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Das verlorene Ich
Blib, Blib, Blib. Monoton tickte das Geräusch vor sich hin. Die Dunkelheit umwaberte sie großflächig und verfärbte sich langsam zu einem nebligen Grau.
Blib, Blib. Blib. Durchdringend und enervierend hallte dieses Geräusch durch ihr Gehirn, daß sich wie in Watte gehüllt anfühlte. Dick und klebrig pappte ihre Zunge am Gaumen so daß sie abrupt den Mund aufriß um besser atmen zu können.
Blib! Blib! Blib! Blib! Blib! Eine schnelle und ratternde Kaskade diesen Geräusches erfolgte auf diese Aktion.
Leise entwich ein Stöhnen aus ihrem Mund, der durch eine glasklare Silikonmaske abgedeckt war. Feuchtrote Schlieren zogen sich zu einem unregelmäßigen Muster an den Innenwänden der Maske entlang.
Blib, blib, blib. Einlullend und zugleich beängstigend. Die Finger ihrer rechten Hand bewegten sich zuckend unter der dicken Bandage. Der Mittelfinger, der mit einem Gerät zur PH-Blutwertmessung bestückt war, zuckte unkontrolliert auf und ab.
Ein lauter, langgezogener Schrei schüttelte diesen mit Schorf übersäten, auf die Knochen abgemagerten Körper.
Das Herz-Frequenz-Messgerät ratterte wie ein Geigerzägler und beruhigte sich wieder.
Blib, Blib, Blib.
„Tschüß Mom, ich geh´dann jetzt“, sagte die 15 jährige Annegret voll Vorfreude zu ihrer Mutter. In dem kleinen Städtchen wurde heute eine neue Disco eröffnet, was bei dem sonst spießbürgerlichen Leben auf dem Lande zu einem Ereignis wurde, die der ersten Mondlandung gleichkam.
Endlos lange Diskussionen hatte sie mit ihrer Mutter geführt und mit Engelszungen auf sie eingeredet, bis sie endlich die Erlaubnis bekam, bei der Einweihungsfeier dabei sein zu können. Schließlich geschah so etwas nicht alle Tage!
Die Wohnungstür klappte mit einem satten Geräusch ins Schloß und Annegret rannte beinahe um die Distanz zwischen sich und den Argusaugen ihrer Mutter zu erreichen,
die einen Rückruf unmöglich machten. Schnell flankte sie über den Zaun von Bauer Seibelt und duckte sich tief ins Gebüsch. Prompt ging die Tür zum Elternhaus auf und eine durchdringende Stimme rief:“ A-N-N-E-G-R-E-E-E-T“!!!!
Annegret schüttelte den Kopf, lächelte verschmitzt und streckte ihrer Mutter die Zunge heraus. Ihre Nase, die mit einer lustigen kleinen Wolke voller Sommersprossen dekoriert war, kräuselte sich. Ihre raubtierhaft grünen Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen und ihre Stirn zog sich leicht verärgert in Falten. Wie leicht ihre Mutter doch zu durchschauen war! Himmel noch mal! Sie war doch kein kleines Baby mehr! Sie konnte diese besorgt jammernden Einwände bezüglich ihrer Kleidung wieder hören. „Okay Annegret, du kannst hingehen, aber zieh´dich bitte nicht so provozierend an. Bauchfrei kommt überhaupt nicht in Frage, schließlich haben wir es schon Ende November!“
Laber, laber, laber! Wenn sie wüßte!
„Annegret?“ ihre Mutter trat ein paar Schritte vor die Tür und sah sich suchend um. Dann zuckte sie mit den Schultern, ging zurück ins Haus und die Tür schlug zum zweiten Mal zu.
Aus einem unerfindlichen Grund lief Annegret ein eiskalter Schauer über den Rücken, den sie aber ihrem bauchfreien Top zuschrieb, daß sich unter der dicken Jeansjacke verbarg.
Hastig sprang sie auf und flankte wieder über den Zaun. Mit weit ausholenden Schritten rannte sie die Hauptstraße hinunter, hin zu der einstmals baufälligen alten Scheune, die sich jetzt wie ein häßliches Entlein zu einem stolzen Schwan gemausert hatte.
Dumpf dröhnten die Bässe durch die restaurierten Fachwerkmauern. Bunte Lichtergirlanden bekränzten den Eingang zur Diskothek. Sie zog die Tür auf und ein Schwall heißer, rauchgeschwängerter Luft kam ihr entgegen.
Linker Hand stand ein Tisch mit einer Flasche Bier und einer Geldkassette darauf. Ein Stempelkissen samt Stempel sowie ein Aschenbecher, aus dem eine Zigarette vor sich hin glomm vollendeten die Tischdekoration. Der verlangte Eintritts-Obulus von 10 Euro ließ Annegret zusammenzucken. Allerdings wurde sie von der samtweichen Stimme des Türstehers beruhigt:“ Die ersten zwei Getränke sind für schöne Mädchen, wie du eines bist frei“! Er drückte ihr den Stempelnachweis in Form eines lustigen Smilies auf den rechten Handrücken, hob dann die Hand zum Mund und küßte den Smilie. „Das bringt dir Glück“!sagte er. Etwas irritiert aber sehr geschmeichelt zog sie ihre dicke Jeansjacke aus und hängte sie an die Garderobe die sich rechts hinter dem Tisch befand. Viel Betrieb schien noch nicht zu herrschen, da sich dort nur 6 weitere Jacken aufgehängt aneinander reihten.
Bunte Plastikstränge einer Bella Porta verwehrten den Blick zum Diskothekenraum. Wie eine Schwimmerin legte Annegret ihre beiden Hände vor dem Bauch zusammen, teilte die Bella Porta andächtig und tauchte in eine stroposkopische Glitzerwelt ein.
Kleine Inseln aus bunten Blumenrabatten verteilten sich über ein mitternachtsblaues Tanzparkett mit goldenen Einsprengseln, die an sich widerspiegelnde Sterne in einem glatten See erinnerten. Bouganvilleen wetteiferten mit Phönixpalmen um die Wette, um den Blick des Betrachters zu fesseln. Feiner, weißer Quarzsand erglitzerte in den Farben der Lichtorgel zu Füßen der Pflanzenstämme. Kindskopfgroße weiße Kieselsteine mit Katzengold durchsetzt waren kreisförmig um die Inselpflanzungen angeordnet. Vereinzelte Stränge aus Koppra, wie vom Wind dort hin geweht, lagen dekorativ verteilt auf den Ministränden. Halbkreisförmig wie ein kleines Auditorium angelegt, führten drei Treppenstufen hinunter zur Tanzfläche. Links und rechts verteilten sich auf dem Podest in lockerer Anordnung Tische und Stühle, die durch rechteckige Blumenkübel mit Pflanzengitter in lauschige Separées verwandelt wurden.
Die verspiegelten Wände ließen den Raum bis ins Unendliche anwachsen. Gegenüber befand sich eine riesig anmutende Bar, deren Sortiment wohl geordnet aber unüberschaubar war. Zwei Pärchen zuckten durch das stroposkopische Licht in aberwitziger Verrenkung auf der Tanzfläche herum. Die Musik wummerte tief dröhnend durch den ihren Körper und ließ ihre Zähne klappern.
Vorsichtig setzte Annegret ihren rechten Fuß auf die erste Treppenstufe, als ihr überraschend von hinten und ziemlich derb auf beide Schultern geklopft wurde. Sie stieß unwillkürlich einen Schrei aus und fuhr herum. Durch diese ruckartige Bewegung geriet sie aus dem Gleichgewicht und stürzte der Länge nach auf die Tanzfläche. Über ihr stehend bogen sich Jasmin und Jochen schadenfroh vor Lachen, während der Barkeeper besorgt angehastet kam und ihr wieder auf die Beine half. Durch die laute Musik von der verbalen Kommunikation abgeschnitten, zeigte der Barkeeper den beiden in eindeutiger Geste einen Vogel, legte den Arm um die Schultern von Annegret und führte sie langsam zur Bar.
Dann brüllte er ihr die Frage ins Ohr, was sie denn gern zu trinken hätte, dieses Getränk ginge auf Kosten des Hauses, nach dem erlittenen Schreck.
Dermaßen verführt verlangte sie weltmännisch eine Whisky-Cola und kam sich dabei sehr erwachsen vor. Sie drehte sich noch einmal um, um die beiden mit einem bitterbösen Blick zu bedenken und entdeckte Jürgen hinter ihnen. Er kam mit langen Schritten auf sie zu und küßte sie leicht links und rechts auf die Wangen. Ein Glas Whisky-Cola wurde ihr gereicht und sie nippte versuchsweise daran. „Schmeckt gar nicht so schlecht“, dachte sie. Dann zog Jürgen sie auf die Tanzfläche um einige Runden mit ihr abzutanzen. Nach und nach füllte sich die Diskothek und es wurde eng um sie herum. Erhitzt und durstig traf sie einige Zeit später bei ihrem Barplatz ein und stürzte das Getränk in einem Zug hinunter.
Prompt traten ihr die Augen aus den Höhlen, liefen rot an und flossen über. Ein erbärmlicher Hustenanfall schüttelte sie und sie schnappte nach Luft. Im Eifer des Gefechtes hatte sie total den Alkohol in der Cola vergessen! Sie kletterte auf einen leeren Barhocker um sich ein wenig auszuruhen. Mittlerweile war die Diskothek gerammelt voll. Ein Meer aus Menschenköpfen wogte auf der Tanzfläche auf und nieder. Sie atmete tief durch und wunderte sich etwas über das Schwindelgefühl, daß sie erfaßte. Die Lichtorgel hatte sich plötzlich in einen verschwommenen Glorienschein gehüllt. Die Musik ertönte, als würde sie sich mühsam einen Weg durch dicke Filter suchen müssen. Schwarze Kreise und Flecken engten plötzlich ihr Sichtfeld ein und dann kam die Dunkelheit.
Blib, blib, blib. Die Tür zum Krankenzimmer öffnete sich und ein Ärztekollegium aus acht Personen betrat den Raum. Die Krankenschwester hob vorsichtig die Decke von dem ausgemergelten Körper ab. Unwillkürlich sogen alle Anwesenden scharf die Luft ein und hielten kurzfristig den Atem an. Das Gebilde, was da vor ihnen lag, erinnerte nur noch vage an einen menschlichen Körper. Überall war er mit schwarzblauen eitrigen Schwären übersät. Brandnarben, vermutlich durch Zigaretten hervor gerufen, bildeten verkrustete kleine Inseln. Dicke Striemen zogen sich kreuz und quer über die Haut. Mehrere Rippenbrüche wurden durch einen Brustverband verdeckt. Über den Bauch waren mehrere großflächige Wundpflaster verteilt, unter denen sich tief klaffende Messerstiche verbargen, die jetzt mit Wundklammern zusammen gehalten wurden. Die Schamlippen ihrer Vagina waren zur Unkenntlichkeit zerfetzt und der Mund zu einer einzigen breiigen Masse geschlagen worden.
„Weiß man inzwischen den Namen und das genaue Alter der Patientin“? fragte der leitende Chefarzt. „Nein, aber die Sitte setzt alle Hebel in Bewegung, um ihre Identität heraus zu finden. Durch diese gravierenden Verletzungen und dem enormen Untergewicht ist die Bestimmung eines Alters sehr schwierig. Ich würde mal vorsichtig auf 27 Jahre schätzen“ antwortete der Stationsarzt. „Glücklicher Weise ist sie seit einer Stunde stabil, was bei dem Ausmaß dieser
Verletzungen an ein Wunder grenzt! Dieses Stuff-Opfer hat man an den Handgelenken aufgehängt in einem illegalen Kellerbordell gefunden“! Die zugeschwollenen Augen öffneten sich einmal mühevoll und zeigten ein totes Augenpaar in einem raubtierhaften Grün. Eine kleine Wolke aus schmutzig braunen Sommersprossen umwehte die zerschlagene Nase.
(Elisabeth Rosing)