle zwischen Ohr und Kiefer, sodass die Kinder vor Schmerzen aufschrieen.
Dies wurde mehrmals wiederholt, jeden Tag, so lange bis die Kinder allein beim Gedanken an das Wort zusammenzuckten.
In Wirklichkeit wusste niemand mehr, wie das Kìpaa aussah. Es gab nicht einmal Legenden darüber.
Das Kìpaa-Ritual wurde von den Eltern durchgeführt, weil es von ihren Eltern an ihnen vollzogen worden war, genau so wie sie das Begrüßen der Sonne oder das Gana-Ritual am Hauptplatz von ihnen übernommen hatten.

Liu ehrte in einem kurzen Dankesgebet die Ahnen, dann begann die Familie mit dem Frühstück.
Hu zerteilte ihr Brot mit den Fingerspitzen und kaute es hastig, während ihre Augen immer wieder Richtung Straße blickten, um zu sehen, ob schon jemand zum Hauptplatz unterwegs war.
Ihr Mann beeilte sich wie sie mit dem Essen, nur dass seine Gedanken noch bei dem Vorfall vor dem Haus waren.
Die Eltern Hus aßen in demonstrativer Ruhe. Seit Res Wahl zum Dorfvorsteher verweigerten sie, wie auch einige andere Alte, ihre Teilnahme am Gana-Ritual.
Großvater Lu, der ebenfalls selten, wenn auch aus anderen Gründen, am Ritual teilnahm, hob die Brotstücke so langsam zum Mund, als säße er unter Wasser.
Sein Enkel Lin zermahlte das Brot ohne seinen bitteren Geschmack wahrzunehmen. Die öffentliche Demütigung durch seine Mutter hatte ihn in seinem Vorhaben, in den nächsten Tagen das Tal zu verlassen, bestärkt. In seinem Geist plante er schon seit einiger Zeit seinen Fortgang und in Kürze würde sich die seltene Gelegenheit dazu ergeben.
Das Kìpaa-Ritual hatte zwar auch bei ihm Wirkung gezeigt, er umging es aber indem er das, was jenseits des Tals lag, nicht als Kìpaa, sondern als Dòran bezeichnete.
Er hatte das Wort erfunden, es existierte in der Sprache der Adiron nicht. Für Lin bedeutete es Freiheit, womit er unbewusst alles gleichsetzte, was nicht dem Leben im Dorf entsprach, das für ihn das Kìpaa darstellte. Die unzähligen Riten und Bräuche, der Zwang in bestimmte gesellschaftliche Rollen, die das Ansehen bestimmten, die ewiggleichen, durchorganisierten Tagesabläufe, in denen kaum ein individuelles Abweichen möglich war.

„Iss schneller“, zischte Mama Hu, während sie mit ihren Fingerknochen auf den Tisch klopfte.
Ihre Eltern blickten Lin, wieder einmal, leicht verächtlich an. Sie hielten ihn für einen Taugenichts, jemanden der sich weigerte seine Pflichten zu erfüllen, im Gegenzug aber alle Rechte einforderte. Sie gaben seinem Vater dafür die Schuld, den sie als zu sanftmütig empfanden. Seit Liu vor einigen Jahren die Wahl zum Dorfvorsteher gegen Re knapp verloren und sich geweigert hatte, bei der nächsten erneut anzutreten, gaben sie für alle Fehlleistungen Lins ihm die Schuld.
Als er damals um die Hand ihrer Tochter angehalten hatte, hatten sie begeistert zugestimmt, schließlich war er der Sohn des großen Gana Lu und man erwartete sich, dass er seinem Vater, wenn er alt genug dazu war, folgen würde.
Stattdessen war er nun die rechte Hand Res, sein Sekretär, der Mann, der all die Arbeiten erledigte, für die der Gana zu dumm und ungebildet war.
Obwohl Liu im Dorf großes Ansehen genoss, warfen ihm seine Schwiegereltern Charakterschwäche vor.
Er hatte ihre Meinung akzeptiert, wie es seiner demokratischen Denkweise entsprach. Zu seiner Verwunderung hatte das Hus Eltern noch mehr gegen ihn aufgebracht, denn sie hielten seine Akzeptanz für ein Zeichen von Apathie, seines Unwillens seinen Charakter und seine gesellschaftliche Stellung zu verbessern.
Liu fand sich auch damit ab, behandelte die beiden Alten mit dem gleichen ehrlichen Respekt wie seinen Vater, wenn auch mit geringerer Liebe.
Endlich hatten die Drei ihr Frühstück beendet und machten sich auf den Weg zum Hauptplatz.
Bevor sie gingen, fragte Hu ihre Eltern wie jeden Morgen, es war schon fast ein Ritual, ob sie nicht mitkommen wollten, was diese immer verneinten.

Auf der Straße merkte Lin schnell, dass seine Familie zu den ersten gehörte, die sich auf den Weg gemacht hatten.
Er warf seiner Mutter einen zornigen Blick zu, der unerwidert blieb. Sein Vater hatte weiter hinten Pan entdeckt, den obersten Feldarbeiter, der sich auf einem normalen und einem Holzbein fortbewegte, seit es ein ungeschickter Nachwuchsarbeiter geschafft hatte, ihn mit einer Sense so schwer zu verletzen, dass ein Bein unterhalb des Knies amputiert werden musste.
Die Beiden unterhielten sich über das Getreide, spekulierten über mögliche Ernteausfälle, tauschten ihre Meinungen über die jungen und die alten Feldarbeiter aus.
Die morgendliche Prozession bot die ideale Möglichkeit zur Verbreitung von Gerüchten und Nachrichten und so machte auch der Vorfall zwischen Lin und seiner Mutter schnell die Runde.
Bald spürte er die ersten gehässigen und vorwurfsvollen Blicke im Genick, vernahm die ersten Mutmaßungen, Spötteleien und Diskussionen über sich und die Rechtmäßigkeit von Hus Handeln.
Er zog sich in sein Innerstes zurück, starrte nur auf die Steinplatten, auf denen mittlerweile die Erde getrocknet war.

Auf dem Hauptplatz stellten sich die Dorfbewohner in einem mehrreihigen Kreis auf, der nur bei der Tür des Amtshauses geöffnet blieb.
Gana Re ließ sich immer ein wenig Zeit. Er wusste, dass die Leute vor der Arbeit gerne ein wenig miteinander tratschten und auch über das Ritual spekulierten.
Tatsächlich war es eine ziemliche banale Handlung die, dem Brauch gemäß, jeden Morgen durchgeführt wurde.
Der Gana und einer der Arbeiter trafen sich in der Mitte des Platzes, begrüßten einander, dann verbeugte sich der Rangniedrigere und bot dem Anderen an, seine Arbeit zu übernehmen. Der Dorfvorsteher war ursprünglich nicht von körperlicher Tätigkeit befreit, sondern führte die Amtsgeschäfte in seiner Freizeit aus. Da diese Doppelbeanspruchung sehr zeitaufwändig und kraftraubend war, hatte sich der Brauch entwickelt, dass ein Arbeiter, jeder kam einmal dran, dem Gana anbot, für einen Tag seine Arbeit im Feld zu übernehmen.
Wie es sich für einen guten Dorfvorsteher gehörte, bedankte er sich für das Angebot, lehnte es aber ab.
Irgendwann hatte es sich dann eingebürgert, dass der Gana sich ausschließlich seiner Tätigkeit als Dorfvorsteher widmete und auch nach Ende seiner Amtszeit von körperlicher Arbeit verschont blieb. Trotzdem wurde das Ritual weiterhin jeden Tag durchgeführt.
Re hatte eine weitere Neuerung eingeführt und als erster Gana einen Sekretär bestellt, der ihn bei seiner Arbeit unterstützen sollte: Liu.
Das war ein kluger Zug von ihm, denn Liu hatte damals beinah genauso viele Wähler gehabt, wie er selbst, kannte die Feldarbeit aus eigener Erfahrung und war von seinem Vater schon als Jugendlicher auf die, größtenteils administrativen, Tätigkeiten eines Gana vorbereitet worden.
Re hatte gemeinsam mit seinem Halbbruder Ren die Bäckerei geführt, bevor er in Amt und Würden gewählt wurde.
Die Verwandtschaft der Beiden war allen im Dorf bekannt, wurde aber niemals öffentlich angesprochen.
Ren war Bäcker aus Leidenschaft, Re, weil er sich nicht im Acker abquälen wollte.
Während sein Bruder beinah fanatisch mit Teigmischungen und Backzeiten experimentierte, machte er seine Späßchen mit den Lehrlingen oder stahl sich davon und beobachtete die weiblichen Feldarbeiter, betrachtete ihre verschwitzten Körper.

Nachdem er die Leute einen angemessenen Zeitraum miteinander hatte reden lassen, trat Gana Re aus der Tür des Amtshauses und stolzierte auf den Anerù zu.
Hu kicherte aufgeregt wie ein kleines Mädchen und schnatterte irgendetwas Richtung Liu, der von Re persönlich die Erlaubnis hatte, dem Ritual fernzubleiben, es sich aber trotzdem selten entgehen ließ.
Von der anderen Seite sah Manna Lin traurig an, in der Hoffnung, dass er ihren Blick erwiderte und sie in seinen Augen Zuneigung erkennen würde.
Aber ihr Freund bemerkte sie gar nicht, sondern starrte verächtlich seine Mutter von der Seite an, die wie einige andere begeistert applaudierte, als Re sich in alle vier Himmelsrichtungen verneigte.
Auf der Westseite wurde die Menge unruhig. Schließlich trat von dort Su Gong auf den Hauptplatz und bewegte sich provozierend langsam auf Re zu.
An ihrer Miene konnte jeder erkennen, was sie vom Gana hielt.
Er war für sie eine abstoßende Witzfigur, die erbärmliche Karikatur eines Mannes ohne Würde. Nicht selten kam es am Morgen zu einem Streit mit ihrem Mann Ma, wenn sie sich weigerte mitzugehen. Aber wie an vergangenen Tagen hatte sie sich auch an diesem dem Willen ihres Gemahls gebeugt.
Viele im Dorf, nicht nur Männer, hatten Ma gegenüber ihre Verwunderung ausgedrückt, wie er es so lange mit dieser Frau aushielt. Aber Ma winkte jedes Mal ab, sie sei eine gute, liebevolle Frau und er liebe sie sehr. Dass sie manchmal ein wenig temperamentvoll war, störte ihn nicht. Nie hatte man ihn seine Stimme erheben hören. Er saß einfach in Ruhe da, ließ seine Frau ihre wütende Energie aufbrauchen, streichelte ihr dann über das heiße Gesicht und sagte mild lächelnd: „Komm, lass uns gehen.“
Obwohl er ein Mann mittleren Alters war, bezeugte man ihm die Beherrschung und Weisheit, an der es den meisten Alten mangelte.

Lin hatte längst seinen Blick von seiner Mutter abgewandt und starrte nun mit großen Augen und offenem Mund Su Gong an.
Manna bemerkte das und obwohl sie seit langem von seiner Schwärmerei für die ältere Frau wusste, begannen ihre Kiefermuskeln zu arbeiten, als würde sie etwas kauen.
Re verbeugte sich übertrieben höflich und erwartete dann Su Gongs Verneigung und dass sie die rituellen Worte sprach.
Obwohl der Gana selbstsicher grinste und seinen Rücken durchdrückte, dass sich sein kleiner, schlaffer Bauch unter der Kleidung abzeichnete, erkannte Su in seinen Augen ein unsicheres Blitzen.
Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln, das sie einige Sekunden auf ihr Gegenüber wirken ließ, bevor sie das Ritual begann.

Der Grund, warum manche, eigentlich war es eine knappe Mehrheit, der Alten das Gana-Ritual boykottierte, war, dass Re es zur Selbstdarstellung nutzte.
Statt einfach das Ritual herunterzubeten, machte er ein Schauspiel, eine Groteske daraus.
Manchmal wandte er sich von seinem Gegenüber ab, spielte den Beleidigten, ein anderes Mal schrie er den Anderen an: „Wie kannst du nur!“
Einmal warf er sich vor dem Arbeiter auf die Knie, weinte: „Danke! Danke! Danke! Ihr seid so gut zu mir!“
Die Alten meinten, er spucke auf die Gräber der Ahnen, aber die jüngeren sahen es etwas lockerer. Für sie war es ein lustiger Start in einen Tag harter Arbeit.
Einige Alte sahen es genauso. Sie selbst hatten das routinierte Ritual, das sie durch seine Bedeutungslosigkeit, als verspottend empfunden hatten, stets verabscheut, als sie selbst noch jung waren.
„Ein kräftiger Bissen Brot, ein Becher klaren Wassers und ein herzhafter Lacher sind die drei Elemente eines guten Morgens“, hatte einer von ihnen einmal gesagt.

Wie es das Ritual verlangte, bot Su Gong Gana Re an, seine Arbeit im Feld für den Tag zu übernehmen. Irgendwie gelang es ihr, dass sich der formelle Satz wie eine Beleidigung anhörte.
Re war durch ihre offen gezeigte Abneigung ein wenig verunsichert worden, überspielte das, dank seiner Begabung, aber mühelos.
Er legte ihr eine Hand auf die Wange, sah sie an wie ein gerührter Vater seine Tochter und während tatsächlich Tränen aus seinen inneren Augenwinkeln quollen, setzte er zur Erwiderung an, brach ab, blickte mit feuchten Augen die Ahnenstatue neben sich an bis er plötzlich Su Gong packte, umarmte, sein Gesicht in ihrer Schulter vergrub und ruckartig atmend losheulte.
Die Menge applaudierte begeistert, einige grölten Komplimente und Bewunderungsrufe und diejenigen, die Su Gongs überraschtes Gesicht gesehen hatten, lachten herzhaft.
Nachdem Re sie losgelassen hatte und Su Gong mit weiten, energischen Schritten zurück zu ihrem Mann ging, sah sie, dass er schmunzelte. Sie stieß ihn wütend zur Seite, als er die Arme ausbreitete und sie küssen wollte und drängte sich daraufhin durch die lachenden Menschen.
Einige Leute, darunter auch Hu sammelten sich um Gana Re, gratulierten ihm zu seiner gelungenen Vorstellung, schworen: „Ich kann es kaum erwarten, selbst dranzukommen, Meister.“
Re machte mit beiden Händen eine wegwerfende Geste, neigte den Kopf in gespielter Beschämung zur Seite und sagte:
„Ihr seid so gut zu mir.“
Aber nein, nein, er sei so gut zu ihnen, versicherten sie ihm.

Nachdem sich die Menge verlaufen hatte, machte sich Lin auf den Weg nach Norden zu Shao und seinen Schafen, die den Tag damit verbrachten, in der Nähe der Mühle in der Wiese herumzustehen oder –liegen, zu fressen und vor sich hinzudösen.
Lin hatte sich gegen den Willen seiner Familie dafür entschieden Schafhirte zu werden, um so lange mit den Tieren zu arbeiten bis er endlich das Tal verließ.
Schon von weitem sah er, dass Shao unter einem der Schafe lag.
Es war ihm zwar streng untersagt deren Milch zu trinken, trotzdem konnte er selten widerstehen doch ein wenig an den Zitzen zu saugen.
Mehrere Male schon hatte man ihn mit eingetrockneter Milch auf den Wangen ertappt und ihn getadelt. Shao hatte die Anschuldigungen jedes Mal bestritten, da er die Beweise seiner Schuld auf der eigenen Haut nicht gesehen hatte und glaubte, man könne ihm nichts nachweisen.
Doch das traf nur auf das böse Gerücht zu, Shao treibe es mit seinen Schafen. Nie hatte er eine Beziehung mit einer Frau gehabt, da diese sich immer von ihm ferngehalten hatten, einerseits aus Angst ihr Kind würde ebenso schwachsinnig werden wie sein Vater, andererseits war der Schafhirte der am wenigsten geachtete Mann im Dorf, da er seine Tage nur damit verbrachte, gemeinsam mit den Schafe in der Wiese zu liegen, während die meisten Anderen sich im Acker abmühten.

„Hallo, Shao!“
Der zuckte erschrocken zusammen, kam unter dem Schaf hervor. Milch rann sein Kinn hinab, aus hundert Geysiren auf seinem Rücken eruptierte Schweiß.
„Ach, du bist es“, sagte Shao mit noch schreckenshoher Stimme, als er Lin erkannte.
Der grinste ihn an: „Das ist verboten, dummer Shao.“
Dann ging Lin auf die Knie, legte sich unter das Schaf neben Shaos und begann an einer der Zitzen zu saugen.

Sie verbrachten den Vormittag größtenteils schweigend an ein liegendes Schaf gelehnt. Als die Sonne am Zenit stand, kamen die Bäckerlehrlinge und Meister Ren selbst zu ihnen, aßen frisches Brot mit ein wenig Käse und spülten es mit einigen kräftigen Schlucken Schafsmilch hinunter.
Nach dem Essen und einer angemessenen Ruhepause gingen sie wieder zurück in die Backstube.
Am späten Nachmittag kam ein kleiner Junge angelaufen und verkündete, Ona Kong beginne mit dem Winn-Ta-Ritual.
Lin lachte erfreut auf, bedankte sich bei dem Kleinen für die Benachrichtigung und versprach ihm, es Meister Ren und seinen Schülern weiterzusagen.

Das Winn-Tà-Ritual war eine meditative Übung, die es Frauen ermöglichte, ohne Schmerzen zu gebären und dadurch eine stille Geburt zu gewährleisten.
Den Adironfrauen war es verboten, während der Entbindung zu schreien, überhaupt einen Ton von sich zu geben, denn ein Kind sollte nicht mit einem Schmerzensschrei, sondern mit einem freudigen Lachen empfangen werden.
Fing eine Frau trotzdem an zu schreien, wurde ihr ein Stofffetzen in den Mund gesteckt. Schon den kleinen Mädchen wurde die Geschichte von Bai Sang erzählt, der man den Lappen so tief in den Rachen geschoben hatte, dass sie erstickte.
Deswegen sollten sie so früh wie möglich beginnen für das Winn-Ta-Ritual zu üben, denn das könnte auch ihnen passieren, wenn sie zu schreien anfingen.

Der Grund für Lins Freude war weniger die Geburt eines neuen Dorfbewohners, als das darauffolgende Fest.
Denn wenige Stunden nach Beginn der Feier würde das ganze Dorf wie betäubt schlafen, was ihm die Flucht aus dem Tal ermöglichte.

Als die Sonne nur noch ein paar handbreit über dem Westhang stand, machte Lin sich auf den Weg.
Er hatte einen großen Tonkrug mit Wasser, zwei Laib Brot und ein wenig Käse in einen Sack gepackt, den er über die rechte Schulter hing.

Lin war erst am Fuß des Osthangs angekommen, als er den ersten Schluck Wasser zu sich nehmen musste. Er redete sich ein, das Gewicht seines Proviants unterschätzt zu haben, aber eine sanfte Stimme in seinem Kopf fragte ihn, ob es nicht die Angst war, die ihm die Beine schwer machte.
Lin schüttelte energisch den Kopf, schulterte den Beutel und stieg den Hang hinauf.
Im Schatten der Bäume war es recht kühl und der Ausreißer ärgerte sich, dass er vergessen hatte, eine Decke mitzunehmen.
Als er nur noch wenige Schritte von der Spitze entfernt war, legte er eine erneute Pause ein.
Er trank ein wenig Wasser, brach ein Stück von Brot und Käse ab und aß.
Der Krug leerte sich, der Käse schwand.
Lin blickte in das leere Gefäß, sah aber nichts, da es schon dunkel geworden war.
Ich muss zurück ins Dorf. Ohne Wasser komme ich nicht weit, dachte er.

Unten im Dorf: „Es ist schon zu dunkel, um noch einmal auf den Hang hinaufzusteigen. Ich muss es ein andermal noch einmal versuchen.“

 
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Hallo Miller,
dir ist da wirklich eine sehr interessante Beschreibung einer Dorfkultur gelungen.
Bei mir entstanden während des Lesens Bilder einer an die mittel- und südamerikanischen Hochkulturen angelehnte Gesellschaft, was ich gut finde, da Fantasykulturen, ja immer eher dem mittelalterlichen Europa gleichen.
Hierbei eine Anmerkung zu Rubrik. Handelt es sich wirklich um Fantasy? Klar, nicht existierende Kulturen sind ein Element von Fantasy, sie sind aber z.B. auch eines von Science-Fiction.
Deine Beschreibungen sind sehr detailliert und plastisch und die verschiedenen Charaktere gut getroffen. Mir gefällt, dass im Dorf nicht nur heile Welt herrscht, sondern auch gewisse „Unanständigkeiten“ (liebloser Sex, verbotenes Verlangen, Sodomiegerüchte) zum Dorfleben gehören. Das macht alles noch dreidimensionaler.
Der für mich interessanteste Aspekt der Geschichte war Lins Plan, das Dorf zu verlassen. Er wird allerdings nicht richtig ausgearbeitet. Erst in der Mitte hört man überhaupt davon, dann, glaube ich, noch einmal, und schließlich mündet er in eine für mich zu abrupte und unbefriedigende Auflösung. Warum Lin kehrt macht und ins Dorf zurückkehrt wird mir nicht klar. Hier könntest du sicher noch mehr herausholen.
Ich finde Gana Res Verhalten bei den Gana-Ritualen unpassend. In deinen Schilderungen erscheint das Dorf sehr konservativ und traditionsbewusst. Dass das Dorfoberhaupt diese Traditionen lächerlich macht und dabei auch noch von einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt wird, erscheint mir nicht logisch.

Hier noch ein paar Anmerkungen:

„Geh’, hol’ Brot”,
Bei Imperativen werden meines Wissens keine Apostrophe gesetzt. Dieser Fehler taucht im Text häufiger auf.

…mit den Fingern aufriss und das Innere herausriss.
Zweimal „–riss“ klingt nicht so schön.

Die Häuser der Adiron…
Dieser Absatz erscheint mir etwas eingeschoben. Vielleicht könnte man ihn noch besser im Fließtext verarbeiten.

Früher, lange vor Re, war er lange Jahre der Dorfvorsteher gewesen…
Zweimal „lange“

Endlich hatten die Drei ihr Frühstück beendet…
Man weiß zwar eigentlich wer „die Drei“ sind. Immerhin sitzen aber sechs Personen am Tisch und man könnte es noch expliziter machen.

Re hatte gemeinsam mit seinem Halbbruder Ren die Bäckerei geführt,…
Hier ein Problem, dass auch auf Lin und Liu zurtrifft. Beim schnellen Lesen überlese ich solch ähnliche Namen häufig, was zu Unklarheiten führt. Bis zum obigen Zitat dachte ich z.B., dass der Bäcker auch der Gana sei. Vielleicht geht es aber auch nur mir so.

Unten im Dorf:
Eine etwas knappe Einleitung für wörtliche Rede.

Ich muss es ein andermal noch einmal versuchen.
Zweimal „-mal“

So, das war es, glaube ich. Wie gesagt, eine sehr interessante Geschichte.

Viele Grüße
garwan

 

Hallo Miller,

hm, ich muss gestehen, ich kann mit dem Text nicht so richtig viel anfangen. Du hast dir wirklich Mühe gegeben, eine Dorfgemeinschaft zu schildern, mit allen möglichen Facetten, aber das Gefühl einer Geschichte will dabei bei mir nicht aufkommen.

Vielmehr beschreibst du einfach alle möglichen Personen, und wie sie in beziehung zueinander stehen, und wer wen nicht leiden kann, ohne dabei auf irgendeinen Handlungsstrang zu kommen.
Wenn die misslungene Flucht Lins (ich nehme an, durch die ganze Ritualisierung ist er mehr ans Dorf gebunden, als er sich das eingestehen mag) dein handlungsstrang ist, brauch ich eben keine Beschreibung, wie sein Großvater die Tage im Badehaus verbringt, oder dass der Bäcker nicht mehr in der Stadt sein Brot verkaufen darf, oder dass der Schafhirte Milch stiehlt. Irgendwie ist das alles gut und schön, aber eben keine Geschichte. Es bleibt bei den Beschreibungen, entbehrt einen Spannungsbogen und einen roten Faden im Geschichtenverlauf.
Du ertränkst eben alles in Schilderungen. Dauernd kommen irgendwelche Hinweise, von denen der Leser denkt, dass sie wichtig sind (zum beispiel die Eifersucht Mannas), die dann aber völlig im Sand verlaufen.

Sorry, ich empfand das Ding dann irgendwann als langweilig, weil es eben so zerdröselt ist, und keinen Handlungsstrang enthält. Was schade ist, denn die Kultur, die du da erfunden hast, ist echt ganz interessant.
Allerdings frage ich mich auch, wie die überleben. Wenn jedes Paar nur ein kind in die Welt setzt, werde die dann nicht immer weniger? Die müssten doch aussterben (ganz einfach rechnung: bei jeder Ehe - aus zwei mach eins)

Tja, tut mir leid :(

Liebe Grüße,

Ronja

 

Hallo Miller,
jetzt habe ich seitenweise Beschreibungen eines Dorfes gelesen, aber die Geschichte fehlt mir dabei. Was hältst du davon, wenn du an dieser Stelle noch mal nachlegst und die Story im Text nachlieferst?
Teilweise war es mir wirklich ein bisschen sehr langgezogen. Ich meine - deine Dorfkultur ist ja sehr interessant, aber dieser Text liest sich wie eine Abhandlung darüber, in einem von diesen "Kinder lernen auf möglichst spielerische Art und Weise fremde Kulturen am Beispiel eines ultrakonformistischen Gleichaltrigen kennen"-Büchern oder so. Trotzdem passiert da nichts, was mich dazu motiviert, den Text durchzuhalten. Ich weiß nicht genau, warum ich es trotzdem getan habe - die Tatsache, dass ich nichts anderes zu tun habe wahrscheinlich. Sorry, das klingt jetzt hart, aber wir sind ein Geschichtenforum, keins für Landschaftsbeschreibungen.

gruß
vita
:bounce:

 

Hallo garwan,

Hierbei eine Anmerkung zu Rubrik. Handelt es sich wirklich um Fantasy? Klar, nicht existierende Kulturen sind ein Element von Fantasy, sie sind aber z.B. auch eines von Science-Fiction.

Eine klassische Fantasy-Story ist es nicht, aber ich glaube, sie passt ganz gut hierher. Mit Sci-Fi-Welten assoziere ich eher futuristische Städte voll modernster Technik oder Endzeitwelten.

Ich finde Gana Res Verhalten bei den Gana-Ritualen unpassend. In deinen Schilderungen erscheint das Dorf sehr konservativ und traditionsbewusst. Dass das Dorfoberhaupt diese Traditionen lächerlich macht und dabei auch noch von einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt wird, erscheint mir nicht logisch.

Nein, logisch ist das nicht, aber menschlich. Abgesehen vielleicht von totalitären Regimen, werden Parodien, Satiren usw. auf den Staat, das System usw. seitens der Regierungen akzeptiert, geduldet und von einem Teil des Volks wohlwollend entgegen genommen, während es einem anderen Teil Grund zur Aufregung gibt, was ja nicht für wenige Lebensinhalt ist.
Das geht von politischem Kabarett bis hin zu kritischen Filmen. Ein, nicht ganz optimales, Beispiel ist Hollywood.
Einerseits Propagandamaschine für die amerikanischen Werte und einzelne staatliche Institutionen (Armee, Polizei), andererseits werden diese auch kritisch hinterfragt, was geduldet wird, aufgrund der Verfassung auch geduldet werden muss.
Dass in meiner Geschichte gerade der Dorfvorsteher der ist, der einen bedeutungslosen Brauch ins Lächerliche zieht, um sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, erscheint vielleicht im ersten Moment fragwürdig, aber wenn man sich das Verhalten führender Politiker ansieht, erkennt man doch gewisse Parallelen.

Deine Verbesserungsvorschläge, denen ich größtenteils zustimme, werde ich in den nächsten Tagen übernehmen.

Danke für deine lobenden Worte.


@garwan, Felsenkatze, vita:

Zu eurer Kritik bezüglich Handlung bzw. dem Mangel daran:

Die ursprüngliche Idee war es, einen Jungen zu zeigen, der in einer strengen, ritendurchtränkten Leistungsgesellschaft lebt, der er versucht zu entkommen, ohne zu erkennen, dass nicht nur er unzufrieden mit der Situation ist.

Mein größter Fehler, durch den die anderen erst folgen konnten, war, dass ich die Geschichte kaum ausgearbeitet hatte, bevor ich zum Schreiben anfing.
Abgesehen von einigen Charakteren, dem, worauf ich hinaus wollte und dem Setting war noch nichts vorhanden, als ich zum Schreiben begonnen habe.
Dadurch gab es auch keinen Rahmen, keine Grenzen innerhalb derer ich mich bewegen musste, weswegen ich bald die Kontrolle über die Geschichte verloren habe.
Einerseits musste ich, um Lins Abneigung verständlich zu machen, eine nachvollziehbare Dorfkultur, einen Alltag erschaffen und andererseits den Charakter des Protagonisten entwickeln.
Irgendwann habe ich mich dann in der Beschreibung unterschiedlicher Charaktere und Riten verloren, da es mir so leicht fiel, sie zu erschaffen. Gleichzeitig habe ich aber den bedeutendsten Charakter, Lin, vernachlässigt.
Anstatt abzubrechen und erst einmal die Geschichte auszuarbeiten, habe ich weitergeschrieben. Das liegt zu einem großen Teil daran, dass ich, wenn ich einmal zu schreiben begonnen habe, nur noch darauf fokussiert bin, die Geschichte zu beenden, was in diesem Fall wenig intelligent war.

garwan hat kritisiert, dass die Geschichte zu abrupte endet, Lins Handeln für ihn nicht nachvollziehbar war.
Zweiteres habe ich zuvor erläutert, ersteres, das Ende der Geschichte ist wohl darauf zurückzuführen, dass der Lin-Charakter für mich selbst zu wenig Substanz gehabt hat, ich daher das Interesse an ihm verloren habe und seine Geschichte am Schluss noch schnell abgehandelt habe.

Dass von Felsenkatze kritisierte überflüssige Einführen nicht handlungstragender Charaktere ist größtenteils auf die von mir gesehene Notwendigkeit zurückzuführen, dass eine Gemeinschaft durch seine Individuen am besten darstellbar ist und durch das zeigen der Beziehungen untereinander erst zum Leben erweckt wird.
Manna hingegen war nur ein Mittel zum Zweck zur Charakterisierung Lins.
Anfangs bewundert Lin den Sonnenaufgang, im nächsten Moment erfährt man, dass er seine Freundin nur zur Triebbefriedigung benutzt.
Später, beim Gana-Ritual, konzentriert sich Lin zuerst auf seine Mutter, dann auf Su Gong, seine heimliche Liebe, während er von Manna, von ihm unbemerkt, beobachtet wird, die ihn liebt, unter seiner Selbstsucht leidet, ohne zu merken oder zumindest wahrhaben zu wollen, dass er sie nicht liebt.

Abschließend würde mich interessieren, was ihr von meinem Schreibstil haltet.
Ich experimentiere seit Monaten damit und glaube, dass er sich langsam zum Positiven hin entwickelt, deswegen würde ich mich über eure Meinungen darüber freuen.
War die Geschichte flüssig zu lesen? Waren die Charaktere nachvollziehbar, ist ein Bild von ihnen vor euren Augen entstanden? Habt ihr eine Vorstellung vom Leben im Dorf und dem Aussehen des Dorfes gehabt?
garwan hat sich dankenswerter Weise bereits dazu geäußert, aber was sagen die beiden Damen dazu?

Jedenfalls bin ich euch sehr dankbar für eure konstruktive und ehrliche Kritik und für das Lesen meiner, in Relation zum üblichen kg.de-Schnitt, sehr langen Geschichte.

MfG

Miller

 

Hallo Miller!

Gehen wir es Punkt für Punkt durch:

Zum Handwerklichen: Im Großen und Ganzen machst du die Fehler der eines typischen Schreibanfängers: Anstatt aus einer Perspektive zu erzählen, springst du manchmal völlig ohne Grund auf andere Personen über, was ich relativ unglücklich finde. In der Regel wird so etwas von Anfängern gemacht, denen so etwas nicht weiter stört/nicht auffällt. Sonderlich lesefreundlich ist das nicht, weil sich der Leser im Verlauf der Geschichte eine Person sucht, mit der er sich identifizieren kann und durch solche Stellen aus dem Lesefluss gerissen wird. Natürlich gibt es auch viele gute Geschichten, in denen ständig zwischen den Personen gewechselt wird, aber bei dir hatte ich nicht den Eindruck, dass du dieses Stilmittel bewusst gewählt hast.
Noch dazu hast du sehr viele Rechtschreibfehler drin, die die Geschichte fast zu einem Fall für das Korrekturcenter werden lassen. Ein guter Stil beinhaltet auch eine fehlerlose Schreibweise.
Aber immerhin: Ich fand es relativ flüssig zu lesen, und das ist doch schon mal was. :)

Zu den Charakteren: Du hast ja schon geschrieben, dass du Lin nicht sonderlich interessant fandest und deshalb immer abgeschweift bist. Und das merkt man auch, und leider nicht nur bei Lin. Alles in allem kann ich über deine Charaktere nicht viel Positives sagen, es sind eben Standardfiguren, alles schon hundertmal gelesen und gesehen. Zwar bemühst du dich, ihnen Tiefe zu verleihen, doch was nutzen relativ gut ausgearbeitete Charaktere, wenn du ihr Potential in der Ereignislosigkeit brachliegen lässt?
Um noch einmal auf die vielen Perspektivenwechsel einzugehen: Um eine Figur gut zu charakterisieren ist es nicht erforderlich, gleich aus ihrer Sicht zu schreiben. Es ist durchaus möglich, die Geschichte nur aus Lins Perspektive zu erzählen und die anderen Dorfbewohner trotzdem lebendig wirken zu lassen, versuch es doch einmal.

Anmerkungen:

Durch hundert Risse im Himmel zwängte sich das Wasser, formte sich im Sturz zu Tropfen und zerplatzte im Talkessel unter ihm auf Blumen aus Lehm und Holz.
Die Adiron erwachten langsam aus ihrem traumlosen Schlaf, während sich das Dunkelblau über ihren Dächern entfärbte bis es zu einem zarten Cyan erbleicht war, das in der Wärme der aufgehenden Sonne verdampfte.
Perspektivenloser Anfang. Ich würde es schöner finden, wenn du von Anfang an aus Lins Sicht erzählen würdest.

Liu senkte seinen Blick. Er wusste, dass es sinnlos war, seine Frau Hu zu bitten, Freude vor Pflicht zu stellen. Und wenn er ehrlich war, wollte auch er nicht zu spät zum Gana-Ritual kommen.
Lin, bitte hol’ das Brot.
Die Namen sind fast identisch, was es einem natürlich schwer macht, die Figuren auseinander zuhalten.
Und entferne das Apostroph, das hat hier nichts verloren.

Lin nickte traurig, hätte er sich doch am liebsten einen Sessel aus dem Haus geholt und die gelbe Scheibe bei ihrer Wanderung gen Westen beobachtet.
Fremde Riten in allen Ehren, aber was soll so toll dran sein, den ganzen Tag mitten in die Sonne zu sehen? Die massiven Augenschäden, die man schon nach ein paar Minuten kassiert?

Lin beschleunigte seinen Schritt und joggte den Weg entlang über die rutschigen Steinplatten.
Wortwahl passt nicht

Sie war enttäuscht. In letzter Zeit verbrachte Lin kaum Zeit mit ihr und wenn, dann wollte er nur mit ihr „in den Wald gehen“.
unnötiger Perspektivenwechsel hin zu seiner Freundin, der einem aus dem Lesefluss wirft.

Statt ihnen zu helfen, stand Meister Ren, wie ein römischer Imperator in seinem Streitwagen, am Kutschbock.
Da du ja von einer autonomen Welt erzählst, die nicht viel mit unserer zu tun hat, solltest du auch solche Vergleiche vermeiden.

Als diese bald von den Gerüchten hörte, sprach sie ihren Mann darauf und auf sein Verhalten der letzten Zeit an. Aber der brummte nur eine unverständliche Antwort, drehte sich zur Seite und schloss Augen und Ohren.
Du schweift andauernd von der Hauptperson ab und schilderst irgendwelche Belanglosigkeiten. Sonderlich interessant kannst du deinen Prot ja wirklich nicht gefunden haben. ;)

War er wach, dachte er an die gemeinsame Zeit mit seiner Frau, schlief er, träumte er davon.
Ab und zu klopfte jemand an die Tür und erkundigte sich, ob Großvater Lu in Ordnung sei, was dieser meist mit einem verärgerten Grunzen bestätigte.
wieder so eine Ausschweifung ...

„Ich muss zurück ins Dorf. Ohne Wasser komme ich nicht weit“, dachte er.
Wenn ich so etwas sehe, denke ich sofort: Oh, ein Schreibanfänger, lange kann der das ja noch nicht machen ...
Gedanken in Anführungszeichen zu setzen ist zwar nicht falsch, aber unglücklich, weil diese dann häufig mit der wörtlichen Rede verwechselt werden, wie hier:
„Ach, Sonnenaufgang. Den kannst du doch jeden Tag sehen.“
„Ja, und dein Brot kann ich jeden Tag essen“, dachte Lin.
Schreib sie entweder kursiv oder kennzeichne sie gar nicht, dann schlägt beim Kritiker der Newbie-Alarm auch nicht mehr so schnell an. ;)

In Wirklichkeit wusste niemand mehr, wie das Kìpaa aussah. Es gab nicht einmal Legenden darüber.
Das wäre interessant gewesen. Doch anstatt dem Leser am Schluss zu offenbaren, was es damit auf sich hat, speist du ihn lieber mit ein paar lieblos dahingeschriebenen Sätzen ab:
Lin blickte in das leere Gefäß, sah aber nichts, da es schon dunkel geworden war.
„Ich muss zurück ins Dorf. Ohne Wasser komme ich nicht weit“, dachte er.

Unten im Dorf: „Es ist schon zu dunkel, um noch einmal auf den Hang hinaufzusteigen. Ich muss es ein andermal noch einmal versuchen.“

Verzeih mir bitte die harten Worte, aber da kommt man sich richtig veräppelt vor.
Sagen wir es mal so: Ohne richtige Handlung (bei der die ganzen Rituale und Traditionen die Geschichte vorangetrieben hätten, anstatt alles ausschweifend ins Belanglose abdriften zu lassen) kommt bei mir nicht das geringste Interesse für deine Dorfkultur auf. Es geht mir also gleich wie Felsy und vita: Deine Schilderungen sind ohne eine Story drum rum völlig uninteressant. Die wenigen interessanten Ansätze, die dieses Machwerk zu bieten hat (die Flucht, das geheimnisvolle Kìpaa) setzt du lustlos in den Sand. Schade, denn dieser Text hätte durchaus das Potential zu einer passablen Geschichte gehabt.

Liebe Grüße
131aine

 

Hallo Miller,
jetzt habe ich mal deine doch etwas lange Geschichte gelesen. Viel Neues kann ich dazu nicht anmerken – eigentlich haben meine Vorredner schon alles gesagt.
Was die Beschreibung des Dorflebens angeht, die gefällt mir an sich ganz gut. Detailverliebtheit gibt einer imaginären Welt ja bis zu einem gewissen Grad Tiefe und macht sie lebendiger. Und so ist es dir bei mir auch gelungen, das Gefühl einer in sich geschlossenen, mehr oder minder funktionierenden Dorfgemeinschaft zu entwerfen. Anfangs haben mich die teilweise sehr chinesisch (?) anmutenden Namen allerdings etwas verwirrt, aber was die Stimmung usw. betrifft: sehr schön.
So weit, so gut.
Letztendlich ist das alles aber nichts weiter als eine Kulisse. Wir sehen die Statisten hin und her laufen, aber Handlung gibt es nicht. Auch die irritierenden Perspektivwechsel sind ja schon angesprochen worden.
Sprachlich gefällt mir deine Geschichte – immerhin habe ich sie bis zum Ende gelesen, ohne dass ich es als Quälerei empfunden hätte. Aber mehr als ein fertig aufgestelltes Bühnenbild ist es nicht und das Ende lässt mich unbefriedigt zurück. Das wäre anders, wenn du z.B. im Text mehr angedeutet hättest, wie unwohl Lin sich fühlt – oder dass er überhaupt mit dem Gedanken an Ausbruch spielt. Wenn das zwischen den Zeilen bereits steht, dann habe ich es nicht bemerkt – das Ende kam mir zu plötzlich.
Wenn du Lin als Charakter selber nicht magst oder es nicht schaffst, ihm das Profil und die Substanz zu geben, die er als Protagonist nötig hätte, könntest du die Geschichte ja aus der Sicht einer anderen Figur schreiben.
Was ich auch denkbar fände – und vielleicht kannst du dir das ja auch vorstellen -, wäre, eine Adiron-Serie aufzumachen. Dann könntest du dir über mehrere Folgen Zeit nehmen, alle Facetten des Dorflebens plastisch zu entwerfen, und du könntest vielleicht noch mehreren Figuren gerecht werden. Viele Kleinigkeiten, die in dieser Geschichte nur angedeutet sind, wären vielleicht als eigens ausgeführte Geschichten auch interessant. Das ist natürlich nur ein Gedankenspiel von mir. :)
Also, sprachlich gut zu lesen, beschreibungstechnisch dicht, aber für eine bloße atmosphärische Fingerübung doch etwas zu lang und insgesamt etwas handlungsarm.
Liebe Grüße,
ciao
Malinche

 

Hallo Blaine,

Zum Handwerklichen: Im Großen und Ganzen machst du die Fehler der eines typischen Schreibanfängers: Anstatt aus einer Perspektive zu erzählen, springst du manchmal völlig ohne Grund auf andere Personen über, was ich relativ unglücklich finde. In der Regel wird so etwas von Anfängern gemacht, denen so etwas nicht weiter stört/nicht auffällt. Sonderlich lesefreundlich ist das nicht, weil sich der Leser im Verlauf der Geschichte eine Person sucht, mit der er sich identifizieren kann und durch solche Stellen aus dem Lesefluss gerissen wird. Natürlich gibt es auch viele gute Geschichten, in denen ständig zwischen den Personen gewechselt wird, aber bei dir hatte ich nicht den Eindruck, dass du dieses Stilmittel bewusst gewählt hast.

Warum es zu den Perspektivenwechseln gekommen ist, habe ich bereits in meinem ersten Kommentar erklärt: Sie waren einfach die Folge einer schlecht ausgearbeiteten Geschichte mit einem ebenso schlecht erarbeitetem Hauptcharakter.

Noch dazu hast du sehr viele Rechtschreibfehler drin, die die Geschichte fast zu einem Fall für das Korrekturcenter werden lassen.

:confused: Wirklich? Hmm, . . . meinst du damit tatsächlich Rechtschreibfehler oder Grammatik- u./o. Stilfehler?

Aber immerhin: Ich fand es relativ flüssig zu lesen, und das ist doch schon mal was.

Yep.

Um noch einmal auf die vielen Perspektivenwechsel einzugehen: Um eine Figur gut zu charakterisieren ist es nicht erforderlich, gleich aus ihrer Sicht zu schreiben. Es ist durchaus möglich, die Geschichte nur aus Lins Perspektive zu erzählen und die anderen Dorfbewohner trotzdem lebendig wirken zu lassen, versuch es doch einmal.

Weiß ich, das hat sich einfach dadurch ergeben, dass Lin für mich durch seine Substanzlosigkeit uninteressant war und ich mich unbewusst immer anderen Charakteren zugewandt habe.

Zitat:
Durch hundert Risse im Himmel zwängte sich das Wasser, formte sich im Sturz zu Tropfen und zerplatzte im Talkessel unter ihm auf Blumen aus Lehm und Holz.
Die Adiron erwachten langsam aus ihrem traumlosen Schlaf, während sich das Dunkelblau über ihren Dächern entfärbte bis es zu einem zarten Cyan erbleicht war, das in der Wärme der aufgehenden Sonne verdampfte.
Perspektivenloser Anfang. Ich würde es schöner finden, wenn du von Anfang an aus Lins Sicht erzählen würdest.

Geschmackssache. Aber ich wollte mich nicht direkt in die Handlung stürzen. Mir gefällt es auch in Filmen oft, wenn die Kamera sich langsam aus der Luft dem Handlungsort nähert o.Ä., man einen Gesamtüberblick über den Ort erhält.

Zitat:
Liu senkte seinen Blick. Er wusste, dass es sinnlos war, seine Frau Hu zu bitten, Freude vor Pflicht zu stellen. Und wenn er ehrlich war, wollte auch er nicht zu spät zum Gana-Ritual kommen.
„Lin, bitte hol’ das Brot.

Die Namen sind fast identisch, was es einem natürlich schwer macht, die Figuren auseinander zuhalten.

Ich hatte damals gerade innerhalb weniger Tage Ha Jins Meisterwerke "Warten" und "Im Teich" gelesen, wodurch ich die ganze Zeit chinesische Namen im Kopf hatte.

Zitat:
Lin beschleunigte seinen Schritt und joggte den Weg entlang über die rutschigen Steinplatten.

Wortwahl passt nicht

Ja, ich weiß, mir ist aber bisher keine passendere Wortwahl eingefallen.

Zitat:
„Ich muss zurück ins Dorf. Ohne Wasser komme ich nicht weit“, dachte er.
Wenn ich so etwas sehe, denke ich sofort: Oh, ein Schreibanfänger, lange kann der das ja noch nicht machen ...

Gedanken in Anführungszeichen zu setzen ist zwar nicht falsch, aber unglücklich, weil diese dann häufig mit der wörtlichen Rede verwechselt werden.

Dass das unüblich ist, weiß ich, aber mir hat's im Moment des Schreibens am Besten gefallen.

Zitat:
In Wirklichkeit wusste niemand mehr, wie das Kìpaa aussah. Es gab nicht einmal Legenden darüber.

Das wäre interessant gewesen.

Ursprünglich sollte Lin das Tal verlassen, aber als die Geschichte sich immer mehr in die Länge zog, habe ich einfach das Interesse an ihr verloren und sie halbherzig beendet.


Hallo Malinche,

Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich auf deine Kritikpunkte nicht tiefer eingehe, da sie bereits von Vorkritikern aufgezeigt und von mir kommentiert wurden.

Deine Idee, die Geschichte aus einer anderen Perspektive zu erzählen oder sogar einen eigenen Serien-Thread aufzumachen, finde ich sehr interessant.
Besonders den Serien-Thread.
Hier würde er wohl auf wenig Interesse stoßen, aber für mich selbst, als kleine "Übungswelt" fände ich das sehr interessant.
Es ist übrigens nicht so, dass mir Lin unsympathisch wäre; er ist einfach nur schlecht ausgearbeitet, wodurch ich das Interesse an ihm verloren habe.

Also, sprachlich gut zu lesen, beschreibungstechnisch dicht, aber für eine bloße atmosphärische Fingerübung doch etwas zu lang und insgesamt etwas handlungsarm.

Dass die Geschichte gut lesbar war, freut mich, da es zeigt, dass ich langsam, aber doch einen lesbaren Schreibstil entwickle. Bei deinen Kritikpunkten muss ich dir leider zustimmen.


Abschließend: Eure beiden Kritiken (und auch die eurer Vorkritiker) haben genau die Punkte aufgezeigt, die mir beim Korrekturlesen ebenfalls aufgefallen sind.

Warum veröffentlicht er das Ding dann, statt es zu überarbeiten?
Der Grund dafür ist:

Seit ich zu schreiben begonnen habe, was ziemlich genau mit dem Zeitpunkt meiner Anmeldung bei kg.de zusammenfällt, habe ich große Probleme damit, das, was ich erzählen will, so zu erzählen, dass es für den Leser interessant, glaubwürdig, nachvollziehbar usw. ist.

Ich habe gemerkt, dass dieser Schreibstil besser lesbar ist, als meine bisherigen und ich wollte wissen, ob die Leser meinen Eindruck bestätigen.
Ich meine damit ausschließlich die Lesbarkeit, nicht die Ausarbeitung der Charaktere o.Ä.


Dass die Geschichte überarbeitet werden muss, ist mir klar, eigentlich sollte ich sie von grundauf neu ausarbeiten (oder überhaupt ausarbeiten).
Aber, ich weiß ihr habt nichts davon, mir persönlich hat diese Geschichte und eure Kritiken gezeigt (so seltsam es klingt), dass bei mir noch Potenzial vorhanden ist, dass ich, wenn ich endlich anfange konzentriert und ernsthaft zu arbeiten, irgendwann einmal gute oder sogar mehr als nur gute Geschichten schreiben kann.
Der Grund warum eure Kritiken wichtig für diese Erkenntnis waren, ist, dass mir selbst die groben Fehler aufgefallen sind, ich gewusst habe, wo ich bei dieser Geschichte ansetzen müsste. Eure Kritiken haben also meine eigene Textanalyse bestätigt. Hätten mich eure Kritiken überrascht, wäre das ein sehr schlechtes Zeichen gewesen, denn wer seine Geschichten nicht objektiv analysieren kann, wird sich nie verbessern.
Für mich selbst stellt diese Geschichte eine Art Warnung dar, die mir zeigt, was passiert, wenn man zu faul ist, sich mit seiner Geschichte und ihren Charakteren auseinanderzusetzen und einfach drauflosschreibt.
Bei einem erfahrenen Schreiber wäre wahrscheinlich noch etwas daraus geworden, aber mir fehlt die Routine momentan noch.

Jedenfalls vielen Dank für eure teils harten, aber ehrlichen Worte.

MfG

Miller

 

Hallo Miller,

ich habe deine Geschichte schon vor einer Weile gelesen, bin aber nicht dazu gekommen, sie zu kommentieren, und hatte außerdem nichts Neues anzumerken.

Nach deinem letzten Posting wollte ich aber jetzt doch was dazu sagen:
Klar, da steckt Potential drin, und dass der Text flüssig und die Beschreibungen lebendig sind, das weißt du ja selbst.
Warum glaubst du also, da könnte sich keine gute Serie draus machen lassen? Denn deine Schwäche ist ja nicht die Kulisse, oder der Stil, sondern die Plotlinie, die pure und blanke Handlung. Und dafür wäre die Serie ja praktisch perfekt ...

Ich würde sie jedenfalls lesen :)

Liebe Grüße
Ardandwen

 

Hallo ardandwen,

Warum glaubst du also, da könnte sich keine gute Serie draus machen lassen? Denn deine Schwäche ist ja nicht die Kulisse, oder der Stil, sondern die Plotlinie, die pure und blanke Handlung. Und dafür wäre die Serie ja praktisch perfekt ...

Ja, aber Serien stoßen hier kaum auf Interesse, was auch mein ursprüngliches Argument gegen einen Serien-Thread war. Wie gesagt, wäre eine "Adiron"-Serie ideal für mich als Übungswelt, ob ich das aber tatsächlich umsetzen werde, weiß ich noch nicht. An sich gefällt mir die Idee.

Ich würde sie jedenfalls lesen

Danke, das ist sehr nett von dir. :)

MfG

Miller

 

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