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Das Telefon
In seinem Geist sah er immer wieder das Telefon. Den ganzen Tag. Als befinde es sich auf einem Sockel inmitten seiner Wohnung – unmöglich ihm aus dem Weg zu gehen.
Das war Unsinn, denn bei ihm stand der Apparat – wie bei den meisten anderen Menschen – im Flur. Während er seinen Tagesablauf erledigte, dachte er immer daran, dass der Anruf bald erfolgen müsste oder, wenn er auswärts zu tun hatte, vielleicht schon erfolgt sei. Kam er nach Hause, hörte er als erstes den Anrufbeantworter ab, um zu überprüfen, ob eine Nachricht für ihn da sei. Seine Zeit zu Hause saß er nervös ab, beschäftigte sich notdürftig und kaschierte das Warten. Haufenweise stopfte er Erdnüsse in sich hinein und vertrieb sich die Zeit mit blödsinnigen Spielshows im Fernsehen.
Sie hatte gesagt, sie rufe nach Weihnachten an. Nach Weihnachten. Das war dehnbar, konnte am 27.12 oder kurz vor Sylvester bedeuten. Über die Feiertage wollte sie zu ihren Eltern. Sie hing an ihren Eltern. Ein Tag mehr oder weniger bedeutete gar nichts – schließlich war sie ihm zu nichts verpflichtet.
Warum hatten sie kein Datum ausgemacht? Er hasste doch Verabredungen ins Blaue. Warum hatte er nicht reagiert? Damals, als sie gemeint hatte, sie rufe nach Weihnachten an.
Als er am ersten Weihnachtsfeiertag morgens sein Kalenderblatt abriss, machte sein Herz einen Sprung. „Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean an Geld und Verstand“, war dort zu lesen. „Wenn das nicht passt“, sagte er sich. Mit dem Spruch auf den Lippen blickte er auf das Telefon, als könne er es dadurch dazu bewegen, einen Ton von sich zu geben.
Am 26. nachmittags war er – nach Abwägen aller Vor- und Nachteile – zu der Erkenntnis gelangt, er könne ja von sich aus anrufen. Sozusagen prophylaktisch. Dann hatte sie seine Nachricht auf dem Band, wenn sie zurückkam. Sein Anruf machte die Sache übersichtlich: So lange sie sich nicht meldete, war sie noch nicht zurück. Und wenn sie zurückkehrte, griff sie sicherlich sofort zum Telefon.
Zwei Tage später fragte er sich morgens beim Frühstück, ob seine Taktik die Richtige sei. Es wäre denkbar, dass sie ihren Anrufbeantworter abgehört, seine Nachricht empfangen, aber eine sofortige Antwort versäumt habe.
Sie war nicht die Zuverlässigste. Wenn man ihr übel wollte, konnte man sie sogar als unstrukturiert bezeichnen, – als schusselig. Ihre Fehler geschahen nicht aus böser Absicht heraus, sondern weil sie etwas nicht auf die Reihe bekam.
Er konnte es sich bildlich vorstellen: Sie hörte ihren Anrufbeantworter ab, kam zu der Stelle mit seiner Nachricht, wollte schon den Hörer in die Hand nehmen, als das Telefon klingelte und ihre beste Freundin dran war. Sie verabredeten sich spontan zu einem Prosecco, verbrachten bis morgens um vier einen gemütlichen Abend zusammen in ihrer Lieblingskneipe und dann lag sie indisponiert im Bett und schlief.
Sollte er es wagen noch einmal von sich aus anzurufen? Brachte sie das zu der Erkenntnis, dass er sehr verliebt in sie sei und sie mit ihm machen könne, was sie wollte?
Mit derartigen Gedanken im Kopf umlauerte er das Telefon. Untätig saß er eine Weile da und zupfte nervös am Notizblock vor dem Apparat herum. Schließlich griff er zum Hörer und wählte ihre Nummer.
Er erwartete, dass sie nicht da sei, weil sie seinen Anruf noch nicht erwidert hatte. Umso überraschter war er, als er ihre Stimme vernahm. „Ja, hier ist Claudia.“, meldete sie sich gereizt. „Ich bin es, Alex.“, sagte er kleinlaut.
„Oh, das ist nett, dass du anrufst.“, presste sie durch ihre Zähne, „Für dich habe ich aber leider im Augenblick gar keine Zeit.“ Es entstand eine kurze Pause, in der er sprachlos war und sie überlegte, wie sie ihre Redeeinleitung fortsetzen sollte. „Ich fliege nämlich in zwei Stunden nach Rom. Ich sitze gerade auf gepackten Koffern und warte auf das Taxi. Wir telefonieren in Ruhe miteinander, wenn ich von meiner Reise zurück bin, ja? Nimm es mir bitte nicht übel, Alex!“ Bevor er noch antworten konnte, legte sie den Hörer auf.
Eine Zeitlang tat er nichts und lauschte nur dem Geräusch des Telefons. Als er wieder zu sich kam, nahm er ihr Bild aus seinem Portemonnaie. Nachdem er es in Einzelteile zerrissen hatte, stand er auf und kochte sich einen Kaffee. In der Küche erinnerte er sich wieder an den Kalenderspruch vom ersten Weihnachtsfeiertag: „Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean an Geld und Verstand.“
„Aber nur wenn die Liebe erwidert wird!“, fügte er in Gedanken hinzu.