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Das tapfere Blatt
Das tapfere Blatt
Ganz oben im Apfelbaum hing, ganz einsam, seit dem Herbst immer noch ein einzelnes Blatt. Schlimm zerzaust war es und dunkelbraun. Viele Vögel, die nicht nach Süden gezogen waren und im Garten lebten, hatten schon einmal auf der höchsten Zweigspitze Halt gemacht. Neugierig war das Blatt von allen befragt worden, warum es denn nicht loslassen und zu den anderen auf den Rasen fallen wolle; dorthin, wo es gemütlich gemeinsam mit seinen Blatt-Kameraden zu guter, krümeliger neuer Erde hätte werden können!
Vergeblich, das Blatt hatte sich nur krampfhaft an seinem Stielchen festgehalten und kein bisschen Kraft zum Antworten verschwendet. Ein bunter Papierdrache war flatternd vorübergezogen und hatte Anteil nehmende Blicke in die Spitze des kahlen Apfelbaums geworfen.
Wintersturm und Raureif ließ das Blatt über sich ergehen, Schneeflocken deckten es einige Tage sogar völlig zu, doch nichts und niemand konnte es dazu bringen, sich von seinem Ast zu lösen und sich entspannt auf den Laubhaufen fallen zu lassen.
Nebelwolken zogen vorbei und hinterließen Tausende kleiner nasser Tröpfchen auf seiner Oberfläche.
So ging der Winter dahin, allererste wärmere Sonnenstrahlen machten die Welt wieder ein bisschen heller.
Ein kleines Rotkehlchen hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ab und zu nach dem einsamen Blatt zu sehen, treu und unermüdlich, auch wenn es auf seine Fragen nie eine Antwort bekam.
Heute hatte es einen ersten Wurm im Schnabel, den es aus dem wieder aufgetauten Boden hatte ziehen können. Der kleine Vogel legte das braun-rote Köpfchen schief und fragte wie immer: "Wie geht es dir, einsames Blatt?"
Unerwartet ließ das Blatt ein erschöpftes Räuspern hören!
Dann folgte ein geflüstertes "Sind sie schon da? Ich kann bald nicht mehr ..."
"Wer? Was meinst du?" Der kleine Vogel hüpfte aufgeregt hin und her: Das Blatt hatte gesprochen!
"Ich will die kleinen, neuen grünen Blätter sehen", antwortete das Blatt mit ersterbender Stimme, "darauf habe ich den ganzen Winter gewartet ..."
Das Rotkehlchen schaute sich aufmerksam zwischen den Zweigen um. "Aber ja!", rief es. "Dort und da, und dahinten auch! Lauter grüne Blattspitzen, sieh doch!"
Mit letzter Kraft richtete sich das Blatt knisternd auf, es schaute um sich und seufzte zufrieden.
Und als der warme Frühlingswind eine kleine Böe vorbeischickte, löste sich das schrumpelige Apfelblatt endlich von seinem Zweig und schwebte in eins der Gartenbeete, wo gerade einige Tulpen ihre roten Blütenkelche öffneten.