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Das Telefon

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10.02.2007
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Das Telefon

In seinem Geist sah er immer wieder das Telefon. Den ganzen Tag. Als befinde es sich auf einem Sockel inmitten seiner Wohnung – unmöglich ihm aus dem Weg zu gehen.
Das war Unsinn, denn bei ihm stand der Apparat – wie bei den meisten anderen Menschen – im Flur. Während er seinen Tagesablauf erledigte, dachte er immer daran, dass der Anruf bald erfolgen müsste oder, wenn er auswärts zu tun hatte, vielleicht schon erfolgt sei. Kam er nach Hause, hörte er als erstes den Anrufbeantworter ab, um zu überprüfen, ob eine Nachricht für ihn da sei. Seine Zeit zu Hause saß er nervös ab, beschäftigte sich notdürftig und kaschierte das Warten. Haufenweise stopfte er Erdnüsse in sich hinein und vertrieb sich die Zeit mit blödsinnigen Spielshows im Fernsehen.
Sie hatte gesagt, sie rufe nach Weihnachten an. Nach Weihnachten. Das war dehnbar, konnte am 27.12 oder kurz vor Sylvester bedeuten. Über die Feiertage wollte sie zu ihren Eltern. Sie hing an ihren Eltern. Ein Tag mehr oder weniger bedeutete gar nichts – schließlich war sie ihm zu nichts verpflichtet.
Warum hatten sie kein Datum ausgemacht? Er hasste doch Verabredungen ins Blaue. Warum hatte er nicht reagiert? Damals, als sie gemeint hatte, sie rufe nach Weihnachten an.
Als er am ersten Weihnachtsfeiertag morgens sein Kalenderblatt abriss, machte sein Herz einen Sprung. „Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean an Geld und Verstand“, war dort zu lesen. „Wenn das nicht passt“, sagte er sich. Mit dem Spruch auf den Lippen blickte er auf das Telefon, als könne er es dadurch dazu bewegen, einen Ton von sich zu geben.
Am 26. nachmittags war er – nach Abwägen aller Vor- und Nachteile – zu der Erkenntnis gelangt, er könne ja von sich aus anrufen. Sozusagen prophylaktisch. Dann hatte sie seine Nachricht auf dem Band, wenn sie zurückkam. Sein Anruf machte die Sache übersichtlich: So lange sie sich nicht meldete, war sie noch nicht zurück. Und wenn sie zurückkehrte, griff sie sicherlich sofort zum Telefon.
Zwei Tage später fragte er sich morgens beim Frühstück, ob seine Taktik die Richtige sei. Es wäre denkbar, dass sie ihren Anrufbeantworter abgehört, seine Nachricht empfangen, aber eine sofortige Antwort versäumt habe.
Sie war nicht die Zuverlässigste. Wenn man ihr übel wollte, konnte man sie sogar als unstrukturiert bezeichnen, – als schusselig. Ihre Fehler geschahen nicht aus böser Absicht heraus, sondern weil sie etwas nicht auf die Reihe bekam.
Er konnte es sich bildlich vorstellen: Sie hörte ihren Anrufbeantworter ab, kam zu der Stelle mit seiner Nachricht, wollte schon den Hörer in die Hand nehmen, als das Telefon klingelte und ihre beste Freundin dran war. Sie verabredeten sich spontan zu einem Prosecco, verbrachten bis morgens um vier einen gemütlichen Abend zusammen in ihrer Lieblingskneipe und dann lag sie indisponiert im Bett und schlief.
Sollte er es wagen noch einmal von sich aus anzurufen? Brachte sie das zu der Erkenntnis, dass er sehr verliebt in sie sei und sie mit ihm machen könne, was sie wollte?
Mit derartigen Gedanken im Kopf umlauerte er das Telefon. Untätig saß er eine Weile da und zupfte nervös am Notizblock vor dem Apparat herum. Schließlich griff er zum Hörer und wählte ihre Nummer.
Er erwartete, dass sie nicht da sei, weil sie seinen Anruf noch nicht erwidert hatte. Umso überraschter war er, als er ihre Stimme vernahm. „Ja, hier ist Claudia.“, meldete sie sich gereizt. „Ich bin es, Alex.“, sagte er kleinlaut.
„Oh, das ist nett, dass du anrufst.“, presste sie durch ihre Zähne, „Für dich habe ich aber leider im Augenblick gar keine Zeit.“ Es entstand eine kurze Pause, in der er sprachlos war und sie überlegte, wie sie ihre Redeeinleitung fortsetzen sollte. „Ich fliege nämlich in zwei Stunden nach Rom. Ich sitze gerade auf gepackten Koffern und warte auf das Taxi. Wir telefonieren in Ruhe miteinander, wenn ich von meiner Reise zurück bin, ja? Nimm es mir bitte nicht übel, Alex!“ Bevor er noch antworten konnte, legte sie den Hörer auf.
Eine Zeitlang tat er nichts und lauschte nur dem Geräusch des Telefons. Als er wieder zu sich kam, nahm er ihr Bild aus seinem Portemonnaie. Nachdem er es in Einzelteile zerrissen hatte, stand er auf und kochte sich einen Kaffee. In der Küche erinnerte er sich wieder an den Kalenderspruch vom ersten Weihnachtsfeiertag: „Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean an Geld und Verstand.“
„Aber nur wenn die Liebe erwidert wird!“, fügte er in Gedanken hinzu.

 

Hallo Knäckebrot,

nach den überaus aussagekräftigen Aussagen meiner Vorkritiker, der Versuch eines Kommentars.

Hat mir insgesamt besser gefallen, als deine "Yoga" Geschichte. Der Grund ist: Dort versuchst du die Handlung/das Stimmungsbild aus dem Dialog heraus aufzubauen und scheiterst, weil das in der gegebenen Länge nicht funktionieren kann. (Da schimmert dein Thema Theater durch)

Bei dieser Geschichte hier gehst du einen anderen Weg, indem du die Dialoge auf ein aussagekräftiges Minimum reduzierst. Aus den Gedanken und Handlungen kommt die hoffnungslose Verliebtheit dann schön heraus. Das Stimmungsbild ist schön ruhig und realistisch aufgebaut, wirklich gut gemacht, man(n) findet sich richtig wieder. Nichts für Freunde von Action, Spannung oder stringenter Handlung, aber dennoch eine nett geschriebene Miniatur.


Gruß,

AE

Noch ein par Kleinigkeiten,


Damals, als sie gemeint hatte, sie rufe nach Wehnachten an.

Weihnachten

kaschierte das Warten

kaschieren gefällt mir nicht, assoziiert man irgedwie zudecken mit ...

Kam er nach Hause, hörte er als erstes den Anrufbeantworter ab, um zu überprüfen, ob eine Nachricht für ihn da sei.

Die Tücke der indirketen Rede in der Vergangenheit: "da gewesen sei" klingt doof
ebenso "da gewesen wäre". Und nur "sei" ist die falsche Zeit.

Weiter unten taucht di Problematik noch ein paar mal auf.

 

Hallo Knäckebrot,

die kleine Szene mit dem inneren Zweifel und dem Mut der Verzweiflung bringst Du gut rüber, er ist angenagt von den Unsicherheiten, sucht nach Erklärungen die er glauben kann und ruft dann doch an, nur um Gewissheit zu erhalten. Gut beschrieben und lebhaft.
Mir missfällt jedoch der letzte Satz, sie würde ohne ihn runder klingen, ohne die Moral am Ende, die Essenz der Botschaft.
Wobei, dann würde ich ihn nicht an den Kalenderspruch sich erinnern lassen, sondern ihn diesen nochmal lesen, vielleicht zerknüllen, aber in jedem Fall nicht _so_ reflektieren lassen.

Umso überraschter reagierte er, als er ihre Stimme vernahm. „Ja, hier ist Claudia.“, meldete sie sich gereizt. „Ich bin es, Alex.“, sagte er kleinlaut.
Seine Reaktion würde ich im Einleitungssatz überspringen, vielleicht war er nur überrascht. So wechselst Du die Perspektiven sehr dynamisch.

Grüße,
C. Seltsem

 

Hallo!

Danke für eure Rückmeldungen, AlterEgo und Seltsem, danke auch für das Lob von hendrik-roller und KaLima. Ein paar Kleinigkeiten habe ich schon korrigiert (Wehnachten und reagierte).
Was den Konjunktiv betrifft: Wird die Vergangenheit nicht schon im übergeordneten Satz (Hauptsatz) ausgedrückt? Nach meinem Sprachgefühl ist es so, wie es im Augenblick dasteht, richtig. Was meinen die anderen?
Von Ende habe ich mich noch nicht trennen können. Nach der D'ont tell, show-Dioktrin wäre Seltsems Vorschlag meiner Variante vorzuziehen. Auch hier würde mich die Einschätzung von anderen Teilnehmern interessieren.

Viele Grüße

Knäckebrot

 

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