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Das Vermächtnis meiner Mutter
Ich weiß noch, dass es sehr heiß war, in dem Sommer, in dem meine Mutter starb.
Es war schon September, aber der Himmel war jeden Tag von einem strahlenden saphirblau, und die regungslose Luft flirrte über den gelben, vertrockneten Rasenflächen und den dürren Sträuchern.
Im Zimmer meiner Mutter war es dagegen kühl und dunkel. Ich hartte stundelang in dem nach alten Büchern riechenden Raum an ihrem Bett, und die Sonnenstrahlen beobachtete, die durch die brüchigen Rolladen brachen, und in denen die vielen Staubkörnchen herumtanzten, als würden sie die Veränderung, die bald eintreffen sollte spüren.
Warum ich Tag für Tag bei ihr blieb, ist mir unklar, denn geliebt habe ich meine Mutter nie. Zu lange hatte sie mich daran gehindert ein eigenes Leben zu führen, mich an sie gebunden. Sie hatte sich im vergangenen Winter eine Lungenentzündung geholt, und der Arzt meinte, dass sie sich wohl nie wieder richtig davon erholen würde. Vielleicht saß ich da, weil ich tief in meinem Inneren doch so etwas wie Liebe für sie empfand, vielleicht, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde wenn sie gestorben war, vielleicht aber auch einfach nur so. Ich würde mich von ihr befreien.
Am Tag ihrer Beerdigung war es kühl und stürmisch, so als wäre der Sommer mit meiner Mutter gestorben. Nachdem die wenigen Trauergäste gegangen waren, stand ich noch bis zum Einbruch der Dämmerung regungslos an ihrem Grab und starrte auf die frische, dunkle Erde. Schließlich lief ich durch die vertrauten Gassen unserer kleinen Vorstadt nach Hause, ständig schossen mir wirre Gedanken durch den Kopf. Ich dachte, man müsse sich als Waisenkind anders fühlen als vorher, verlorener oder verlassener vielleicht, und fast schämte ich mich, dass es nicht so war. Ich lief an den hell erleuchteten Häusern vorbei, am Kino mit den alten roten Sesseln, an der Eisdiele und am Cafe. Als ich die vielen Menschen sah, die in Gruppen oder paarweise plauderten oder unbekümmert lachten, fühlte ich mich auf einmal sehr einsam. Plötzlicher Hass gegen meine Mutter loderte in mir auf, als ich daran dachte, was sie mir all die Jahre verwehrt hatte. Aber damit würde jetzt Schluss sein, nach dieser Nacht wäre ich frei. Ich dachte an Urlaub, Lachen, Tanzcafes und Filme mit James Dean.
Ich bemerkte, dass ich mich davor drückte nach Hause zu gehen, und beschleunigte meinen Schritt. Je eher ich es hinter michb ringen würde, desto besser. Als ich unseren Garten durch dass eiserne Tor betrat, stockte mir der Atem: Die Tür, die über die Terrasse ins Wohnzimmer führte, sah aus als wäre sie aufgebrochen worden. Ich blieb stehen und lauschte , doch außer dem Rascheln der Bäume und dem entfernten Bellen eines Hundes war nichts zu hören. Aber die Tür... War jemand hier gewesen? Wurde etwas gestohlen? Ich ging durch den Garten, stieß die Tür auf und ging entschlossen hinein.
Stille umfing mich. Ich blieb stehen bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann schlich ich mich langsam durchs Wohnzimmer. Ich zuckte erschrocken zusammen, als der Fußboden laut unter meinen Füßen knarrte. Plötzlich hörte ich Geräusche. Im Zimmer über mir war etwas. Ich hörte ein Rumpeln, und eine gedämpfte Stimme flüsterte. Wer könnte das sein? Einen Moment dachte ich daran, das Haus so schnell wie möglich zu verlassen und Hilfe zu holen, doch dann entschloss ich mich dagegen. Wenn jemand hier eingedrungen war, um den Besitz einer frisch Verstorbenen zu plündern, dann wäre er längst wieder weg wenn ich zurückkäme. Hier in der Gegend wäre das nicht das erste Mal.
Unser Grundstück lag ein paar hundert Meter außerhalb und ziemlich abgeschieden, außerdem hatte uns keiner unserer Nachbarn sonderlich gemocht.
Eigentlich auch nicht weiter verwunderlich, dachte ich während ich so langsam ich konnte die Treppe in den ersten Stock schlich, ich selbst konnte meine Mutter nicht ausstehen. Zwanzig Jahre meines Lebens war ich an sie gebunden, und wieder einmal verspürte ich den Drang dieses Haus und diesen Ort so schnell wie möglich hinter mir zu lassen. Im oberen Stockwerk angekommen, lauschte ich erneut, doch dieses mal war nichts mehr zu hören. Langsam ging ich ins Zimmer meiner Mutter, das über unserem Wohnzimmer lag. Von hier waren die Geräusche gekommen, ganz sicher. Die Tür war nur angelehnt, und mit angehaltenem Atem lehnte ich mich vor und spähte durch den schmalen Spalt ins Zimmer. Es war leer. Ich seufzte. Ich war mir so sicher gewesen, aber wahrscheinlich hatte ich es mir doch nur eingebildet. Schließlich betrat ich das Zimmer ganz, und wich sofort wieder entsetzt zurück, als etwas mein Bein berührte. Ich seufzte erleichtert, als ich feststellte dass es nur der alte Kater meiner Mutter war, der von ihrem Bett gesprungen und zwischen meinen Beinen hindurchgelaufen war. Jetzt blickte ich mich um. Wo sollte ich anfangen?
Ziellos begann ich, Schubladen und Schränke zu durchwühlen. Alles was mir wertvoll vorkam, oder von Bedeutung zu sein schien, Papiere, Schmuck, Bargeld, häufte ich auf dem Bett an. Nach einer Stunde hielt ich erschöpft inne. Schließlich packte ich alles in einen Rucksack und brachte es nach draußen in unser altes Auto. Meine Koffer, die ich schon am Morgen gepackt hatte, lagen auf dem Rücksitz.
Ein letztes Mal betrat ich das Haus, ging ein letztes Mal durch alle Räume. Nein, ich würde nichts vermissen. In der Küche griff ich nach den Streichhölzern, die auf ihrem angestammten Platz lagen.
Als ich aus der Einfahrt auf die Landstraße abgebogen war, stand das obere Stockwerk bereits lichterloh in Flammen.