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Das Tor
Sie starrte das Gittertor an und bewegte sich keinen Zentimeter vorwärts. Der Käfig, der LKW, die Männer. Alles an ihr rebellierte, jede Zelle ihres Körpers in höchster Alarmbereitschaft.
Es hatte so gut angefangen. Ihre erste Begegnung verlief ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Sie hatten sich gegenseitig beschnuppert und für annehmbar bis sympathisch befunden, und nach einigen vorsichtigen Annäherungen für die kommende Woche verabredet.
Weil die Sonne schien, schlug er einen Spaziergang vor. Der Typ schien in Ordnung zu sein, rauszugehen, in die Natur, das gefiel ihr. Das war auch ihre Art.
Unterwegs musste sie sich bemühen, auf gleicher Höhe mit ihm zu gehen und nicht vorauszueilen, wie es sonst ihre Angewohnheit war. Sie wollte einen guten Eindruck machen, merkte aber schnell, wie schwer ihr diese Anpassung fiel. Sie kannte dieses Spazierengehen nicht. Langsames Gehen war nicht ihr Ding. Normaler Weise rannte sie eher. Jagte förmlich durch die Straßen und über die Felder. Ließ sich von ihrer Neugier treiben, die Sinne offen für die Welt, ihre Geräusche und Gerüche, für neue Reize und unerwartete Begegnungen.
Außerdem verstand sie kaum ein Wort seines aufgeregten Geplappers. Sie kamen ja aus vollkommen unterschiedlichen Welten und sprachen vollkommen unterschiedliche Sprachen. Er zeigte hierhin und deutete dorthin, hob die Stimme, wurde in seiner Aufregung manchmal ein wenig zu laut, erklärte alles Mögliche, und das Wenige, was sie verstand, interessierte sie nicht wirklich. Aber gut, sie wollte sich von ihrer besten Seite zeigen und benahm sich entsprechend gefällig.
Am Ende brachte er sie nach Hause, zu ihrer neuen Gastfamilie, zu der die Frau sie erst vor wenigen Tagen vermittelt hatte. Sie beobachtete vom Fenster aus, wie er das Grundstück über den Hof verließ und auf der anderen Straßenseite die Haustür aufschloss. Er wohnte also direkt nebenan.
Wie praktisch. Wie eigenartig.
Im Hause der Gastfamilie war noch vieles fremd und unbekannt für sie. Es sah anders aus, es roch anders als sie es kannte und es galten andere Sitten und Gebräuche. Es gab Regeln. Obwohl sie spürte, dass ihre neuen Pflegeeltern es ernst meinten und ihr viel Zuneigung entgegenbrachten, war sie noch immer aufgewühlt und fühlte sich in der fremden Umgebung vollkommen überfordert. Wieder ein neuer Ort, der ein Zuhause werden sollte, wieder Vertrauen, das missbraucht werden und wieder neue Hoffnung, die enttäuscht werden konnte. Sie hatte das in den letzten Jahren schon zu oft erlebt.
Aber die Tage verliefen überraschend angenehm und mit jedem neuen Morgen gewöhnte sie sich etwas mehr an ihre neue Lebenssituation, und ihre Vorsicht und Skepsis nahmen ein wenig ab.
Eine Woche später traf sie sich wieder mit ihm. Auch diesmal wollte er Spazierengehen. Sie trabten los, immerhin schon etwas zügiger als beim ersten Mal und auch auf wesentlich interessanteren Wegen. An einem kleinen Bach entlang, vorbei an Tiergehegen, eine Anhöhe hinauf, über grüne Wiesen auf einen Wald zu. Die Strecke gefiel ihr und sein Geplapper hielt sich in Grenzen. Auch gelang die Abstimmung zwischen ihren Bewegungen immer besser. Wenn sie wieder ungeduldig und schnell war, beschleunigte er seine Schritte und holte zu ihr auf, und wenn er unerwartet eine andere Richtung einschlug, gab sie still nach und folgte ihm. Das war eine gute Entwicklung, ausbaufähig, so konnte es weitergehen.
Bis sie das Gittertor bemerkte.
Jäh schoss die Erinnerung ein: an die Männer, die sie gefangen gehalten hatten, die sie schlugen, die sie hungern ließen. An den eisernen Käfig, in dem sie sich kaum bewegen konnte, das quietschende Geräusch seiner schweren Türe, wenn sie geöffnet und wieder geschlossen wurde.
An den LKW, an die endlos lange Fahrt, weg von ihrer vertrauten Umgebung, weg von allem, was sie kannte.
Davor hatte sie auf der Straße gelebt.
Das war gefährlich, das wusste sie. Die tägliche Suche nach Essen, in den Hinterhöfen, in den umgeworfenen Mülltonnen, in den Kisten hinter dem Supermarkt. Zu viele Konkurrenten, zu viele Neider. Kinder, die Steine warfen, Männer, die mit Stöcken nach ihr schlugen. Nachts der Kampf um die wenigen Schlafplätze, die Schutz boten. Das Recht des Stärkeren, das Gesetz der Straße.
Aber sie war auch frei und unabhängig gewesen.
Niemand, der sie in irgendeine Richtung treiben wollte, ihr Regeln und gutes Benehmen einzutrichtern versuchte, niemand, der sie dominieren wollte.
Die Männer und der Käfig hatten dem ein Ende gemacht.
Wochen der Gefangenschaft, der Fußtritte und des Hungers. Endlose Tage der Qual und der Hoffnungslosigkeit. Neben ihr in anderen Käfigen, die anderen Gefangenen. Aber anders als diese, die sich zu wehren versuchten und wütend gegen die Gitterstäbe warfen, die heulten und brüllten, die die Männer aggressiv beschimpften und dafür eins übergebraten bekamen bis ihr Wille dann doch gebrochen war – anders als diese, verhielt sie sich ruhig, versuchte sich die Angst nicht anmerken zu lassen und sich ihren Stolz zu bewahren. Still. Innen. Unsichtbar.
Als sie sich schon fast in ihr auswegloses Schicksal ergeben hatte, kam plötzlich diese fremde Frau, öffnete die Gittertür und nahm sie mit. Ein letztes Mal hörte sie die Türe hinter sich ins Schloss fallen. Sie sah sich nicht um, ging einfach mit. In ein Haus zu einer Gastfamilie in der gleichen Stadt, nicht gut, aber besser als der Käfig. Immerhin wurde sie nicht mehr geschlagen und bekam täglich etwas zu essen. Aber auch hier behandelte man sie respektlos und kommandierte sie herum.
Nach einiger Zeit kam die fremde Frau wieder, holte sie dort weg und brachte sie über das große Meer in ein anderes Land zu einer anderen Gastfamilie.
Und jetzt stand sie hier vor diesem Gittertor. Sie spürte die Gefahr, konnte Erinnerung nicht von Gegenwart unterscheiden und war kurz davor, durchzudrehen. Aber da war nur ein Tor, kein Käfig dahinter. Nur der Durchgang in einem Zaun. Oder ließ sie sich täuschen? Konnte der Typ für ihre Sicherheit garantieren oder lockte er sie in eine Falle? Sie war total durcheinander und misstrauisch.
Der Typ schien von alledem nichts mitzubekommen. Er griff nach dem Tor, das sich quietschend öffnete und wollte ihr den Vortritt lassen. Sie sträubte sich, er ging lächelnd voraus, sie nahm allen Mut zusammen, hing hindurch und hörte das Tor ins Schloss fallen. Der Typ quasselte einfach weiter als wäre nichts gewesen, zeigte wie immer auf irgendwelche Dinge, merkte nichts, verstand nicht, lenkte sie einfach weiter auf dem Weg in einen Wald hinein.
Aber es gelang ihr nicht, das Gefühl von Bedrohung abzuschütteln. Obwohl sie keine konkrete Gefahr erkennen konnte, ließen sie die Bilder in ihrem Kopf nicht in Ruhe, kamen immer wieder auf´s Neue zurück, drängten sich auf und jagten Fluchtimpulse durch ihren Körper. Sie wurde unruhig, hielt es kaum mehr aus, ein Gefühl, als wollte sie tatsächlich aus ihrer Haut fahren.
Der Typ begriff noch immer nicht. Obwohl sie ihm auf alle möglichen Arten zu zeigen versuchte, dass es ihr nicht besonders gut ging. Dass sie Angst hatte. Es ging tiefer in den Wald hinein, sie waren allein, weit und breit niemand zu sehen. Hier war sie auch mit ihren neuen Pflegeeltern noch nie gewesen. Unruhe. Panik. Fluchtimpuls.
Inzwischen wirkte auch der Typ verändert. Endlich hatte er begriffen, dass irgendetwas nicht stimmte. Seine Stimme klang dunkler, er sprach eindringlicher mit ihr, schien sie beruhigen zu wollen. Das verwirrte sie noch mehr. Zwar merkte sie, dass ihr sein Zuspruch guttat, aber gleichzeitig war sie in dieser Verfassung nicht in der Lage, ihm wirklich zu vertrauen. Im Gegenteil! Sie kannte den Typ ja kaum.
Irgendwie schafften sie es schließlich aus dem Wald heraus und erreichten endlich eine Straße, die sie kannte. Von der sie wusste, dass sie zu ihrem neuen Zuhause führte, dass sie nicht mehr weit davon entfernt waren. Die Bilder surrten noch immer durch ihren Kopf, aber die Aussicht, bei ihren Pflegeeltern wieder etwas mehr Sicherheit und Ruhe zu finden, gaben ihr wieder Hoffnung.
Aber als der Typ sie stattdessen in sein Haus führen wollte, flippte sie endgültig aus.