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Das Tier in mir
Mein Name ist nicht von Bedeutung, ebenso wenig wie meine Vergangenheit. Ich ließ beides hinter mir in dem Augenblick, als ich den Kaffee trank, den der Goldjunge mir gereicht hatte. Ich versank in tiefen Schlaf, um in einem stinkenden Kellerloch wieder zu erwachen.
Mein Erwachen erfolgte nicht plötzlich, es war ein langsamer Aufstieg aus tiefen Schichten unterschiedlicher Bewußtseinszustände.
Irgendwann hatte ich erkannt, daß ich in einem Verlies war, an den Händen angekettet wie ein mittelalterlicher Gefangener. Um mich herum war Dunkelheit und der Gestank von Urin, Kot und Verwesung. Manchmal spürte ich einen stechenden Schmerz an den verschiedensten Körperstellen, als würde mich jemand mit einem Messer quälen. Wenn ich mich bewegte, konnte ich den Schmerz verscheuchen, aber er kam immer wieder. In meiner Vorstellung war es eine große Fliege, die immer zum Scheißhaufen zurückkehrte, der ich war, um daran zu fressen.
Ich nahm dies alles zunächst wie selbstverständlich hin, mein Geist brauchte lange, um aufzuklaren, und ich hatte in dieser Zeit viele wirre Träume. Bis ich meine Situation vollständig erfaßt hatte, vergingen möglicherweise Tage, vielleicht aber auch Wochen. Ich weiß es nicht mehr. Gelegentlich hörte ich auch menschliche Stimmen, die sinnloses Zeug redeten, und manchmal schienen sie mit mir zu reden, doch ich hielt es nicht für notwendig, mich mit geträumten Stimmen zu unterhalten.
Ab und zu ging die Türe auf, und Goldjunge, mein Wärter, brachte Wasser und Brot herein. In diesen dreißig Sekunden - ich habe sie gezählt - wurde es für einen kurzen Moment hell in meinem Lager, und ich erkannte, daß ich nicht alleine war. Ein halbes Dutzend ausgemergelter Jammergestalten lagen genauso angekettet wie ich in ihrem eigenen Dreck. Sie trugen so wie ich verrottende Überreste einer ehemaligen Alltagskleidung, ich versuchte aus dem Zustand ihrer Hemden und Overalls auf die Dauer ihrer Inhaftierung zu schließen und kam zu erschreckenden Ergebnissen.
Manche von ihnen schwiegen, als seien sie schon tot, manche kicherten, als seien sie bereits wahnsinnig, keiner jedoch versuchte, mit dem Goldjungen zu reden. Nur ich fragte ihn, als ich meine Sprache wiedergefunden hatte, wo ich sei, und was das alles zu bedeuten habe. Doch Goldjunge antwortete nie. Er tat so, als gäbe es mich gar nicht. Ich schrie ihn an, ich flehte ihn an. Mal beleidigte ich ihn, mal versprach ich ihm unter Tränen alles, was er nur wollte.
Doch er wollte nichts. Was er wollte, das hatte er bereits. Mich.
Den Goldjungen nannte ich so wegen seines makellos-gepflegten Aussehens: stets korrekt sitzende Krawatte zum dunkelblauen Anzug; der perfekte Schwiegersohn. Er war der Ex-Freund von Madelaine gewesen, mit der nun ich zusammen lebte. Madelaine hatte nie viel über ihn gesprochen, auch nicht darüber, warum sie sich getrennt hatten. Und ich hatte nicht gefragt. Es war halt nicht wichtig gewesen.
Der Goldjunge hatte etwas Aalglattes von einem Geschäftsmann an sich. Sehr selbstbewußt und durchaus gutaussehend. Er hatte mich eines Tages auf dem Nachhauseweg abgepaßt, um mit mir zu reden. Wir waren in ein Bistro gegangen, und er hatte versucht, mir irgendwelche skurrilen Ungeheuerlichkeiten über Madelaine aufzutischen. Wann er mir das Betäubungsmittel in den Kaffee getan hatte, weiß ich bis heute nicht. Aber hier war ich nun, der Gefangene eines Irren, und noch nicht einmal der einzige.
Im Licht seiner kurzen Besuche sah ich auch, daß es in dem Raum von Ratten wimmelte, und daß einige meiner Mitgefangenen von ihnen angenagt worden waren - und ich auch! Eine Gestalt hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einem Menschen, eher mit einem halbverwesten Zombie aus einem Horrorfilm. Ich war mir absolut sicher, daß er tot war. Doch bei einer Gelegenheit sah ich kurz, wie er seinen Arm hob.
Ich hoffte - ja, ich betete - daß diese Bewegung nur Einbildung gewesen war.
Bis heute weiß ich nicht, ob ich die Stimme, die mit mir sprechen wollte, nur geträumt habe. Als ich endlich soweit war, daß ich ihr geantwortet hätte, war sie schon längst verstummt. Keiner meiner verelendeten Mitgefangenen sprach mit mir, es trieb mich fast in den Wahnsinn. Es gab Momente, da hätte ich mein ohnehin wertlos gewordenes Augenlicht dafür gegeben, wenigstens einen einzigen zusammenhängenden Satz mit jemandem reden zu können. Doch es war mit nicht vergönnt. Die Finsternis kannte kein Erbarmen. Die Anwesenheit der stummen Zombies war schlimmer, als wenn ich ganz alleine gewesen wäre.
Ich gewöhnte mir an, zu weinen. Ich weinte mehr als in meinem gesamten Leben zuvor, Kindheit und Säuglingsalter eingeschlossen. Das Weinen half ein wenig, den Schmerz zu ertragen.
Ich fragte mich, wer die anderen hier waren. Das konnten doch unmöglich alles Ex-Freunde von Madelaine gewesen sein! Oder...?
Sie sagten es mir nicht.
Ich fragte ich mich beinahe ständig, ob mich wohl die Polizei suchte. Ob ich meinen Job im Büro noch hatte, ob Madelaine noch auf mich wartete. Ob meine Eltern überhaupt mitbekommen hatten, daß ich verschwunden war. Und manchmal hatte ich Träume, in denen ich freikam. In diesen Träumen lief ich nach Hause, oder zur Polizei, oder ich lief zu Madelaine und wir schliefen miteinander. Es waren süße Träume, doch sie waren auch böse. Sie zeigten mir Dinge, die mein Dasein im wachen Zustand noch unerträglicher machten.
Im wachen Zustand gab es nur das Grübeln, die regelmäßigen Besuche vom Goldjungen - und den ewigen Kampf gegen die Ratten, die nur darauf warteten, daß ich einschlief oder eindöste, um sich an mir zu schaffen zu machen. Die Eisenschellen, die meine Handgelenke unbarmherzig umschlossen, erschwerten diese Aufgabe erheblich. Zwar besaß ich soviel Freiheit, die Arme herunternehmen zu können, doch an meine Füße kam ich nicht.
Ich war in der Hölle gelandet. Ich büßte für meine Sünden. Der Tod würde mich bald erlösen. Hoffentlich.
Die Wende kam an dem Tag, an dem mich ein grauenvoller Schmerz aus meinen Träumen riß. Ich schrie wohl, doch was nützt ein Schrei, wenn es kein Ohr gibt, das ihm zuhört?
Der Schmerz kam aus meinem großen Zeh links, einem der beliebtesten Treffpunkte der Ratten. Doch als ich austrat, bemerkte ich mit Schaudern, daß es keine Ratte war, die meinen Zeh im Mund hatte. Es war etwas sehr viel Größeres, geradezu Gewaltiges, und es ließ sich nicht abschütteln, im Gegenteil, es hielt mit seinen riesigen Klauen meinen Unterschenkel fest.
Ich war bereits hochgradig abgestumpft bei all dem Schmerz, Gestank und Wahnsinn um mich herum, doch dies war etwas, das ich so noch nicht kannte, und ich schrie erneut. Diesmal vor Angst.
Das Grauen lähmte mich solange, bis das Monster ein zweites Mal in meinen Fuß biss und der Schmerz durch den ganzen Körper jagte wie eine Ladung Starkstrom. Es weckte meinen Überlebenswillen. So, wie Frankenstein seinem Geschöpf das Leben per Blitzschlag eingehaucht hatte.
Ich beugte mein Knie und trat mit aller Wucht gegen den Kopf des Monsters. Er war widerlich weich und haarig. Doch es ließ mich nicht los. Erst nach dem vierten Tritt erschlafften die Krallen, und ich konnte meinen verletzten Fuß aus dem feuchten Mund ziehen, die glattpolierten Zahnreihen spürend, die meinen Zeh malträtiert hatten. Ich trat nun abwechselnd mit beiden Füßen auf den haarigen Schädel ein, in der ständigen Angst, das Ding könnte noch leben. Irgendwann schlief ich ein.
Der Besuch des Goldjungen weckte mich wieder, und im fahlen Schein des Lichtes, das von außen durch den Türrahmen fiel, erkannte ich zu meinen Füßen eine ausgemergelte Gestalt mit verfilztem Bart und gebrochenen Augen. Sie trug einen Overall, der irgendwann einmal rot gewesen sein mußte. Zwischen den Lippen hing ein abgerissener menschlicher Zeh. - Mein Zeh, der an meinem eigenen Fuß fehlte.
Das Monster war ein Mitgefangener gewesen, und ich hatte ihn getötet. Er hatte es irgendwie geschafft, aus einer seiner beiden Eisenfesseln herauszuschlüpfen, so daß er mir nahe kommen konnte.
Goldjunge blieb ein paar Sekunden länger als üblich, um mit seinem glänzend-sauberen Schuh die Leiche ein paar Mal anzustubsen, dann verlor er wieder das Interesse und ging.
Wieviel muß ein Mensch wie lange ertragen, um seinen Ekel und jede Ethik über Bord zu werfen? Mein Mitgefangener hatte diesen Punkt auf jeden Fall erreicht - und so erreichte auch ich ihn. Mein Überlebenswille half dabei.
Ich nahm mir vor, hier auszubrechen und meinen Peiniger zu bestrafen. Um jeden nur erdenklichen Preis. Und wenn ich sage, um jeden, dann meinte ich das auch.
Als erstes mußte ich wieder zu Kräften kommen, und so zog ich die Leiche zu mir und begann an ihrem Arm zu nagen. Wahrscheinlich, weil er von allen Körperteilen noch am saubersten aussah. Gewiß, es war abstoßend, doch mein Wille und mein Haß bezwangen das Gezimper. Als ich den Arm verschlungen hatte, kam der andere an die Reihe.
Goldjunge schien nichts zu bemerken, ich nehme an, er schrieb den Zustand des Toten den zahlreichen fetten Ratten zu, die sich hier tummelten. Wenn er gewußt hätte! Die Ratten gingen leer aus, ich ließ ihnen nichts!
Wieder weiß ich über Zeiträume nichts auszusagen. Ich weiß nur, die Leiche faulte viel zu schnell für meinen Appetit, und so wurde meine Kraftnahrung von Tag zu Tag widerwärtiger und unerträglicher. Doch ich wollte leben. Leben um jeden Preis! Ich war kein Mensch mehr, ich war ein Tier. Eine Ratte in der Falle, die um das Überleben kämpfte.
Und tatsächlich spürte ich, wie ich von Tag zu Tag stärker wurde, bis ich nicht nur wieder in der Lage war, aufzustehen, sondern auch lernte, Ratten zu fangen und sie mit den Zähnen zu zerreißen. Im Gegensatz zum fauligen Menschenfleisch war dieses frisch und saftig.
Ich dezimierte den Bestand an Nagern innerhalb kürzester Zeit.
Dies mag alles eklig und grauenvoll scheinen, doch das Schlimmste von allem hatte ich noch vor mir, und ich zögerte trotz meines vorgefaßten Planes lange, bevor ich diesen letzten Schritt zu gehen wagte.
Was tut eine Ratte, deren Fuß in der Falle eingeklemmt ist?
Der erste Biß war der Schlimmste von allen. Ich nahm den Daumenballen in den Mund und preßte die Zähne aufeinander. Natürlich tat es ungeheuer weh, und all mein Wille konnte mir kaum helfen. Ich wußte, daß es weniger grausam gewesen wäre, es möglichst schnell hinter mich zu bringen, doch ich konnte nicht. Es dauerte mehrere Tage, bis ich meinen linken Daumen am Grundgelenk endlich durchgebissen hatte und mit der Hand aus der Eisenschelle schlüpfen konnte.
Das plötzliche Gefühl der Freiheit verursachte in mir eine Euphorie ohnegleichen. Worte können dem, was ich fühlte, nicht gerecht werden. Ein Rausch der Allmacht erfaßte mich und ermöglichte es mir, binnen eines einzigen Tages auch den anderen Daumen loszuwerden.
Seltsame Gedanken gingen mir dabei durch den Kopf. Daß ich zum Beispiel nie wieder Klavier spielen können würde. Daß ich nun ein Krüppel war, der keine Arbeit und keine Freundin mehr finden würde. Am meisten jedoch machte mir Sorgen, so meiner Mutter gegenübertreten zu müssen. Es würde ihr das Herz brechen, was aus mir geworden war.
Ich verdrängte diese destruktiven Gedanken in die hinterste Ecke meines Bewußtseins und konzentrierte mich darauf, daß der Goldjunge wieder meine Zelle betrat. Gerne hätte ich ihm einen Knochensplitter in sein überraschtes Auge gerammt, doch wie ich feststellte, kann man ohne Daumen kaum ein Werkzeug halten.
Doch ein Tier braucht keine Hände.
Goldjunge kam herein, er merkte nichts. In dem Augenblick, in dem er sich immer etwas bückte, um die karge Mahlzeit auf den Boden abzustellen, war er am verwundbarsten, und das war der Augenblick, in dem ich ihn ansprang.
Er war überrascht, fürwahr, das war er. Und erschrocken. Eine späte Genugtuung für mich.
Ich sparte mir die Mühe, ihn KO schlagen zu wollen, mit meinen verletzen Händen wäre mir das ohnehin nicht gelungen, ihm wehzutun, und er war auch wesentlich stärker als ich, der ich seit Wochen oder gar Monaten in seinem Kerker vor mich hinrottete.
Ich umarmte ihn wie eine alte Liebe, und dann versenkte ich meine Zähne in seinem Gesicht.
Er schrie wie eine Ratte, nur länger. Er wehrte sich auch tapfer, boxte mir in die Rippen und zappelte wie ein Besessener. Doch ich hatte einen Vorteil. Einen einzigen nur, aber der war entscheidend: ich hatte alle Hemmungen von Zivilisation, Ekel und Gewissen hinter mir gelassen. Er war nur ein Stück quiekendes Fleisch, und als ich ihm mit meinen Zähnen die Kehle herausriß, ein stummes Stück Fleisch.
Irgendwann hatte ich mich zu seiner Halsschlagader vorgearbeitet, und endlich brach sein Widerstand.
Ich erhob mich, triumphierend. Ich hatte mein Ziel erreicht, mein Peiniger war einen grauenvollen Tod gestorben, und ich war frei. Wie ein Betrunkener stolperte ich in Richtung des gleißend hellen Rechtecks der Türöffnung. Dahinter war eine Treppe, und nach fünfzehn Stufen kam ich in eine kleine, schäbige Küche. Die Sonne flutete den Raum mit ihren Strahlen, und ich sah Millionen kleiner Staubkörner im Lichtkegel schweben - eine Galaxie für sich.
Ich war frei.
Doch ich hatte noch Hunger.
Deswegen kehrte ich noch einmal zurück in den Keller, um ihn zu stillen.